Tagebuch eines Gefangenen: Erinnerungen eines Jahrhundertzeugen
Ein Diplomatenleben, teils im Gefängnis. Zu dem Gefangenen-Tagebuch von Andre Francois-Poncet. Von Rupert Neudeck
Das ist ein ungeheures Buch. Es zeigt einen politischen Gefangenen von Adolf Hitler und dem NS-System, der besser behandelt wurde als jeder, der eigentlich eine Art Ehrengast unter gewisser Einschränkung der Bewegungsfreiheit war. Aber diese letzten zwei Jahres des totalen Krieges und der totalen Verblödung von uns Deutschen durch die NS-Propaganda Maschinerie ist bewegend zu lesen. An wenigen Stellen bekennt der Gefangene hochrangige Ex-Botschafter in der Weimarer Republik und dann auch unter Hitler und spätere alliierte Hochkommissar in der Zeit Konrad Adenauers, wie langweilig dieses Leben war, bei dem es den Gefangenen materiell an so gut wie nichts gebrach. Der Autor und Hochdiplomat machte aus der Not der Langeweile eine Tugend. Er bekam Bücher aus der Hotelbibliothek des Ifen Hotels im Walsertal und schrieb dazu so etwas Ähnliches wie lange Rezensionen, die unterbrochen werden von den zeitgeschichtlichen Nachrichten, die die Gefangenen als Privilegierte immer noch irgendwie erhielten, über die mit der normalen Post eintreffenden Münchener Zeitungen und andere.
Anfangs denkt man, ist das die Mühe einer deutschen Übersetzung wert? Das Tagebuch eines Jahrhundertzeugen und eines Gefangenen jetzt nach so vielen Jahren auch deutsch herauszubringen? Und nach der Lektüre muss man klar sagen: Ja, es lohnt, dieses Tagebuch – das glücklicherweise gerettet worden ist und in Frankreich schon vor vielen Jahren publiziert wurde, ist eine sehr lohnenden Lektüre. Aus dem einzigen Grund, weil man atemlos noch einmal die über 700 Tage der letzten beiden Kriegsjahre verfolgt. Das Tagebuch wechselt immer zwischen Lektüre-Notaten und zeitaktuellen Berichten, die aber immer aus der Sicht eines vorsichtigen Diplomaten natürlich nie auf Propaganda hereinfallen. Wie noch an der Jahreswende 1944 zu 1945 – Heilig Abend und Weihnachten und Silvester gefeiert wird, ist atemberaubend zu lesen. Es sind zwischendurch unglaubliche, zum Zerbersten erregende Analysen des Hitler Buches „Mein Kampf“, das der Autor in seinem Tagebuch auf über 12 Seiten zerpflück. Das Buch habe dieselbe Bedeutung wie der Talmud für die Juden oder der Koran für Muslime. Der Autor beschreibt, wie ihn die abermalige Beschäftigung mit diesem Buch wieder heftig „abgestoßen“ hat. „Es fällt mir ausgesprochen schwer, mich nicht davon abzuwenden. Ich muss mich zwingen, kontinuierlich weiterzulesen“. Der Schreibstil sei so brutal wie die „abgehackte bellende Sprache, gleich einem zornigen Gendarmen, der einem Kind Angst einjagen will“.
Hitler dulde keine Einwände, keinen Widerspruch. Er sei zum Systemfanatiker geworden, er steigere seinen Fanatismus bis zur Hysterie, „die das einzige Mittel sei, ansteckend zu wirken und die Massen mitzureißen“. Es trifft einen Nachgeborenen schon stark, in dieser Analyse zu lesen, dass das Buch ganz offensichtlich für eine primitive Leserschaft bestimmt sei und eine Doktrin bekräftige, „deren Arroganz nicht ausreicht, um ihren brutalen und unerbittlichen Charakter, auch ihre offensichtliche Verlogenheit zu vertuschen“. Hellsichtig schreibt der Franzose, was selbst die Mehrheit in den christlichen Kirchen so nicht begriff: Der Nationalsozialismus sei nicht gerade ein Evangelium der Sanftmut. „Sobald man damit in Berührung kommt, und sei es nur mit den Fingerspitzen, wird einem klar, dass er im Wesentlichen antichristlich ist“… Der Hass auf die Juden sie gänzlich irrational. Deutschland habe 1918 kapituliert, weil es „verjudet“ war.
