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Verändern durch Wissen

Eine ganz neue Form von Politik. Und eine Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie. Von Rupert Neudeck

So ähnlich werden wir uns bewegen und zusammenleben müssen als Bürger in einer Bürgerrepublik: Durch mehr Information über Prozesse, die uns alle angehen, durch mehr Beteiligung des Stimmvolks in einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie, durch bessere und klarere Verständlichkeit der Forschungsergebnisse von Wissenschaften. Das Buch macht deutlich, was wir alles an Bürgerzufriedenheit und Bürgervertrauen gewinnen können, wenn wir uns auf diesem Wege gegenseitig positionieren und nicht mehr gegeneinander abschotten.

Das enthält vier Teile. Im ersten beschreibt Reinhard Loske, der ehemalige Senator in Bremen die „ökologische Verantwortung in der neuen Zivilgesellschaft, die die Obrigkeitsgesellschaft hinter sich lassen will“. Gesine Schwan, die leider nicht damals Präsidentin der Deutschen wurde, widmet sich dem neuen Interesse an dieser Bürgergesellschaft. Und der ebenfalls das Licht der aktuellen Öffentlichkeit nicht scheuende Essener Professor Leggewie geht den neuen Formen der Teilhabe am Beispiel der Zukunftskammern nach. Im zweiten Teil werden Beispiele vom Mitwirken der Gesellschaft an großen Technik und Technologieprozessen von Beteiligten referiert. Am spannendsten die Beschreibung, die Heiner Geißler von seiner Mediation gibt beim Aufruhr in Stuttgart wegen des Umbaus des Hauptbahnhofs: „Stuttgart 21“. Im Traktat zum Ewigen Frieden, schreibt Geissler, ging Immanuel Kant 1795 noch davon aus, dass der Weltfrieden eine Weltregierung voraussetze. Solange es diese aber nicht gibt, „müsse eine kritische Weltöffentlichkeit diese Weltfriedensordnung sichern“.

Geißler beschreibt, was vorher alles schiefgelaufen war, weil man sich nicht vorstellen konnte, dass es einen solchen Bürgerprotest aus der Mitte der Gesellschaft geben konnte. Die Deutsche Bahn hatte sich 2001 auf das Projekt festgelegt, ohne überhaupt Alternativen zu bedenken. Im September 2010 wurde mit einem Faktencheck etwas nachgeholt, was eigentlich schon 15 Jahre früher hätte geschehen sollen. Dieser Faktencheck war die Grundlage für Änderungen, die die Akzeptanz des Projekts erhöhten. So „entzog die Stadt Stuttgart auf Grund des Schlichterspruchs das ganze Gelände der Bodenspekulation, indem sie es in eine Art Stiftung überführte, als deren Zweck eine bürgernahe Verwendung der Grundstücke definiert wurde“. Vor dem Faktencheck waren nur 25 Prozent der Bürger für den neuen Bahnhof, 60 Prozent dagegen. Nach der Schlichtung hatte sich das Ergebnis umgekehrt, was später dann in der Volksabstimmung herauskam.

Dennoch kam ein Faktor in dieser Schlichtung nicht zum Tragen, die Stadt Stuttgart, immerhin eine der Metropolen Deutschlands, auch eine vergleichsweise schöne Stadt wird über 15 Jahre ins Chaos gestürzt und verhässlicht, die Regelwerke des Großstadtverkehrs werden für eine solche lange Zeit außer Kraft gesetzt- Die Frage der entgangenen Lebenszeit wird auch künftig bei solchen Megaprojekten eine Rolle spielen müssen bei dermaßen großen Umwälzungsprojekten. Heiner Geissler, sicher einer der unabhängigsten Politikerköpfe in Deutschland, schließt seinen Bericht: Die Ökologische Bewegung sei ein Lichtblick, sie habe sich von jahrzehntelanger Unmündigkeit befreit. „Der Ausstieg aus der Kernenergie und die beschlossene Energiewende in Deutschland gehören zu den besten Entscheidungen der Bundesregierung in den letzten Jahren und sind ein Befreiungsschlag moderner Aufklärung“.

