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Ökologische Erinnerungsorte

Man erinnert sich gelegentlich gern – oder auch weniger gern. Was aber sind relevante ökologische Erinnerungen? Ein neues Buch gibt dazu erste Antworten. Eine Rezension von Professor Udo E. Simonis

Das Konzept der Erinnerungsorte gibt‘s schon länger – und es besitzt offensichtlich eine eigene Magie. Seit 2001 erschienen Bücher über Deutsche Erinnerungsorte, Erinnerungsorte der Antike (die griechische, die römische Welt), Erinnerungsorte des Christentums, Europäische Erinnerungsorte. Es waren meist sehr umfangreiche Werke, zwei davon in drei Bänden; das in Arbeit befindliche Projekt über Deutsch-Polnische Erinnerungsorte ist gar auf acht Bände ausgelegt. Die natürliche Umwelt spielte in diesen Büchern keine Hauptrolle, bestenfalls eine Nebenrolle. Das sollte, das musste anders werden durch das Projekt „Umwelt und Erinnerung“ am Rachel Carson Center in München.

Mit Hilfe seiner Studenten und einer Reihe externer Kooperanden hat der Leiter des Projekts, Frank Uekötter, ein (erstes) faszinierendes Buch vorgelegt – und dies gut begründet: Auch bei Umweltthemen leben wir inzwischen in einer erinnerungsgesättigten Gesellschaft; nach Jahrzehnten ökologischer Debatte findet sich kaum noch ein Thema, das nicht einschlägig vorgeprägt ist. Wenn der Alpdruck der Geschichte stark wird, ist der Ausstieg aus der Geschichte keine realistische Option mehr. Und dennoch – oder gerade deswegen – muss gut definiert sein, um was es dabei geht oder gehen soll.

Was ökologische Erinnerungsorte sind und wie sie sich von anderen Erinnerungsorten unterscheiden, fasst der Herausgeber nach gruppeninterner Diskussion und als Leitfaden für das Gesamtprojekt so zusammen: „Ökologische Erinnerungsorte sind geographisch und zeitlich begrenzte Ereignisse, in denen die Interaktion von Mensch und Natur in ihrer ganzen Vielfalt eine wesentliche Rolle spielt“.

Diese Ereignisse zeichnen sich durch politische, administrative, kulturelle und lebenspraktische Folgen aus, die über die Zeit des Ereignisses weit hinausreichen und bis in die Gegenwart nachwirken können. Wobei diese Nachwirkungen sich nicht notwendigerweise in einem starken, aktuellen Bewusstsein für das Ereignis selbst dokumentieren müssen, sondern auch in Handlungs- und Denkweisen verborgen liegen können.

Auf diesem Grundverständnis erfolgt in diesem Buch die Auswahl und ausführliche Beschreibung von 11 Erinnerungsorten, die in drei Kategorien sortiert werden: in deutsche, grenzüberschreitende und globale Erinnerungsorte. Es geht den Autoren dabei darum, nicht nur das Potential des Konzepts ökologischer Erinnerungsorte auszuloten, sondern auch Lust auf Umweltgeschichte zu machen – um so einen Leserkreis jenseits der Fachkollegen Umweltgeschichte und Umweltpolitik zu erreichen. Man will das Spektrum der Möglichkeiten abschreiten und die Vielfalt der möglichen Themen und Perspektiven belegen und kommt so zu einer bunten – und wie man gleich hinzufügen muss – unerwarteten Palette interessanter Ereignisse.

Es beginnt mit der Geschichte des Knechtsandes (Autorin: Anna-Katharina Wöbse), einer Sandbank in der Wesermündung, die in den 1950er Jahren im Zentrum eines aufsehenerregenden Naturschutzkonflikts stand; dann unter Naturschutz gestellt wurde und nach Konflikten um ihre Nutzung im Nationalpark Wattenmeer aufging. Das zweite Beispiel ist das Wort GAU (Autor: Joachim Radkau), die Abkürzung für den größten anzunehmenden Unfall, der sich von seinen Ursprüngen in der Atomdebatte emanzipiert und sich in der Alltagssprache als Synonym für ein spektakuläres Missgeschick etabliert hat.

