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Was Griechenland Europa lehrt

Sympathie für die Griechen. Und wie sie mit ihrer Krise umgehen. Von Rupert Neudeck

Das sympathische Buch über die Griechenlandkrise lässt die erste große Frage ohne Antwort. Wie konnte es bis dahin kommen? Die zweite Frage: Wie engagiert sich die Bevölkerung und wie werden die griechischen Gesellschaftsschichten mit der Krise fertig, wird in dem Buch in 23 großen, auch sehr treffend illustrierten Kapiteln breit abgehandelt. Das Buch ist wegen gut ausgewählter Fotostrecken auch eine Layout-Leistung.

Im zentralen Kapitel Akropolis und Agora sinniert der Autor und TV-Journalist  über die dramatischen Äußerungen von Yanis Varoufakis. Der warnt die Europäer davor, dass Griechenland ein neuer Kosovo werden könnte. Er meint, so beeilt sich der Autor hinzufügen, dass er das nicht als Abwertung des Balkanlandes meint, sondern als ernsthafte Parallele: Ein Protektorat, das keine eigenen Entscheidungen fällen kann. Das sind dann so Sprüche, aber man findet kaum Europäer unter den Griechen, die auch davon profitieren, dass man jetzt diese EU-Freizügigkeit hat, die der Kosovo zum Beispiel liebend gern hätte: Die jungen arbeitslosen Griechen können nach Zentraleuropa.

Günter Grass hat das dann noch mal auf die Spitze getrieben. Sein Gedicht ist auch keine Antwort auf die Frage, wie so ein Land so total aus den Rahmenbedingungen und Standards Europas herausfallen kann?! Wie kann es vor der Aufnahme der Griechen in die EU so gar keiner gemerkt haben, dass das Land nicht ausreichend vorbereitet war. Ein Viertel der sorgfältigen Abfrage der Kapitel des Kopenhagener Acquis,  was bei den Türken immer wieder selbstverständlich ist, hätte ausgereicht, Griechenland damals noch nicht aufzunehmen.

Grass wurde natürlich umstandslos zum „Europäer des Jahres 2012“ gekürt, für seine flammenden Gedichtszeilen: „Sauf endlich, sauf! Schreien die Kommissare-Claqueure, doch zornig gibt Sokrates Dir den Becher randvoll zurück!“ Und Grass meint, ohne Griechenland wird Europa verkümmern: „Geistlos verkümmern wirst du ohne dieses Land, dessen Geist dich, Europa, erdachte!“

Gewiss muss man die Frage der wirtschaftlichen Schulden von der Frage der theologisch aufweisbaren Schuld oder noch genauer der Sünde im Sinne der Aufklärung trennen. Aber, in dem Buch klingt es mehrfach an, die Schuld und Troika Debatten erinnern oft an theologische Traktate: „Sollen wir ihnen die Schulden (Sünden) erlassen, oder sollen wir sie nach dem Gesetz behandeln? Das sei das Thema des Christentums vor 2000 Jahren: Gesetz oder Gnade?“ Und wenn wir ihnen vergeben, sagt der Prager Ökonom Sedlacek – Wie oft wollen wir ihnen vergeben, sieben Mal oder sieben mal siebzig Mal?

Anders äußert sich der große bosnische Schriftsteller Dzevad Karahasan, den der Autor vor dem Ares-Tempel trifft: Er meint etwas, was weit über die griechische Krise hinausgeht. Die europäische Kultur sei in Gefahr. „Die klassische Bildung, die klassische Universität, die klassische Kultur, sie stellten die große Frage: Wozu bin ich auf der Welt? Der Neoliberalismus kennt die Antwort schon: Um den Profit zu mehren. Du bist auf der Welt, damit ich noch reicher werde.“

Es sind bedrückende Kapitel, in die hinein aber immer eine Begeisterung und eine ehrenamtliche Subsidiarität hinein leuchten, die der Autor an allen Stellen ausleuchtet. Es gäbe sehr viel mehr Selbstmörder in Griechenland. Das Schlimme sei die Hoffnungslosigkeit. Marina benennt die Gefühle: „Metaphorisch gesprochen vergewaltigen sie dich jeden Tag aufs Neue. Sie vergewaltigen meine Seele, Jeden Tag höre ich etwas, das mich fertigmacht und in mir schlechte Gefühle hinterlässt.“

Marina gibt Konzerte, auch in der Mikis Theodorakis Musikhalle ein Benefizkonzert zugunsten von Krisenopfern. Das hilft, um gegen die Verzweifelung anzukämpfen. Denn das Schlimmste sei es, dem Menschen die Hoffnung zu nehmen. Sie kommt auf Filotimo zu sprechen, wörtlich heißt das: „Freund der Ehre“. Genau dieses Filotimo sei den Griechen so wichtig, und genau das werde täglich verletzt.

