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Wenn Tausend Tränen fallen

Die wahre Geschichte einer vietnamesischen Familie zerrissen durch Krieg, Kommunismus und CIA. Von Rupert Neudeck

Das ist ein für die Deutschen zum Zerbersten eindrucksvolles Buch. Es macht klar, dass die Familienbande ganz anders als bei uns in Europa von einer bezwingenden Kraft und Stärke sind. Wenn man die letzten Kapitel liest, die ja nun auch schon 35 Jahre zurückreichen, erlebt man: Selbst über den Weltgegensatz von Kapitalismus und Kommunismus, von Eisernem Vorhang und Mauer erweisen sich die Familienbande als letztlich stärker als alle Politik- und Ideologie-Gegensätze.

Nicht im Sinne von Sieg des eines Systems über das andere, aber durch die aufrechterhaltene Spannung bleibt die Familie etwas, was nicht weg zu denken ist. Als nach langen Vorbereitungen und wahrscheinlich unendlich geduldiger Arbeit der Vater der Autorin Yung Krall (gleichzeitig Funktionär der KP in Vietnam) nach London für einen Besuch bei seiner Familie entlassen wird – auf Zeit, kommt dieses unerschütterbare Bindegewebe noch einmal zum heftigsten Ausdruck. Die Tochter Yung Krall hat sich auch noch einem US-Amerikaner an den Hals geworfen und ist – horribile auditu – auch noch Agentin des CIA geworden. Sie fragt mandatorisch-autoritativ den Vater: „Wie kannst Du ein Land führen und einem Volk den Wohlstand bringen, wenn Du nur einem einzigen Buch von Lenin glaubst, der genauso ein Weißer ist wie ein Franzose oder Amerikaner?“ Und sie geht noch weiter und fordert ihn auf, bei der Familie zu bleiben und der KP den Laufpass zu geben: Sie beschwert sich. Sie habe nur den Atlantik und den Pazifik überquert. „Aber ich kann dich nicht haben. Ich hätte nie eine Chance. Soll ich dich entführen als letzten Ausweg?“

Das lässt den in Geheimverbindungen sehr bewanderten Vater sehr hellhörig und fast misstrauisch gegenüber der eigenen Tochter werden. Die Bedingungen für diesen Ausflug des Funktionärs der KP Vietnams zu seiner Rest-Familie Weihnachten 1977 sind klar. Er darf den Tag über mit seiner Frau und seinen Töchtern verbringen, aber muss zur Nacht in die Botschaft der Volksrepublik Vietnam. Andererseits  fürchtet man die Kontrolle über ihn zu verlieren. Sie als CIA-Agentin und als Vietnamesin, die ausdrücklich ihrem Land unter dem Kommunistischen Regime den Rücken gekehrt hat, ist überzeugt: „Die Liebe der Eltern zu uns, ihren Kindern, blieb immer unsterblich, bedingungslos und selbstlos…Wir standen  vor der Wahl, die Komplexität der Familiengeschichte zu akzeptieren – ohne zu verstehen – oder eine Mauer innerhalb der Familiengeschichte hochzuziehen“.

Die Mutter hat auf Ihre Art genau so viel Verständnis für die Bedürfnisse der Familie, sie hat ihren eigenen Mann zwanzig Jahre oder mehr nicht gesehen. Jetzt fragt die eigene Tochter sie, ob sie dem Vater aus Wahrheitsliebe eröffnen soll, dass sie für den CIA arbeitet??! Sie will und darf ihm nichts verschweigen als Tochter. Aber die eigene Mutter meint: „Du musst dich nicht schuldig fühlen, weil Du gegen seine Partei arbeitest. Dein Engagement wird seinen Kredit nicht verspielen, aber die Beziehung zu ihm beenden“. Deshalb sagt die Mutter eben: Der Vater will das gar nicht wissen. Was er nicht weiß, kann ihn nicht verletzen. „Ich weiß, ich kann Dich nicht zwingen deine Arbeit für die CIA zu beenden. Genau so kann ich ihn nicht dazu zwingen, der KP den Laufpass zu geben“.

Sie feiern in London auf diese Art zusammen Weihnachten, ein Bild zeigt die Familie, den Vater, die Mutter und den Sohn von Jung Krall. Immer ist die Familie im Vordergrund, auch wenn der Vater weiter ohne Unterlaß für die Partei der Kommunisten arbeitet, die Tochter für den CIA. „Wenn er die Wahrheit kennt“, der Vater, werde er seine Meinung ändern und bei seiner Familie bleiben, meint die Autorin. Die Mutter dazu ganz realistisch: Vater würde dich als seine Tochter verleugnen und den Unschuldsengel spielen, um das Gesicht gegenüber der Partei zu wahren.