Verfolgt man die Spur des Begriffs, landet man bei den Paradoxien der Atomkontroverse: Der GAU verkörperte zunächst das Streben nach Regeln für den Umgang mit den Risiken der Atomkraft, dann aber das Umkippen der Zweifel innerhalb der Atomgemeinde in eine öffentliche Kontroverse, in der der GAU von einem technischen Begriff zu einer Chiffre für die Entgrenzung aller bekannten Gefahren wurde. Beim dritten Beispiel, dem Wintersort (Autor: Andrew Denning), geht es um ein andersartiges Schlüsselthema der Moderne: Die wintersportliche Betätigung brachte viele Menschen ins Gebirge, warf zugleich aber auch die Frage auf, wie viel menschlicher Einfluss mit diesem Naturerlebnis ökologisch verträglich ist.

Das Reichsnaturschutzgesetz von 1935 (Autor: Frank Uekötter) war ein großer Erfolg der deutschen Naturschutzbewegung, zugleich aber auch Angelpunkt der NS-Geschichte und deshalb Gegenstand einer bis heute anhaltenden Kontroverse. Bei Kneipp (Autorin: Sarah Waltenberger) geht es um eine Schlüsselfigur, bei der Lebensform, alternative und konventionelle Medizin, klerikale Bezüge und lokale und kommerzielle Interessen miteinander verflochten sind.

Diese Auswahl von fünf deutschen Erinnerungsorten zeigt nicht nur, wie umfassend der Begriff ist, sondern auch, wie vielfältig er ausgelegt werden kann. Die Auswahl führt auch konsequenter Weise zu der Frage, welche Beispiele der Leser des Buches stattdessen anführen möchte. Waren da nicht Wyhl und das Wendland, Rinderwahn und Gentechnik, die bis heute kräftig nachwirken oder andernorts neu auftauchen? Nun, das könnte Stoff sein für weitere Bände des Projekts, das ja noch läuft…

Doch schauen wir noch kurz auf die grenzüberschreitenden und globalen Erinnerungsorte, die für diesen Band ausgewählt wurden. Es beginnt mit der Betrachtung der Rolle eines Films: „Serengeti darf nicht sterben“, einem überzeitlichen Bekenntnis zum Schutz der afrikanischen Natur, der zugleich aber auch Projektionsfläche deutscher Phantasien war und ist. Beim deutsch-russischen Erdgasprojekt geht es nicht nur um wirtschaftliches Kalkül und potentielle Meeresverschmutzung, sondern auch um europäische Geschichte. Tschernobyl ist der wohl konfliktträchtigste Erinnerungsort, weil er die permanente Bedrohung aber auch die regional unterschiedlichen Einstellungen zur Atomenergie symbolisiert.

Auch bei den ausgewählten globalen Erinnerungsorten gelingt dem Herausgeber eine Überraschung. Das koloniale Erdnuss-Projekt im heutigen Tanzania gilt als Manifestation planerischer Hybris, die zum Inbegriff eines aus dem Ruder laufenden Großprojekts wurde – und die sich im Landgrabbing andernorts in Afrika wiederholen könnte. Der Assuan-Staudamm, das weitere Beispiel, steht in einer Ahnenreihe, die von der Tennessee Valley Authority bis zum Drei-Schluchten-Damm in China reicht.

Mit Tambora und Krakatau nimmt das Buch schließlich zwei Vulkanausbrüche in den Blick, die im wörtlichen wie im übertragenen Sinne globale Erschütterungen auslösten, aber nicht menschengemachte sondern natürliche Erinnerungsorte sind.

Auch am Ende dieser beiden Kapitel drängt sich die Frage auf, welche ökologischen Erinnerungsorte dieser Art der Leser selbst erinnert und behandelt sehen möchte. Der Rezensent darf dazu seine Präferenzen nicht äußern.

Er kann stattdessen aber an ein weiteres bedeutsames Buch erinnern, an Jared Diamonds „Kollaps“: ein Buch, das in 17 Kapiteln Beispiele gesellschaftlicher Zusammenbrüche beschreibt, die ganz wesentlich ökologisch bedingt waren – von den Maya, der Osterinsel, den Wikingern bis zu Gesellschaften von heute. Ansonsten aber müssen wir auf die weiteren Bände warten, die aus dem Projekt „Umwelt und Erinnerung“ noch entstehen werden.

Quelle

Udo E. Simonis 2014 ist Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Redakteur des Jahrbuch Ökologie

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