Stadt der Verlorenen: Leben im größten Flüchtlingslager der Welt
Kaleidoskop Dadaab – Die größte Flüchtlingsstadt der Welt. Von Rupert Neudeck
Das Buch räumt mit dem für die Politik allzu hilfreichen Mythos des Flüchtlingslagers auf. Der Mythos besagt, nicht nur zwischen Kenia und Somalia, auch in der Türkei, in Jordanien, im Libanon haben wir Flüchtlingslager eingerichtet, haben wir die Lösung für das Problem. Aber diese Lager sind überhaupt keine Lösung für das Problem. Sie sind nur eine vorübergehende Möglichkeit, Menschen mal sich satt essen und sie dann weiterziehen zu lassen.
Dieser Platz Dadaab, an dem wohl mal in der britischen Kolonialzeit nach Erdöl exploriert wurde, aber vergeblich, ist wahrscheinlich die größte Flüchtlingsstadt der Welt. Denn sie liegt auf dem Boden Kenias in Nähe der Somalia Grenze. Der Platz existiert seit 1992, als es mit dem Staat Somalia zu Ende ging nach der Herrschaft des Siad Barre. 2017 – also im nächsten Jahr – kann die Stadt Dabaab ihr 25jähriges ‚Jubiläum‘ feiern. Niemand hat bisher die Staatstragödie der Somali Nation erklären können.
Die Macht, die alles in den letzten Jahrzehnten noch schlimmer gemacht hat waren die USA. Sie machen in einer geradezu manischen Blindheit des Vorzugs von Militäroperationen alle Fehler der Welt. Der größte war: Die äthiopische Armee 2007 in Somalia einmarschieren zu lassen, der zweitgrößte Fehler war eine Hilfsoperation mit dem kriegsträchtigen Material einer Armee in Somalia zu starten – und dann zu scheitern. Und wieder nichts daraus zu lernen.
Immer wieder kommt es zu Anweisungen der kenianischen Regierung, die Somalis nach Jubaland (das ist Süd-Somalia) zu schicken, als in den an Kenia angrenzenden Teil von Somalia. Manchmal gibt es auch freiwillige aus eigenem Entschluss vollzogene Rückkehrbewegungen.
Man erfährt in dem Buch, wie rassistisch das Verhältnis der Kenianer zu den Somalis ist. Als der schreckliche Überfall auf den Supermarkt-Bau von Westgate am 21. 09.2013 geschieht, sind die Folgen nicht eine ordentliche kriminalistische Aufarbeitung des Überfalls, der in seinen Einzelheiten bis heute nicht klar ist, sondern eine Jagd auf Somalis. „Überall in Nairobi“, schreibt der Autor, „war die Polizei inzwischen dabei, Türen einzutreten und jeden zu verhaften der ihnen verdächtig vorkam, was bedeutete: alle ethnischen Somalis.“
Eine Kenianerin aus Garissa fasste die Stimmung im Lande gegenüber einem US-amerikanischen Journalisten zusammen: „Im Moment habe ich das Gefühl, man sollte sie allesamt zurückschicken. Sollen sie verschwinden oder sich gegenseitig in ihren Häusern abfackeln.“ Die Somalis galten in der Region immer als die Cleveren, die international in Ostafrika den Markt für den Grenzverkehr mit LKWs beherrschten. Aber diese Cleverness hat wahrscheinlich die Neigung, Somalis geringzuschätzen noch einmal verstärkt.
Die Kapitel sind Momentaufnahmen des größten Flüchtlingslagers aller Zeiten. Man bekommt keinen wirklichen Eindruck von der Struktur des Lagers, das ja eher eine Müll-Stadt ist, in der die wenigen Nationalitäten sich ihr Gelände gegeneinander abgrenzen. Vielleicht gibt es auch gar keine wirkliche Struktur der Lagerstadt, von über 400.000 bis 600.000 Menschen, hauptsächliche Somalis. Die Äthiopier, die Somalis, die Sudanesen; Kenia hatte ja über die Zeiten der Bürgerkriege in Uganda und in Äthiopien schon eine große Erfahrung und Tradition in der Aufnahme von Flüchtlingen. Aber das, was Dabaab ausmacht, ist wohl noch nie gesehen worden. Es gibt natürlich Unternehmen, Shops, Geschäfte in einer Welt, in der zehntausende auf einem ‚Haufen‘ sind.
