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Kein schönes Land in dieser Zeit

Das Märchen von der gescheiterten Integration. Gerne in Deutschland leben und als Deutscher. Zu dem Anti-Sarrazin Buch des Mehmet Gürcan Daimagüler. Von Rupert Neudeck

Ja, haben Sie das schon erlebt, einen Deutschen mit urtürkischem Namen, der alles erlebt hat, was einen Menschen zeit seines Lebens traumatisiert sein lässt? Und der aber gar nicht daran denkt, sondern einfach jemand ist, mit dem man gern mal zusammen sein möchte? Den Türken würde er nicht mal verbergen können, wenn er es wollte: Denn sein Name ist in seinen drei Bestandteilen so türkisch, wie Sabine Leutheusser-usw. deutsch ist:

Mehmet Gürcan Daimagüler.

Mitten im Buch, auf dem Höhepunkt seines eigenen Lebenslaufes enthüllt er, was sein Nachname heisst: „Der immer Lächelnde“. Darauf der Autor: „Was soll ich sagen? Nomen ist nicht immer omen“. Denn er eröffnet diese Bedeutung auf dem Höhepunkt der Depression.

Vor fünfzig Jahren kamen seine Eltern nach Deutschland, ins Siegener Land und dann noch in ein kleines Dorf, nach Niederschelden. Das Buch wäre ja nicht so aufreizend und bewegend, wenn in der Familie und bei ihm selbst alles bilderbuchmäßig abgelaufen wäre. Es ging aber bei dem Autor in dessen Kindheit nichts nach dem Bilderbuch. Das Leben unter deutschen Klassenkameraden war in der Grundschule und der Aufbaurealschule manchmal die Hölle.

„Boah, der stinkt“, sagte der Klassenkamerad zu ihm, der neben ihm sitzen sollte.

Der Autor sagt fast hilflos: Er wusste nicht, ob er wirklich stank. Aber es habe sich eine seltsame Klassendynamik entwickelt. Er wurde von allen nur „Stinker“ gerufen. Keiner der Mitschüler hatte damals das Wort „Mobbing“ gehört, „aber sie waren Naturtalente darin“. Das war auf der Aufbaurealschule auf dem Giersberg in Siegen, wohin der kleine Mehmed mit dem Bus jeden Morgen 60 Minuten von Niederschelden fahren musste. Die Lehrer waren auch nicht besser.

Aber er beschreibt auch, dass die Lebenssituation für ihn nie ganz grau in grau war. Die Eltern hatten  vor, 1984/85 in die Türkei zurückzugehen, wollten aber den Kindern eine gute Schulausbildung mitgeben. Der älteste Sohn Murat machte eine kriminelle Karriere durch, unter der die Familie sehr leiden musste.

Im Alter von 14 /15 Jahren wurde Mehmet hochgradig depressiv. Er konnte sich niemandem anvertrauen. Er kam morgens aus dem Bett und fragte sich, „ob er aufstehen oder lieber in den Wald gehen sollte, um sich aufzuhängen?“

Das ganz Tolle an dem Buch: Es ist an keiner Stelle wehleidig und in allen Kapiteln kämpferisch ehrlich. Zwischendurch bricht es aus ihm aus, der ja dann wirklich Karriere macht, bis hin zur Assistenz bei Gerhart Rudolf Baum und Burkhard Hirsch im Bundestag, der gebildet ist, der Jura studiert, weil Medizin für ihn zu schwer ist,  weil er nicht zu den Naturwissenschaften neigt. Die Realität sei besser als die Stimmung.

„Weil wir den ganzen Tag über die Probleme der Einwanderung sprechen, übersehen wir die vielen Erfolge im Alltag“. Nicht nur sind der ehemalige Dortmunder Nuri Sahin  und der ehemalige Bremer Fußballspieler Mesut Özil jetzt beim besten Verein Europas unter Vertrag: Real Madrid. Die Quote derjenigen, die den Sprung in die Selbständigkeit wagen, sei unter den Deutsch-Türken größer als unter den Deutsch-Deutschen. Es gäbe 80.000 türkischstämmige Unternehmerinnen und Unternehmer hier und bis 2015 werden es 120.000 sein. Er singt das Lied auch der kleinen Ladenbesitzer, die morgens um 3 Uhr zum Großmarkt fahren und bis abends im Geschäft stehen. „Wenn jemand wie Sarrazin sich über diese Menschen despektierlich äußert, hat das etwas Tragisch-Komisches“. Es sei Sarrazin, der ein Leben lang als Beamter am warmen Herd der öffentlichen Hand gesessen habe und der weder beruflich etwas riskiert noch einen Job geschaffen habe.

