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Kiepenheuer&Witsch

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Vater, Mutter, Stasi: Mein Leben im Netz des Überwachungsstaates

Verrat oder Tragödie? Zu einem bis zum Zerbersten ehrlichen Buch. Von Rupert Neudeck

Das ist ein Buch, das wir jetzt brauchen, nach dem gehörigen Abstand zum geteilten Deutschland, der aufbrandenden Neigung zur Ostalgie, auch zur Verklärung mancher Vergangenheit und der aufkommenden Debatte um Recht- oder Unrechtzustand in der ehemaligen DDR.

Es ist auch ein Lackmustest-Buch für den Stand unserer wiedervereinigten Republik. Die Autorin besteht darauf, dass in ihrem Land bis 1989 „nichts normal war“, es war ein Land, „das Flüchtende erschoss, Kritiker einsperrte, Kinder und Jugendliche zu Denunzianten „ausbildete und diese sich gegenseitig bespitzeln ließ“. Sie besteht darauf, dass Politik verloren ist, wenn die Gesellschaft durch ein Totalmisstrauen gegeneinander abgeschottet ist, wie das mit der Stasi so war. Tatsächlich habe es für sie „jahrelang gedauert, bis ich Menschen wieder vertrauen konnte“. Sie habe das durch die Politik gelernt, sagte sie. „Ich habe mich auf Menschen eingelassen und verlassen, denn entgegen des öffentlichen Bildes ist politische Arbeit ohne Vertrauen nicht möglich“.

Das Buch ist ein Lackmustest für die Linke, aber auch für unsere Gesellschaft, auch für mich als Leser. Der „Knackpunkt für ein rot-rot-grünes Regierungsbündnis“ sei deshalb – „noch vor den Fragen der Außenpolitik, der Zukunft der Nato, des Einsatzes von UN-Blauhelmtruppen, des Verhältnisses zu Russland, der Finanzierung von sozialer Gerechtigkeit – – die Frage, welche Position zur DDR Vergangenheit eingenommen wird“. Ganz aktuell klingt es in der Debatte, die gegenwärtig zwischen dem Jura-Professor Böckenförde und anderen ausgefochten wird, was sie zum Unrecht in der DDR sagt: „Für mich ist die DDR ein Unrechtsstaat gewesen. Ein bisschen Unrechtstaat geht nicht, genauso wenig wie ein bisschen schwanger.“

Die Stasi war für sie verbunden mit dem Missbrauch durch ihren Stiefvater, der auch wie Ihre Mutter Stasi IM war. Sie schreibt das in dem Anfangskapitel „Das Geheimnis“ und betont, wie schwer es ihr fällt, darüber zu schreiben. Aber es ist ein Schlüssel zu ihrer Geschichte. Der Missbrauch Ihres Körpers und der Missbrauch der Jugendlichen im Alter von 15 Jahren gehören in dem Stasi Haushalt, in dem Stasi Agenten und Offiziere ein- und ausgingen, zusammen. Es begann mit einem Urlaub mit dem Stiefvater auf Rügen und setzte sich weiter fort. Die Mutter schützte sie nicht. „Rügen war nur der Beginn. In der folgenden Zeit missbrauchte mich Michael, wann immer sich ihm die Gelegenheit bot“. Die Verbindung zur Stasi ergab sich aus dem Vertrauen, das sie den „Freunden“ der Eltern entgegenbrachte. Diese Freunde behandeln sie wie eine Erwachsene. „Deshalb erzählte ich ihnen auch bereitwillig, wenn sie von mir etwas wissen wollen. Dass sie diese Gespräche nutzen, um „Informationen zu sammeln, mit denen sie anderen schaden wollten, wäre ihr damals nicht in den Sinn gekommen. Das wurde der Autorin 2002 offenbar, als sie ihre Akte las.

Es grenzt an Verzweiflung, die sie erfasste: Irgendwann – schreibt sie – habe sie aufgehört über diese unglaublich belastende Situation nachzudenken. „Ich musste meinen Verstand schützen, der schon begriffen hatte, was da Ungeheuerliches geschah“. Wenn sie das nicht getan hätte, wäre sie vielleicht aus dem Fenster gesprungen. Fünf lange Jahre habe es gedauert, bis sie ihrem Stiefvater entkommen konnte.

Die Autorin hat später über den Professor Klaus Schröder – einem Mitglied im Beratungsgremium des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen, von Doktorarbeiten erfahren, die über den Umgang mit minderjährigen IM geschrieben wurden. In allen Texten wird dargelegt, dass die Jugendlichen besonders anfällig für Verführungen durch den Feind sind. Gleichzeitig wird betont, wie man die Jugendlichen am besten verführt, um andere zu bespitzeln und zu verraten. „Es war ein perverses Paradox“. Von einem Stasi Hauptmann erfährt sie, dass man am besten die 13-bis 15jährigen auf „operative Eignung“ prüft. Es sei ein Alter, in dem sich die Jugendlichen einen neuen Umgangskreis suchen und von ihren Kindheitsverbindungen lösen.

Sarkastisch schreibt Angela Marquardt: „Die Stasi, dein Helfer durch die Pubertät!“ Die Stasi Mitarbeiter hatten alles eins zu eins bei ihr umgesetzt, was sie später gelesen hat in den Diplomarbeiten. Über das Verhältnis des MfS zu den Jugend IMs habe sie gelernt: Dass die Stasi die Jugendkulturen nur schlecht auseinanderhalten konnte, wenn sie minderjährige IM klassifizieren sollte. Eines habe sie nie gehört: „Dass bei der Stasi darüber nachgedacht wurde, ob es vielleicht falsch sein könnte, was sie  Kindern und Jugendlichen antaten. Was sie mir antaten“.