Die Verfolgung der Juden sei das Alpha und Omega des nationalsozialistischen Katechismus. Der Autor kommt auf einen Widerspruch, den Hitler sich gar nicht eingestehen durfte. Die Juden haben ja immer sehr darauf geachtet, die Reinheit ihrer Rasse und ihres jüdischen Blutes zu bewahren. „Ihre Rasse, eine der reinsten und am wenigsten vermischten, sollte den Prinzipien Hitlers zufolge eigentlich eine der stärksten und überlegensten sein“. Für Hitler ist das anders, weil der Jude nur ein Parasit sei, nicht ein Schöpfer der Zivilisation.
Wie kommt Andre Francois-Poncet ins Walsertal? Er war französischer Botschafter in Berlin in der Weimarer Republik, dann auch nach der Machtergreifung der Nazis. Er hat vielen Menschen bei ihrer Flucht vor den brutalen NS-Machthabern geholfen. So war er an der Fluchthilfe für die Familie von Alfred Döblin, der Industriellentochter Amalie-Anne von Goldschmidt-Rothschild oder der Journalistin Bella Fromm beteiligt. Er hat weiter riskante Kontakte zu Widerstandsakteuren. Im Herbst 1938 geht er auf eigenen Wunsch von Berlin nach Rom und wird dort Botschafter Frankreichs. Das Münchener Abkommen war für ihn die Garantie für eine herannahende Katastrophe. Er hat viele Kontakte zu dem Außenminister, dem Schwiegersohn von Mussolini, Graf Ciano, der ihm am 10. Juni 1940 die italienische Kriegserklärung an Frankreich übergibt. Francois Poncet kann jetzt nicht mehr nach Paris, er lässt sich in einem kleinen Ort nieder, La Tronche in der italienischen Besatzungszone Frankreichs. Allerdings wird er gemeinsam mit Albert Lebrun, dem letzten Präsidenten der Dritten Republik, von der Gestapo im August 1943 verhaftet und kommt erst in das Schloss Itter in Tirol. Dieses Schloss wurde von den Nazis eigens für die Politprominenz Frankreich eingerichtet. Nach zwei Monaten soll er die Koffer packen, und nach achtstündiger Autofahrt finden die Politgefangenen eine neue Zuflucht in dem Ifen Hotel in Hirschegg im Kleinen Walsertal. Hier wird der Hauptteil des Tagebuchs geschrieben, das französisch schon 1952 unter dem Titel „Carnets d’un Captif“ erscheint.
Das Buch ist voller diplomatischer Analysen, was die Zeitfolgen der Konferenzen zwischen den Großen Drei und dann den großen Vier beinhaltet. Er bekommt Informationen über Kanäle, die er nicht ausdrücklich immer erwähnt, aber die manchmal auch so etwas wie NS-Astrologie bedeuten. Das Lesen aus der Kenntnis totalitärer Apparate gelingt einem erfahrenen Diplomaten wie Andre Francois Poncet sehr gut. Er kann die Sorgen, die sie sich in dieser, nur äußerlich gesehen, fast idyllischen Behausung machen, nicht vertreiben. Denn es könnte natürlich sein, dass man in letzter Aufwallung von Rache und Hass die Vertreter der Nationen ermordet, die es nicht wert sind zu überleben, wenn der Sieg nicht bedingungslos den Deutschen zufällt. Das Bedrückende kommt in diesen täglichen Eintragungen zum heftigen Ausdruck. Alles, das ganze polizeiliche, militärische, ideologische und Spitzelsystem, die Bürokratie haben bis zur letzten Minute gehalten, Auch als die Politgefangenen schon von der nahen Ankunft der französischen und amerikanischen Soldaten erfuhren, wurden immer noch Wehrwölfe ausgebildet und jagten Chimären und Alptraumgesichtern nach. Dieses Hotel war zwar weg vom Kriegsgeschehen, aber es überflogen alliierten Bomberstaffel das Quartier und es kamen Bombenabwurfs-Geräusche bis in die Zimmer des einstmals sehr vornehmen Hauses. Was sich alles an Goldfasanen dann im Walsertal sammelte, wer dorthin seine Familie schicken ließ oder gleich selbst mitkam, das macht die Lektüre dann auch noch spannend.
