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Michail Chodorkowski: Briefe aus dem Gefängnis

Russland künftig unter dem freigelassenen Michail Chodorkowski? Zu einem trotz allem verheißungsvollen Buch über ein neues Russland. Von Rupert Neudeck

Er ist ein wichtiger Vertreter des neuen nachstalinistischen und postkommunistischen Russlands, als wir das für möglich gehalten haben. Chodorchowski ist kein Leichtgewicht. Er hat sich schon so lange (seit 2003) hinter Gefängnisgittern aufgehalten, dass man an zwei politische Gefangene zurückdenken muss. An den berühmten Gefangenen unserer Epoche, Nelson Mandela, der 27 Jahre seines Lebens hinter Gefängnisgittern verbringen musste und an den Kosovo-Albaner Adem Demaci.

In manchen Teilen des Buches hat man die Vorstellung, Michail Chodorkowski bereitet eine politische Führungsposition vor. Er verfügt über zwei einzigartige Fähigkeiten. Er ist bereit zu einer erstaunlichen Selbstkritik. Zugleich hat er aus dem Gefängnisaufenthalt eine Universität für sich selbst gemacht, allerdings im Eigen oder Fernstudium. Er unterzeichnet seine Artikel, wie den überschrieben mit „Linksruck II“ in „Kommersant“ vom 11. November 2005 mit seinem Namen und „Privatperson, Straflager JaG 14/10“. Ein anderer Artikel – der noch viel wesentlicher in die innerrussische Debatte eingreift – ist überschrieben:  “Eigentum und Freiheit“ und ist erschienen in Wedemosti vom 28. Dezember 2004.

Da unterschreibt der prominenteste Gefangene der Welt: „Verfasser: Ein Privatmann, Bürger der Russischen Föderation, Untersuchungsgefängnis Moskau“. Er beschreibt darin, wie Putins Regierung den Konzern Jukos zerschlagen hat. Sein Vermögen, das bei Forbes mit 15 Milliarden US-Dollar geschätzt war, hat sich praktisch in Nichts aufgelöst. Aber Chodorkowski habe vorausgesehen und den Minderheitenaktionären vorgeschlagen, den Konzern nicht anzutasten, „denn ich fühle mich für 150.000 Mitarbeiter verantwortlich, für Ihre 500.000 Familienangehörigen und für die 30 Mio Einwohner der Städte und Siedlungen, die von der zuverlässigen und kontinuierlichen Arbeit des Konzerns abhängen“.

Als er, Chodorkowski,  zu Jukos 1995 kam, war der Konzern noch längst nicht saniert. Die Darlehensschuld belief sich auf 3 Mrd US Dollar. In den Jahren bis 2003 konnte der Konzern die jährliche Fördermenge von 40 auf 80 Mio Tonnen steigern. Und damit wurde Jukos zu einem vorbildlichen Betrieb: Jukos zahlte den Arbeitern höhere Löhne als sonst in Russland. Anfang des Jahrzehnts war der Konzern nach Gasprom der zweitgrößte Steuerzahler und finanzierte fast 5 Prozent des russischen Staatshaushalts.

Man kann die viel zu friedlichen  Beteuerungen des Häftlings nicht mitvollziehen, die an eine mönchische Existenz denken lassen. Aber auch die Haftzeit von Nelson Mandela kommt nicht aus ohne eine Einsicht in die Begrenztheit der eigenen Existenz. Er sei dankbar für die Zeit im Gefängnis. Sie habe ihm Monate intensiver Besinnung geschenkt. Ihm sei schon zuvor bewusst gewesen, dass Eigentum, besonders großes Eigentum den Menschen nicht frei macht.

Immer wieder kommt er in den Interviews und den Briefwechseln, die im Gefängnis für Chodorkowski möglich sind, darauf: Er sei – der früher ein Vertreter der wohlhabenden Mittelschicht – ein gewöhnlicher Mensch geworden, für den es nicht auf das Haben, sondern auf das Sein ankommt.

Schonungslos beschreibt er, dass dieses Russland immer noch über keine funktionierenden demokratischen und Rechtsstaat Institutionen verfügt. Er hätte, als er von der Absicht Putins hörte, ihn ins Loch zu sperren, emigrieren können, aber er hat es nicht getan. In der Jugend und Studentenzeit wollte er Werksleiter werden am liebsten in einem Rüstungsbetrieb, weil er alles zur Stärkung der Verteidigungsbereitschaft Russlands tun wollte.

„Das habe ich natürlich hinter mir“. Der Patriotismus, Sie werden lachen, schreibt er Schriftstellerin Ljudmilla Ulitzkaja  – der sei geblieben. „Er sitzt tief in mir und hindert mich, Gemeinheiten über mein Land zu sagen, selbst wenn es mich sehr dazu drängt“. Die Vorstellung vom Kommunismus als „lichte Zukunft der Menschheit“ habe er hinter sich. Und der aufgedeckte Betrug habe in seinem Herzen Bitterkeit erzeugt. Neun Jahre ist er jetzt schon im Gefängnis.

Es ist die Bescheidenheit und die Klarheit, die jemand beweist, der so weit von sich selbst absehen kann, dass er nicht dauernd von sich spricht. Wie auch Nelson Mandela sich nicht dauernd über 27 verlorene Lebensjahre beklagt hat. Bescheiden sagt er dem deutschen Leser im Vorwort: Sie werden in dem Buch einen Menschen vorfinden, der sich selbst sehr verändert hat und der in einem Land lebt, das ebenfalls im Wandel begriffen ist. Er möchte der deutschen Öffentlichkeit danken für die Unterstützung, die man ihm und seinen Kollegen entgegenbringt. „Wir haben ein gemeinsames Ziel – ein europäisches, friedliches, demokratisches und modernes Rusland“.

Mit diesem Chodorkowski an einer führenden Stelle des neuen demokratischen und europäischen Russland wäre uns allen wohler ums Herz für die Zukunft der Menschheit und die Zukunft Europas. Und, man soll wissen, trotz der vermeintlich oder wirklich verlorenen Jahre im Gefängnis: Er ist immer noch jung, der 1963 in Moskau geborene Chodorkowski. Russland sollte sich klarmachen, was es vergeudet, wenn es ihn noch länger im Gefängnis duldet.

Quelle

Rupert Neudeck 2011Grünhelme 2011

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