Klaus Hänsch, einst Präsident des Europa-Parlaments, wurde 1998 zum Vorsitzenden der Mediationsgruppe in Frankfurt bestellt, die beim Ausbau des Frankfurter Flughafens die zwischen den Interessen von Wirtschaft, Politik, Flugverkehr Verbänden und Bürgern vermitteln sollte. Diese Vermittlung war erfolgreich, die neue Landebahn wurde im Herbst 2011 in Betrieb genommen, 2012 wies das Bundesverwaltungsgericht alle Klagen ab, gegen das Nachtflugverbot wie gegen die Inbetriebnahme der Landebahn. „Das Mediationsergebnis erwies sich als politikfähig und gerichtsfest“. Dennoch bleiben Fragen, ob es in Zukunft nicht zu stärkerer Berücksichtigung von etwa so altmodischem wie dem Nachtruhebedürfnis einer Bevölkerung gegenüber dem Wachstumsinteresse des globalisierten Welt und Tourismushandels kommen muss und wird.

Mathias Kleiner berichtet über die Ethikkommission „Sicherere Energieversorgung“. Diese Kommission hatte Ergebnisse von hoher Relevanz: Sie bestätigte, dass Deutschland seine Klimaziele auch ohne Atomkraft erreichen könne. Die Kommission trug die Strategie des Energiemixes vor. Es müsse auch die Verantwortung gegenüber künftigen Generationen berücksichtigt werden. Energieeffizienz wurde ein wichtiges Schlagwort für die Prozesse zu einem vernünftigeren Energieangebot und Konsum. Es wird in dem Beitrag der Brief zitiert, der geradezu die Magna Charta für eine neue Rolle der Wissenschaft darstellt. 1947, zwei Jahre nach den verheerenden Zerstörungen von Hiroshima und Nagasaki schrieb Einstein: „We scientists recognise our inescapable responsibility to carry to our fellow citizen an understanding of atomic energy and ist implication for society. In this lies our only security and our only hope – we believe that an informed citizenry will act for life and not for death“. Im dritten Teil werden Bedingungen erörtert für erfolgreiche Bürgerbeteiligungen. Sehr spannend dabei der Bericht von Wolfram König übe die Erfahrungen aus der Endlagersuche. Die Pläne zur Stilllegung des Endlagers Asse und technisch wissenschaftlichen Fragestellungen mussten damals „verständlich kommuniziert werden“. Das bedeutet eine ganz neue Aufgabe für die Wissenschaft. Sie muss die Übersetzung aus Ihrer Geheim-fachsprache leisten, damit die beteiligten und besorgten Bürger sie verstehen. Es handelt sich um Pionierarbeiten, die noch einmal die Risiken bestätigen, die es bei der Atomkraft eben immer gibt. Es muss ja nicht nur einfach ein Endlager stillgelegt werden, es müssen auch die radioaktiven Abfälle zurückgeholt werden. Dieses Vorgehen wurde durch Beschluss von Bundestag im § 57b des Atomgesetzes (Lex Asse) als die bevorzugte Option vorgesehen.