Das Buch enthält in der Langeweile des abgeschirmten, aber nicht sehr entbehrungsreichen Gala Gefängnisses im Walsertal auch immer lange Buch-Besprechungen dessen, was Francois-Poncet so gerade an Lektüre in die Finger bekam. Es sind wunderbare Analysen, die auch deutlich machen, wie stark sich dieser polyglotte diplomatische Beobachter wieder in sein Frankreich zurücksehnte. Die aktuellen Nachrichten sind frisiert, die Propaganda Nachrichten des Oberkommandos der Wehrmacht erreichen sie im Juni, als die Invasion begann in der Normandie. Auch bekommen die Prominenz-Gefangenen am 20. Juli schon mit, dass etwas in der Wolfsschanze passiert ist. Sie hören die Ansprache von Hitler in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1944. Die neue Legitimation der Nazi-Schreckensherrschaft heißt VORSEHUNG. Im Tagebuch heißt es: „Göring, von Dönitz, alle Zeitungen, alle Parteiköpfe, glaubten, die Vorsehung lobpreisen und ihr dafür danken zu müssen, die Person des Führers beschützt zu haben. Sie wollten ihr offenkundiges Einschreiten als Garantie dafür sehen, dass sie Adolf Hitler auch weiterhin treu bleiben und ihn zum Sieg führen würde.“ Hitler habe in seiner Rede wie in einer metaphysischen Aufwallung den Allmächtigen erwähnt, „Gott, der mich erschaffen hat“: Es sei nicht verwegen anzunehmen, dass das Datum des 20. Juli 1944 in die Geschichte eingehen wird.
Die Luxus Gefangenen machen sich aber keine Illusionen, dass die Wehrmacht Widerstand leisten wird. Schon nach den Massakern vom 30. Juni 1934 – schreibt der Autor – nach der „Ausschaltung von Fritsch, nach der Kaltstellung von Brauchitsch und Beck erwartete man Reaktionen von seiten der Armeechefs. Sie erfolgten nicht“. Jetzt aber stehen die Russen an der Memel, Ob das Attentat vom 20. Juli Folgen haben wird oder nicht? Aber es sei schwer, in diesem „Ereignis nicht ein Vorzeichen von politischen Aufruhrbestimmungen als auch ein Zeichen der Schwächung der Position Hitlers zu sehen, wenn nicht gar sein eigenes Menetekel“. Umso überraschender, wie der Autor in diesen dramatischen Tagen Zeit nicht nur für die Lektüre von Dostojewskis „Brüder Karamassow“ und den „Dämonen“ wie verschiedener Romane von Honore de Balzac, sondern auch für deren ausgeruhte Würdigung findet. Das russische Volk werde bei Dostojewski so dargestellt, „als sei es von einer Art kollektiver Seelenstörung befallen, wie von einer allgemeinen Krankheit, die es quält und doch nur das Zeichen seiner Berufung sein mag, eines Tages die menschliche Gesellschaft zu erneuern“. Insofern machen für den prominenten Gefangenen diese beiden Werke von Dostojewski verständlich, weshalb der Bolschewismus gerade in Russland Fuß fassen konnte. „Beide Romane können als Studie eines Landes betrachtete werden, in dem der Bolschewismus alle Chancen bekam, sich einzunisten“.
Um einen kleinen Hinweis auf die Lebensbedingungen dieser privilegierten Gefangenen zu bekommen, hier der Auszug aus dem Eintrag vom10. Juli: „ Spaziergang oberhalb von Riezlern, Rast zu Füßen eines Heustadels, von wo man sich einer wunderbaren Aussicht auf das Tal, auf die Hänge des Gottesackers und auf den Hohen Ifen erfreut“.
Nach dem Kriege wurde Francois Poncet, der diese Gefangenschaft physisch und psychisch gut überstanden hatte, schon 1946 gebeten, als politischer und diplomatischer Berater dem Überbefehlshaber der französischen Besatzungstruppen zur Seite zu stehen. Am 21. September 1949 wird er Frankreichs erster und einziger alliierter Hochkommissar mit Sitz auf Schloss Ernich bei Remagen. Nach dem Ende der Besatzungszeit wird Francois Poncet auch noch erst französischer Botschafter in Bonn. Francois Poncet starb am 8. Januar 1978. Sein Sohn, der im November 1978 französischer Außenminister wurde, begab sich später als Senator Jean Francois Poncet mit seiner Schwester erneut in das Walsertal und besuchte die Zelle ihres Vaters. Dabei wurden während des Besuches einige Auszüge aus dem umfangreichen Tagebuch in Deutsche vorgetragen.