Sie liest be- und entfremdet in Ihrer Akte Sätze, die sie geschrieben haben soll. So in der Beurteilung einer älteren Mitschülerin: „Ihre politische Haltung ist nicht gerade positiv. Sie unterliegt dem westlichen Einfluss“. Dazu sagt die Autorin, dass sie das nicht so geschrieben hat, weil das in typischem Stasi-sprech verfasst sei. Das waren auch Gespräche am Küchentisch bei ihr zu Hause, wo sie einem älteren Freund über ihre Schulklasse erzählt – der aber ein Stasi Mitarbeiter war und es dann wiederum aus seiner Sicht notierte. Sie muss ihren Beitrittsantrag für die Stasi beschämt lesen, im Original elf Seiten, der diese Mischung aus Bürokratie, Ideologie und Skrupellosigkeit wiedergibt, die “das Wesen der Stasi ausmachte“.

Angela Marquardt ist ein unbequemer Typ. Als Punkerin, Sozialistin, Nonkonformistin war sie schnell in den Kreisen der PDS, wurde so schnell gefragt, ob sie nicht für den Bundestag kandidieren wolle, dass es ihr selbst unheimlich war. Sie wurde schon 1990 zu einem Sommercamp der PDS animiert, dann wurde sie von der PDS als Kümmererpartei überzeugt. Bei einer Hausbesetzung in Greifswald war sie Zeugin, dass die PDS Vertreter die einzigen waren, die sich meldeten.

Dann trat sie in die Partei ein, fragte sich später, warum sie ausgerechnet in die Nachfolgepartei der SED gegangen sei. Wo sie doch gewusst hat, dass ihre Eltern für die Stasi gearbeitet hatten und „welche zerstörerischen Folgen das hatte“. Sie wurde ganz schnell zur Delegierten für den PDS Parteitag gewählt und dann auf dem Parteitag im Dezember 1991 in den Vorstand, mit den meisten Stimmen von allen, gemeinsam mit der 22jährigen Germanistik Studentin Sahra Wagenknecht.

Man muss bei dem großen Freimut, mit dem dieses Buch geschrieben ist, eines akzeptieren, was die Autorin sagt: Mit welchem Ausmaß ihre Mutter und ihr Stiefvater gezielt Informationen an die Stasi gegeben hatten, war mir zu DDR Zeiten und in den Jahren direkt nach der Wende nicht wirklich klar. Sie schreibt, um den Wahrheitsgehalt noch zu unterstreichen: „Ich weiß, wie unglaublich sich das anhört. Ich habe mich selbst gefragt, warum mir nicht bewußt war, was da wirklich in meiner Kindheit und Jugend gelaufen ist“.

Was das Buch so erschütternd macht, ist die Angst, die sie nicht ablegen kann. Die Scham auch in Gesprächen mit einer Mitschülerin, die sie auch mit der Wirklichkeit konfrontiert. Sie muss geradezu die Kontrolle über sich zurückgewinnen, wenn es solche Gespräche gibt.

Sie kommt dann in den Bundestag und Lernt in Bon eine ganz andere Welt kennen. Doch dann kommt am 12.06 2002 der Hammer, mit der dicken Überschrift in der „Bild“: „Enttarnt! PDS-Star Marquardt war Stasi IM“. Diese Neuigkeit hat sie umgehauen. Unter einem großen Foto von ihr stand die Zeile: „Schon mit 15 Jahren war sie IM“. Sie wird total aus der Bahn geworfen, schildert nüchtern die fast feindliche Atmosphäre des Immunitätsausschusses des Bundestages. Am 29. August 2002 wurde sie vor den Immunitätsausschuss zitiert. Dreizehn Wochen waren vergangen, nachdem sie erfahren hatte, dass es diese Akte über sie gab. „Dreizehn Wochen, in denen sich mein Leben vor meinen Augen aufgelöst und nicht wieder zusammengesetzt hatte“. Ihr Anwalt legt das Mandat nieder, gibt es an einen Kollegen weiter. Sie fühlte sich im Stich gelassen. Der Ausschuss hatte diese Akte und die Erklärung Ihrer Mutter.

Sie hätte auch persönlich aussagen wollen, daran hatte der Ausschuss kein Interesse. Die Mutter verharmloste die Stasi Beziehungen. Das seien „Freunde und Kumpels gewesen“, die zu Geburtstagen und Weihnachten vorbeikamen und Geschenke brachten. Angela Marquardt sollte Theologie studieren, um dann später IM zu werden. Es gab Geld in großer Fülle vom MfS. Die Mutter gab diese Erklärung ab als Wiedergutmachung. Angela Marquardt hasste das Gefühl, erneut in eine Abhängigkeit von der eigenen Mutter zu landen, von der sie sich ja gelöst hatte.

Die Staatsanwaltschaft hatte die Aufhebung der Immunität beantragt. Der Ausschuss hatte zugestimmt. Sie sei wie in Trance nach einer Nacht ohne Schlaf in die Anhörung gegangen. Eckart von Klaeden macht die Anhörung zum Verhör. Am schärfsten war von Klaeden. Irgendwann stand Max Stadler auf und verließ wortlos den Raum. „Er habe es nicht mehr ertragen, wie Marquardt die eigene Familiengeschichte ausbreiten musste“. Sie, die Marquardt, sei doch noch ein Kind gewesen. Sie hat dieses Verhalten des ehemaligen Kollegen hoch geschätzt

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Quelle

Rupert Neudeck 2015 | Grünhelme 2015

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