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Mythos Überfremdung

Das hatten wir schon: Eine katholische oder jüdische Flut. Jetzt ist es die Flut der Muslime. Von Rupert Neudeck

Das ist ein wichtiges Buch. Es hat einige neue Argumente, mit denen wir uns auseinandersetzen sollten. Der dritte Teil des Buches ist der spannendste. Er zeigt, dass wir eine solche Verschwörungsideologie schon mal hatten, nicht nur in Deutschland und Europa, sondern auch in den USA. Wer in den Jahren 1949 und 1950 in den USA lebte, konnte nicht an dem Buch von Paul Blanshard vorbei, das den Titel trug: „American Freedom and Catholic Power“ (1949). Es erlebte international 26 Ausgaben und kann in seiner Wirkung auf die USA nicht überschätzt werden. Es kam damals eine „Flut“ katholischer Einwanderer in die USA und das erschien vielen in den USA als eine heftige Bedrohung für Demokratie, Gleichheit und säkulare Werte. Diese Menschen kamen aus Ländern, die autoritär regiert wurden, die in religiösen Fragen fundamentalistisch agierten und gegen Frauenrechte und Geburtenkontrolle waren.

„Katholiken waren Anhänger eines unveränderlichen und unabänderbaren, vom Klerus verordneten Dogmas. Diese Katholiken – man hört schon die Sirenen von heute nur dass es heute um Muslime geht, nicht mehr um Katholiken – können nicht in die Gesellschaft eingegliedert werden, sondern bauen Parallelgesellschaften auf. Die geburtenreichen katholischen Familien würden die nicht-katholischen Teile unserer Bevölkerung überfluten. Und diese Katholiken hätten einen katholischen Plan, sie wollen am Ende die USA zu einer katholischen Republik machen. Das alles kennen wir heute, wenn wir nur Katholiken durch Muslime ersetzen.

Das Buch von Blanshard war nicht etwas ganz Abwegiges. Albert Einstein und Bertrand Russel lobten das Buch. Auch die Juden waren so welche wie die Katholiken. Es gab antikatholische wie antijüdische Ängste. Blanshard wies auf die katholische Mehrheit in der kanadischen Provinz Quebec hin. In Kanada habe die katholische Kirche einen Staat im Staat errichtet. Das Schulwesen sei darauf abgerichtet, den Kindern beizubringen, dass sie in erster Linie Katholiken und erst in zweiter Kandier seien. Das ganze war damals eine klare Verschwörung, der man mit Politik und Stärke beikommen musste: „Frühere Einwandererwellen entstammen einer Kultur und Rasse, die der unseren glich. Aber diese Gruppe  ist anders“. Diese Leute kommen aus einer fremden Kultur und werden unsere Werte niemals teilen. In den Niederlanden gab es die Somali Ayaan Hirsi Ali, in den USA war es damals Elizabeth Cady, Gründerin der US-Frauenbewegung. Sie verkündete: „Einem Katholiken ist es nicht möglich, die Großartigkeit der amerikanischen Idee der individuellen Freiheitsrechte in sich aufzunehmen.“

Dieser Spuk war dann mit der Wahl von John F. Kennedy vorbei. John F. Kennedy war der erste Präsident der USA, der katholisch war. Und siehe da: Seine Wahl führte nicht zur Einführung religiöser Gesetze, die er dem Volk aufzuzwingen wünschte. Saunders: Die Hysterie um die katholische Flut verschwand nahezu über Nacht aus der englischsprachigen Welt. Protestanten, Juden und Katholiken konnten sich nach den 60er Jahren die Hände reichen und anschließend den Augenblick abwarten, das sich eine neue Welle bedrohlicher Außenseiter zusammenrotten würde.