Es gibt eine Katastrophe bei der Aufnahme von Asylbewerbern und Flüchtlingen, die sich allein durchschlagen müssen und manchmal nur noch die Suppenküche der „Apostoli“- Organisation der griechisch orthodoxen Kirche haben.

Drei Millionen Griechen sind ausgewandert in der letzten Zeit, aber es kommen viele aus Afrika, Syrien und anderen Ländern als Asylbewerber nach. Sie bilden ein gutes Futter für die neonazistische Partei mit dem schönen Namen „Chrysi Avgi“, „Goldene Morgenröte“, die hat auf die Migranten gerade noch zur Selbstprofilierung gewartet. In Athens Stadteilen blühen die Ghettos.

Ein junger Kongolese aus Kinshasa erzählt, dass er im Freien schlafen müsse, es gibt – anders als in Deutschland – keine Unterstützung von Behörden. Der junge Mann muss draußen im Winter schlafen, in der nassen Kälte. Auch d a gibt es hilfsbereite Griechen, so die Menschen und Mediziner von „Ärzte ohne Grenzen“ Griechenland.

Die Koordinatorin der NGO Ioanna Kotsioni berichtet, dass die Organisation Neuankömmlinge versorgt und sich auf europäischer Ebene für ein europaweit gültiges Programm bei der Neuaufnahme von Flüchtlingen bemüht – medizinische Diagnose und Versorgung inklusive. Badoo kam aus dem Senegal und hatte die Hoffnung, eine große Karriere zu machen als Fußballer. Badoo wurde getragen von der Zustimmung der Familie. Die Mutter hatte ihm 8000 Euro für die Reise und die Schlepper bezahlt. Er kann gar nicht unverrichteter Dinge zurückkehren, denn die Schande wäre dann riesig.

Es sind klare eindeutige Kapitel: Soll Griechenland Thailand werden: „Alles privat oder?“

Er beschreibt die Immobilienkrise, die in leeren Wohnungen und bewohnten Straßen besteht. Ein ganzes Kapitel widmet er dem Kampf gegen den Hunger, den auch die aktiver gewordene orthodoxe Kirche aufgenommen hat. Ein weiteres Kapitel ist betitelt: „Großalarm Gesundheit. Das System pfeift aus dem letzten Loch“.

Der Autor kann auf die erste Frage – wie das Land in die EU kam? – nicht ohne Anteilnahme antworten, wie es zu diesem Staatszusammenbruch gekommen ist. Er zitiert den flammenden Verschwörungsappell des 87-jährigen Volkshelden Mikis Theodorakis, der geradezu einen genozidalen Angriff voraussieht der westlichen Mächte und dafür ist, sich ganz wieder in den Schoß Russlands zu werfen. Nach Angriffen auf die nationale Identität seit 1975 „versuchen sie jetzt, uns mit Arbeitslosigkeit, Hunger und Verelendung auch biologisch auszulöschen. Wenn sich das griechische Volk nicht vereint erhebt, um sie aufzuhalten, sei die Gefahr der Auslöschung Griechenlands existent.

Neben diesen maßlosen Übertreibungen gibt es den Hinweis auf zwei Probleme: Den übermäßigen Ankauf von Kriegswaffen und die Korruption. Bei beiden Problemen seien die Ausländer mitverantwortlich, was bis heute in Deutschland nicht besprochen wird. Deutsche und Franzosen hätten an dem Verscherbeln ihrer Waffen an Griechenland gut verdient. In keinem Gespräch, so das Buch, fehle der Hinweis darauf, dass der spektakulärste Bestechungsfall von der deutschen Firma Siemens ausging. Dennoch ist das sehr nostalgisch, geht zurück auf die alte Freiheitsbewegung unter der Losung „Eleftheria i Thanatoas“, „Freiheit oder Tod“, von 1821, als ganz Europa der Befreiung Griechenlands von den Osmanen begeistert zusprach.

Der Autor  ist ein sympathischer Freund dieser Menschen, die in unserem Europa mit einer ziemlich schweren Krise zurande kommen müssen. Er hat bei den Vorbereitungen zu seiner TV-Reportage die österreichische Finanzministerin gefragt, ob die Griechen selbst daran schuld seien, dass sie beim Bremsmanöver der ihnen auferlegten Sparpolitik „durch die Windschutzscheibe geflogen“ seien. Die Ministerin ließ das nicht so stehen: „Die Griechen sind nicht durch die Windschutzscheibe geflogen. Die Griechen sind aus der Hängematte gefallen“.

Das empfindet der Autor als eine unverantwortliche Kälte gegenüber dem Los der Griechen.

Quelle

Rupert Neudeck 2014Grünhelme 2014

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