Es gefällt mir der selbstbewusste Ton, die Art, wie dieser Daimagüler dem PM der Türkei entgegentritt, z.B. 2007 auf dem Weltwirtschaftsforum in Istanbul. Er sollte nach dem Wunsch des Präsidenten des Forums, Klaus Schwab, etwas zu den 600 Gästen zu der Entwicklung in der Türkei sagen aus deutsch-türkischer Sicht. Vor ihm sprach Tayyip Erdogan auf türkisch. „Weil mein Türkisch erbärmlich ist und die meisten Gäste kein Deutsch verstanden“, sprach Daimagüler englisch. Danach kam Erdogan auf ihn zu und sie sprachen – türkisch. Dem PM entging nicht die holprige türkische Aussprache und er sagte: „Mehmet, dein Englisch mag super sein, aber an deinem Türkisch musst du noch arbeiten“.

Nach einer Schrecksekunde dann Daimagüler: „Herr Ministerpräsident, ich finde, für einen Deutschen ist mein Türkisch ganz gut.“ Daraufhin musste der Premier laut lachen.

Damirgüler meint, Erdogan könne noch mehr steigen in der Weltachtung. „Sollte er es wirklich schaffen, die Türkei zu reformieren und auch den kurdischen und christlichen Bürgern des Landes jene demokratischen Rechte zu geben, die ihnen zustehen, dann wird er in die Geschichte eingehen!“

Das Buch erfrischt, weil dieser 1968 in Siegen geborene Deutsche einen guten Schuß an Freimut und Chuzpe hat. Weder über seine Loyalität zu Deutschland braucht sich jemand Sorgen zu machen wie zu der Loyalität der überwiegenden Mehrheit aller türkischstämmigen Deutschen. Wenn man aber unbedingt jemandem Illoyalität vorwerfen will, dann könnte man eine andere Gruppe meinen. Es gäbe viele reiche Leute, die alle Vorteile des deutschen Rechts- und Sozialstaates ausnutzen, und trotzdem ihr Geld auf irgendwelchen Schwarzkonten im Ausland bunkern. „Solche Illoyalität ist real und sie existiert in jeder Stadt und sie schadet uns allen“.

Der Sozialkundelehrer überreicht ihm in Siegen beim Abschluss der Leistungskurse ein Soziologiebuch mit einer Widmung. Das ist auch erstaunlich, wie stark dieser Autor in unserer Welt lebt, ohne viel Aufhebens zu machen. In dem Buch stehen Worte aus dem traurig-schönsten Buch der Welt, aus dem „Kleinen Prinzen“ von Antoine de Saint Exupery: Es ist die Szene, in der der Fuchs Abschied nimmt von dem Kleinen Prinzen. „Adieu“, sagte der Fuchs. „Hier ist mein Geheimnis. Es ist ganz einfach. Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“.

Der Autor teilt aus nach beiden Seiten. Wie es geschehen könne, dass seine von Herkunft her näheren Mitbürger mit türkischer Herkunft noch nicht einmal den Kölner Dom besucht haben? Und wie es sein könne, dass so viele Deutsche zwar ganz viele Vorurteile über Moscheen gesammelt hätten, aber noch in keiner gewesen sind?

Das Buch ist eine einzige Ermutigung, in unserem Europa im 21. Jahrhundert zufrieden und dankbar zu sein, dass uns das Elend des Krieges erspart geblieben sei. Er berichtet von einer Klassenfahrt nach Verdun. 170.000 französische und 150.000 deutsche Soldaten seien dort damals in zehn Monaten gefallen. Die Soldaten, die er da im „Beinhaus“ sah, waren kaum älter als er jetzt. Als 17jähriger Schuler wurde ihm bewusst, was für eine Gnade das ist, vom Elend des Krieges verschont geblieben zu sein. „Allen, die in Europa nur Bürokratie und Subvention sehen, empfehle ich einen Besuch der Soldatengräber in Verdun.“

Quelle

Rupert Neudeck 2011Grünhelme 2011

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