Das Buch hat seinen größten Wert in diesem dritten Teil. Aber auch schon im ersten und zweiten Teil werden lieb gewordene Vorurteile gekillt. Im ersten Teil beschreibt der Autor, wie es bei den Extremisten, die gegen die muslimische Flut anrennen, eine großmütterliche Inspirationsquelle gibt. Eine Frau namens Gisele Littmann, die Erfinderin des Wortes Eurabien, die auch das Schmähwort von der Dhimmitude prägte. Dhimmi, das weiß der religiös Gebildete, ist der arabische Begriff für Minderheiten der abrahamitischen Buchreligionen, die in islamischen Staaten privilegiert und toleriert werden. Die Dhimmitude ist die Weiterentwicklung dieses Begriffes mit dem bedrohlichen Unterton als Ausdruck für unterworfene, nicht muslimische Einzelpersonen oder Völker, „die erniedrigende Unterordnung unter eine aufsteigende islamische Macht.“ 1995 hielt Littmann einen Vortrag vor der Stiftung für Balkanstudien, einer von Srjdja Trifkovic beherrschten Gruppe, dem Sprecher des Kriegsverbrechers Radovan Karadzic. Der bosnisch-serbische Kriegsverbrecher hatte kurz vorher das Massaker von Srebrenica organisiert und exekutiert. Der Autor beschreibt im zweiten Teil, wie die Fakten andauernd aus ideologischer Sucht und Fanatismus verfälscht werden. Z.B. heißt es, muslimische Einwanderer möchten gern in isolierten Parallelgesellschaften leben und für sich bleiben.

Wahr ist dagegen: Die Geburtenrate der Muslime sinkt in allen Ländern West- und Mitteleuropas. Nahezu alle Einwanderer in Frankreich sprechen eher Französisch als Arabisch. Eine Meinungsumfrage in Frankreich von 2005 ergab, dass 8 von 10 Muslimen es in Ordnung finden, wenn Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit miteinander ausgingen oder heirateten.

Jede Vorurteilsschablone nimmt der Autor auseinander. Und es bleibt ohne großen Aufwand wenig von diesen Schablonen übrig, z.B. von der Behauptung, eine große Zahl von Muslimen bejubelt terroristische Gewalt. Die Faktenlage sei eindeutig. Unter den in westlichen Ländern lebenden Muslimen sei die Unterstützung für Gewalt und Terrorismus nicht größer als in der Bevölkerung insgesamt. 63 Prozent der im Ausland geborenen Muslime hatten 2007 eine sehr negative Meinung von Al Qaida. 2010 war dieser Anteil auf 75 Prozent gestiegen. Die offene Bewunderung von al-Qaida war sehr gering.

Auch die Behauptung Muslime wollen die Scharia in westlichen Ländern einführen, weist der Autor auf Grund der Befunde und Statistiken als Märchen zurück. In einer Umfrage der wichtigen französischen Tageszeitung „Le Monde“ unter französischen Muslimen sprachen sich 75 Prozent gegen die Einführung der Scharia aus. Aus Umfragen zur Todesstrafe kam heraus, dass die Todesstrafe von 35 aller Franzosen und 27 Prozent aller Deutschen für akzeptabel gehalten wird. Dagegen sind es nur 24 aller französischen Muslime und nur 27 Prozent der deutschen Muslime, die die Todesstrafe für moralisch akzeptabel halten.

Das Haupt- und Magenargument wird einfach durch Fakten gerade gerückt. Das sog. Argument: Sie, die Muslime vermehren sich wie die Karnickel. Im Iran ist das die größte Schlappe der Muslime und Ayatollahs, die Geburtenrate ist von fast 7 Kindern pro Familie in den 80ern auf 1,7 Kinder im Jahre 2010 gesunken, fast eine westeuropäische Entwicklung. Weltweit, so betont der Autor – ist die durchschnittliche Geburtenrate in Ländern mit muslimischer Mehrheit von 4,3 Kindern pro Familie 1995 auf einen Wert von 2,9 im Jahr 2010 gesunken, und bis 2035 wird ein Rückgang auf 2,3 Kinder erwartet.

Ein Buch, das in seinem Schreibstil und seiner Gliederung keinen Wunsch offen lässt. Der Autor ist der bessere Sarrazin, der die Fakten und die neuesten Ergebnisse der Wissenschaft ganz ruhig sprechen lässt und dadurch überzeugt. Der Verlag meinte, mit einem Vorschlaghammer auf den Umschlag des Buches wie einen zweiten Untertitel hinzufügen zu müssen: „Unsere von Sarrazin geprägten Vorstellungen über muslimische Einwanderung sind falsch“. Das ist mir zuviel Ehre für Sarrazin. Der Autor hätte es verdient, dass Sarrazin nicht auf dem Buch eines so großartigen Wissenschaftlers erwähnt worden wäre.

Quelle

Rupert Neudeck 2012Grünhelme 2012

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