Gleichzeitig müssen wir Bürger verstehen, dass der Staat durch unsere Beteiligung nicht aus der Rolle des Exekutors entlassen werden darf. Er darf sich nicht in die Rolle des Moderators begeben und die Entscheidungen an die Wissenschaft delegieren. Die Wissenschaft kann nur beraten, entscheiden kann und darf sie nicht. „Hierfür fehlt die demokratische Legitimation“ und wohl auch die Fähigkeit der Exekution. Im Vierten Teil denken einige Autoren in Bezug auf das „Gemeinschaftswerk Energiewende die Bürgerbeteiligung weiter. Dabei gibt es aber eine harsche Rolle rückwärts allein schon durch eine künstliche Fachsprache, die den revolutionären Umwälzungen, die in einer Gesellschaft in Frankfurt, in Stuttgart, in Gorleben, im Voralpengebiet ausbrechen, überhaupt nicht gerecht wird. Das Zitieren irgendwelcher schwerfälliger Verwaltungsvorschriften in einer Sprache, die substantivisch angereichert den Normalbürger nicht mal erreichen kann, ist symptomatisch. Dolores Volkert handelt das Thema Legitimation und Legitimität von Partizipation ab. Im Grunde kann man sagen: Solche Bewegungen – die ja viel mehr sind als Konflikte – kann ein Verwaltungsjurist kaum verstehen. Es sind auch einfach falsche Worte, die die Autorin benutzt. Stuttgart 21, die die Revolte der Mutbürger in einer Großstadt und weit darüber hinaus, ist eine Fackel gewesen, die auch dann weiterleuchtet, wenn sie erst mal keinen Erfolg hat. Volkert schreibt: Stuttgart 21 wurde zum „Synonym einer neuen gesellschaftlichen Debatte um die Akzeptanz von Infrastrukturprojekten und der Forderung nach erweiterten Partizipationsmöglichkeiten und der Einführung plebiszitärer Elemente bei der Entscheidung über raumbedeutsame Vorhaben“. Unabhängig von der verwaltungsjuristischen Kunstsprache, das Ereignis einer Revolution unter ‚braven‘ schwäbischen Bürgern war weit mehr. Die wussten auf Grund Ihrer Lebenserfahrung, dass es keinen Sinn macht, die Erde unter einer deutschen Metropole aufzureißen und einen neuen Bahnhof zu kreieren, der uns vielleicht den Zug in 15 Jahren von Stuttgart nach Ulm 15 Minuten schneller fahren lässt. Aber zehn Jahre wird die Stadt, die schöne am Neckar hässlich in einem Ausmaß, dass man es nur mit dem Taxichauffeur halten kann, der mich einmal durch all die Baustellen bis zum SWR-Fernsehsender  fuhr und geschimpft hat in Worten, die dem Protest näher waren als dem Synonym.

Manche Bemerkung in dem Beitrag bringt unfreiwillige Komik an den Tag. Die Frage nämlich wie der Souverän Bürger ein bisschen stärker in die Küche der Konzerne gucken darf, sei nicht nur eine Frage „der quantitativen Ausweitung des Verwaltungsverfahrens“. Die Ausführungen der Referenten haben ja deutlich gemacht, „dass die weitergehende Befriedungs- und Akzeptanzförderungspotenziale des Verfahrensrechts begrenzt“ seien, die mit der Forderung nach einem Ausbau der Öffentlichkeitsbeteiligung verbunden werden. Da kann man nur frei nach Hegel sagen: Umso schlimmer für das Verwaltungsverfahrensrecht. Die Bürger werden darüber hinwegtrampeln, wenn es sein muss. Und manchmal müssen sie es. Ein Satz weiter dekuvriert sich das auch mit der Behauptung: Nur durch intensive Aufklärungs- und Informationsarbeit kann „gewährleistet werden, dass die Betroffenen das Projekt auch akzeptieren“. Das lässt außen vor, dass der Protest ja das Gegenteil will, nämlich, dass das Projekt aufgegeben wird.

Der Beitrag belegt, wie zurückgeblieben öffentliche Verwaltung und Gesetze gegenüber bürgerlichen Revolten sind, die aus gutem Grund ausbrechen. Eine Eisenbahn zu planen und durchzuführen, die von Stuttgart nach Peking geht, wäre ein tolles revolutionäres Unternehmen des 21. Jahrhunderts. Aber nicht die Unterminierung einer ganzen gut gebauten Großstadt und die Belastung des Großstadtverkehrs über mehr als zehn Jahre.  

 Es geht in einem Beitrag noch mal um Fragen der Legitimation von Partizipation. Es geht um das Bemühen, den Widerstand gegen Infrastrukturprozesse besser zu verstehen. Der Schlussbeitrag fast diese Ergebnisse dieser neuen Form von Politik noch einmal zusammen unter dem Titel: „Wissen, wie Veränderung gelingt“.

Klaus Töpfer, Dolores Volkert, Ulrich Mans (Hg.) „Verändern durch Wissen – Chance und Herausforderungen demokratischer Beteiligung von ‚Stuttgart 21‘ bis zur Energiewende“

Quelle

Rupert Neudeck 2015 | Grünhelme 2015

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