Was deutlich wird: Der Autor kann nicht die besondere Qualität von Dabaab beschreiben, ohne auch das kenianische Hinterland und die Entwicklung der kenianischen Gesellschaft zu beschreiben. Ähnliches gilt für die wenigen zeitgeschichtlichen Facetten, die wir uns aus dem Nicht-Staat Somalia zusammenklauben können. Somalia ist keine Nation. Das war es ja, was deutsche Politiker damals in der Hochzeit unserer Beziehungen zu Somalia nach der gelungenen Geiselbefreiung in Mogadsicio ganz heftig und ohne Kenntnis meinten: Die Somalis sind prädestiniert für eine Staatsnation, sie haben die gleiche ethnische Herkunft, eine Sprache, eine Religion, sie haben politische Ziele ähnlich den unseren. Es gab damals deutsche Politiker, die im Gefolge der vielen Dankes-Lieferungen bis hin zu Waffen über die Erlaubnis, die GSG 9 die Befreiung der Geiseln von der Lufthansa Landshut 1977 auf dem Flughafen Mogadischu durchführen zu lassen, meinten, auch die Somalis seien auf dem guten Wege der „Wiedervereinigung“, wie wir Deutsche.
Die Flagge Somalias wies fünf Sterne auf, zwei markierten das Territorium, auf dem Somalia aufruhte, drei waren Irredentismen des Großsomalia: Einmal gehörte zu Somalia das Umland von Djibouti, wenn nicht auch Djibouti selbst. Dann der Ogaden mit den vielen somalischen Nomadenstämmen und schließlich die im Norden Kenia lebenden Somalis, die das Potential für eine irredentistische Unzufriedenheit aufrechterhielten, mit der der Staatschef Siad Barre regierte. So dachten wir, aber wir hatten uns schon in dem Nationalcharakter getäuscht. Dabei bestimmen die Stämme und der Clan, was sich im Lande abspielen soll. An einer Stelle heißt es: „Die Somali wollen ihn umbringen, so will es nun mal das Gesetz“. Und an den Gesetzen des Clans war nicht zu rütteln.
Nichts geht in der Region, aber besonders in Somalia, ohne Khat oder miraa, wie das im Lager s´Dadaab auch genannt wird.
Die folgenden Kapitel zeigen allerdings eine Überlebensgenialität bei den Flüchtlingen, von denen man gern etwas mitbekommen möchte. Es gibt wegen der Großzügigkeit des indischen Philanthropen Bunker Roy ein Solarlampenprogramm. Dieser indische Philanthrop und Unternehmer kam nach Dadaab um eine Botschaft an die Menschen zu geben. Da der Block von beiden Seiten von Hyänen belagert werde und durch seine Abgelegenheit von einer scheußlichen Vergewaltigungswelle betroffen sei, würde er gern überall Solarlampen aufstellen.
Nicht die kleinen tragbaren Lampen, die ein schwaches Tageslicht abstrahlen, sondern richtige, echte von Sonnenenergie betriebene Laternen, die die Wege säumen müssten. Am Tage zuvor hatte der Inder verlauten lassen, dass Indien auch Frauen brauchte, die sich dort als Solartechnikerinnen ausbilden lassen. Die Flüchtlinge haben theoretisch alle den Anspruch auf einen Konventionspass, einen UN-Reiseausweis, der es ihnen erlauben würde, z.B. für den Inder nach Indien zu kommen und dort eine Solarausbildung zu absolvieren. Viele der Frauen gingen von Dadaab nach Indien, um sich dort sechs Monate lang ausbilden zu lassen. Nach ihrer Rückkehr wurden dann die Sonnenkollektoren installiert.
Nach dem Überfall von al Shabaab auf das Einkaufszentrum in Westgate oder Westlands kam es zum Krieg gegen Somalia und zum Krieg in Dadaab. Erst einmal gab es nach der großen Überfallorgie auf das Superkaufhaus eine Kampagne gegen Somalis. Der kenianische Innenminister Ole Lenku hetzte im nationalen Kenia Fernsehen: Dadaab sei eine Brutstätte für Terroristen und die Terroristen waren natürlich in Dadaab trainiert worden, ehe sie per Helikopter nach Nairobi geflogen waren. Ein Polizist aus Dadaab soll sogar den Hubschrauber gesehen haben, „auch wenn es merkwürdig ist, dass er in einem vollgestopften Flüchtlingslager der Einzige gewesen sein soll“.