Es kommen klare Erkenntnisse einer Exil-Vietnamesin. Wir haben nichts für die Verteidigung von Süd-Vietnam getan und deswegen Südvietnam verloren. Die Autorin führte später einen  langen Kampf gegen die Geheimdienstbehörde, um das Buch zu veröffentlichen. Der Vater von Yung Krall starb darüber. Dang Quang Mink (so der Name des Vaters) war ein hoher Diplomat Vietnams, bis er 1986 an einem Schlaganfall starb. Im Anhang gibt es einen Brief des Anwalts, der diese doppelte Loyalität beinhaltet, die aber nicht in Frage stellt, dass das Buch nur eine Botschaft hat, ganz gleich was in und um Vietnam geschieht, was zwischen Nord- und Süd- Vietnamesen passiert: Es bleiben die Familienbande die eigentlichen, die diese Menschen für immer zusammenhält. Das ist der äußerste Kontrapunkt zu dem europäischen Bewußtsein, in dem es nach Karl Kraus witzigen, aber dennoch wahrhaftigen Aphorismus heisst: „Die schlimmste Bande ist  immer noch die Familienbande!“

Ein gewaltig interessantes Buch, das sich zu Teilen wie ein Roman liest. Es enthält viel Aufklärung über vietnamesische Mentalität und vietnamesisches Leben.Yung Krall (Yung ist vietnamesisch, Krall ist der Name des US-amerikanischen Mannes) ist eine Vietnamesin, die in den beiden Kriegen (Befreiungskrieg gegen die französische Kolonialmacht bis 1954, dann der Krieg von,Nord- und Süd-Vietnam, oder USA gegen die UdSSR bis 1975) in Vietnam aufgewachsen ist. Sie hat den Schnitt zwischen dem Norden und dem Süden in der eigenen Familie durchlebt und durchlitten, wie ihre Mutter.

Das Buch enthält alle Phasen des Lebens dieser Familie in den aufregenden Ereignissen der vietnamesischen Zeitgeschichte, dass man eigentlich dieses Buch lesen muss, um etwas über das Leben in dem gebeutelten Vietnam zu erfahren. Die Arroganz der französischen Kolonisatoren ist ein erster Hauptteil. Man begegnet als Vietnamese den Franzosen danach nie wieder entspannt und ohne Vorurteile. Als sie einmal später in einem französischen Konsulat in Hawai ein Visum für Frankreich beantragt, wird sie direkt gegen ihre sonstige Gewohnheit frech, weil die Konsulatsbeamte von ihr fordert, sie müsse französisch mit ihr reden. Das zeigt, wie tief die Erregungen über die Arroganz französischer Kolonialkultur gehen.

Die Familie ist nicht nur gespalten, die Mutter lebt mit der Tochter im Süden, in Saigon, der Vater hat eine führende Stelle bei den Vietcong, wird später Botschafter der kommunistischen Sozialistischen Volksrepublik Nord-Vietnam in Moskau. Die Familie im Süden ist auch nicht so glücklich über die Art, wie die Führer Süd-Vietnams, die katholische Familie von Ngo Dinh Diem und die Generäle das Land verwalten. Sie beschreibt die Ereignisse um die Tet-Offensive 1968, die Offensive des Vietcong, die blitzartig klarmachte, wie brüchig die Herrschaftsverhältnisse im Süden Vietnams und besonders in Saigon waren.

„Das ganze Land versank im Chaos. Radio Saigon unterbrach mehrfach sein Programm“, gab aber keine Informationen über den Zustand des Staatspräsidenten Nguyen Van Thieu. Man vermutete, man habe ihn ermordet. Doch dann trat Vizepräsident Ky vor das Mikrophon und erklärte seinen Landsleuten, dass das kein Staatsstreich, sondern ein Angriff des Vietcong und der Nordvietnamesen auf Süd-Vietnam sei. Man war damals kritisch gegenüber Thieu. „Vietnam war ein wunderschönes Land und verdiente es nicht, von schlechten Politikern regiert zu werden“. Das Chaos war so groß, dass man die Bevölkerung aufforderte, so viel Wasser wie möglich auf Vorrat zu kaufen.

Am 20. März 1968 endete die Dienstzeit von John Krall, dem Navy Piloten. Er verspricht Yung die Ehe in Kalifornien, aber für sie ist es nicht einfach, alle Dokumente zusammen zu bekommen. Die Bürokratie ist total korrupt. Für alles muss sie Bestechungsgeld zahlen, und zwar nicht knapp. Das Regierungssystem erweist sich als morsch und verfault. Sie lässt sich in der Basilika Notre Dame in Saigon taufen. Das Billigste ist noch unter den Dokumenten das US-Visum, das sie für 3 US-Dollar bekommt. In den USA heiraten sie dann.

In den USA  hört sie dann von einer Anti-Kriegs- und Anti-Atomkonferenz in Tokyo, die einberufen wird von den kommunistischen Kadern einer japanischen Partei, bei der auch eine Delegation aus dem nunmehr kommunistischen Vietnam anwesend und unter denen auch der Vater der Autorin ist. Yung besteigt einfach ein Flugzeug nach Tokyo. Es geling ihr, trotz der Tag und Nacht anhaltenden Beschattung der hohen Funktionäre aus Vietnam ihren Vater zu sehen, mehrmals sogar. Es wird schon bei diesem Besuch deutlich, wie hier zwei Welten aufeinanderprallen, die für die Vietnamesen gleich wichtig sind: die der Familie, die eine heilige Realität ist und die der Politik und Ideologie.