Kenia wollte die Flüchtlinge unbedingt in einem Schwung nach Somalia transferieren. Aber da es immer nur um Freiwillige ging, gingen pro Monat etwa 1000 nach Somalia zurück, das war weniger als die Zahl der monatlichen Geburten im Lager.
Bei der Impfkampagne der WHO, der Weltgesundheitsorganisation im Lage kam es wieder zu einem neuen überraschenden Ergebnis: Es waren nicht knapp über 400.000, sondern an die 600.000 Flüchtlinge, die im Lager Dadaab lebten.
Um noch Einblick zu bekommen, dass der Ausbildungsstand einer Gesellschaft für die Flüchtlingslager viel bedeutet: Für die Mehrheit der Somalis, so schreibt es der Autor am Schluss, war die Nahrung das Entscheidende, was sie im Lager hielt. „Nahrung war das Einzige, was sie hier hielt. Als diese ausblieb, entfiel auch der Grund zu bleiben“.
Man braucht nicht lange zu suchen, um die Spuren von Saudi Arabien auch in der Lagerstadt Dadaab zu finden. Die meisten Mitglieder spielten ja eine Spielart des Wahabismus. Und die Bewohner konnten es erkennen: Al Shabaab war auch im Lager Dadaab. Dadaab war voller Davongelaufener, Al Shabaab verhielt sich in Dadaab vorsichtig, Die Miliz hatte weder die nötige Stärke noch den Wunsch, Flüchtlinge zu entführen und sich mit der UNO und Kenya anzulegen. In diesen dramatischen Jahren wird ein Krieg geführt, den wir in Europa nicht wahrnehmen, so geringfügig erscheint er uns. Immerhin ist es ein Krieg, den alle Heeresteile der Kenianischen Armee gegen die Somalis im südlichen Teil, dem Jubaland führen. Dahinter sind auch massive Handelsinteressen.
Kenia möchte für seinen Zuckerhandel gern wieder Zugriff auf den Hafen im Norden Kisimayo. Die Entführung der beiden humanitären Helferinnen im Flüchtlingslager war eine der langandauerndsten der Entführungsgeschichte. Diese Entführung bedeutete erst mal die Evakuierung der westlichen Helfer, das Weggehen und -Fliegen der NGOs. Die beiden Frauen, die entführt wurden, waren in der Lagerstadt sehr beliebt. Es war die 30jährige Blanca Thiebaut , eine Agraringenieurin aus Barcelona, für die war es das zweite Engagement in Afrika.
Die Flüchtlinge im Lager erinnerten sich gern an Blanca Thiebaut, weil sie beim Füttern der unterernährten Kinder sich nicht daran gestört hatte, wenn die Babys sich erbrachen, weil sie Mühe hatten, die angereicherte Milch zu behalten. Die andere war Montserrat Serra – beide waren im August 2011 im Lager angekommen. Ohne jedes Motiv wurde der Fahrer des Wagens, in dem die Helferinnen fuhren, erschossen und die beiden wurden weggeschafft, Ihre Fußspuren führten in den Busch und verzweigten sich dann. Al Shabaab lehnte die Verantwortung für die Entführung ab, man konnte sich aber nicht vorstellen, dass ohne Ihre Erlaubnis auf ihrem Territorium Geiseln genommen wurden. Knapp zwei Jahre später wurden die beiden spanischen Frauen von Al-Shahaab Milizionären in Mogadischu an Unterhändler ausgeliefert.
Das einzige Nahziel ist die Eroberung der kenianischen Staatsbürgerschaft, wenn man das geschafft hat, ist man fein heraus. In der Zeit des Krieges gab es andauernd in Dadaab Explosionen, gingen Landminen in die Luft usw. Lapidar heißt es immer wieder in dem Buch, wie sich ein Flüchtling in seiner Sicherheit auf nichts berufen kann: „In der Zwischenzeit übt die kenianische Polizei RACHE“.