Das Buch lebt davon, dass die Autorin Tagebuch geführt haben muss, weil sie sich an vieles aus den Begegnungen und Gesprächen erinnert. Nach 21 Jahren sieht sie zum ersten Mal den Vater wieder an der Tür eines Hotels in Tokyo: „Oh God“ sagt er, als er sie sieht, und nimmt sie für eine unendlich lange Zeit in die Arme und fängt auch gleich an leise zu weinen. Sie erinnert sich, dass es die gleiche Berührung und Empfindung war, die sie in Erinnerung hatte, als sie neun Jahre alt war. Hai Van, der eigene Bruder, wurde im Krieg als Pilot getötet. Der Vater hatte gehört, dass es die Amerikaner waren. Sie, die Tochter, erzählt ihm alles über die Familie. Sie spürt, wie stark die Heimatverbundenheit bei ihr hochkommt. „I am still homesick. I still dream about Vietnam“. Sie berichtet, dass niemand den eigenen Bruder getötet habe, er war eben ein Soldat und ein Pilot in der Süd-Vietnamesischen Air Force.

Sie erzählt von der Mutter, und ihr Vater, der hohe Funktionär, hat sie nicht als Klassenfeind im Auge, sondern nur als seine frühere Frau. Sich zu treffen wäre möglich, wenn die Mutter, seine Frau mal nach Paris käme, weil er dort in den nächsten Monaten sein müsse.

Sie zitiert aus einem Brief, den sie als junges Mädchen 1972 aus Moskau von ihrem Vater bekommen hat, als der dort Botschafter des Erzfeindes, der Vietcong war. Sie spürt Verletzungen, sie spürt, dass sie diese neuaufgebaute Beziehung zu ihrem geliebten Vater nicht durch zu viel Reden über für beide unangenehme Fragen gefährden soll. Es gelingt ihr, den Vater zum Schmuggeln einer Nachricht an den eigenen Bruder, der damals mit dem Vater in die Kommunistische Welt entschwunden ist, zu überreden. Bevor Yung Krall die Genehmigungshürden für das Visum für die Mutter und sie für Paris überwindet, wird sie mit einem „Case Officer“ des CIA zusammengebracht, den sie in der Folgezeit wie jemanden aus der eigenen Familie behandelt. Sie wird auch ganz normal überwältigt von der Aufgabe, etwas für die USA zu tun. So kommt sie in das altehrwürdige Gebäude, in dem Madame Binh den Friedensvertrag unterzeichnete und auch in den Raum, in dem alle Dokumente liegen.

Es kommt zu dem gemeinsamen Besuch in Paris mit der Mutter. Die Mutter bekommt gleich heraus, dass der Vater sie auch aus Propagandazwecken gern mit sich in das kommunistisch beherrschte Vietnam mitnehmen würde. Wegen der Familie könnte sich die Mutter das vorstellen, aber wegen der Kommunisten doch nicht. Immer geschieht das unter dem Cover des CIA, der Case Officer ist mit der Autorin nach Paris gefahren.

Wie stark der Konflikt zwischen Familie und dem Teufel sein kann, kommt während dieses Paris Besuches sehr deutlich heraus. Sie war neidisch auf ihren älteren Bruder Khoi, der mit dem Vater gegangen war. Und für eine Sekunde konnte sie sich vorstellen, dass sie mit ihrem Vater zurückgehen würde, dann würde sie eben die antikommunistischen Gesänge nicht mehr singen. Das aber dachte sie auch nur für eine Sekunde. „Aber ich wäre niemals in der Lage, meine Seele dem Teufel zu verkaufen, selbst unter der Bedingung, dass das der Preis wäre, mit dem ich meinen Vater kaufen könnte“.

Immer geht es um die Weitergeltung der Familienbande.Diese drei Wochen, die sie mit der Vietnam-kommunistischen Kommunität in Paris verlebte, war die längste Berührung mit dem Gegner in der „Spionage Welt“. Sie bekam Einblick in die verschiedenen Einheiten der Riesen-Geheimdienstwelt. Auch der Urlaub wird vom CIA mitbestimmt. Sie kann dann nämlich nach Kopenhagen fliegen, um dort Urlaub mit ihrem Case Officer zu machen. Aber sie weiß auch, dass Ihr Begleiter sie im Dunkeln darüber lässt, was die Organisation mit den Informationen macht, die sie ihnen bringt. Alles wird aber zum CIA Hauptquartier gebracht. Jede Entscheidung ebenfalls wird dort in Langley getroffen. Das Buch gefällt durch die Überzeugung, dass das auszeichnend Wertvolle der vietnamesischen Lebenskultur sich nicht einem kurzfristigen Besuch noch einem journalistischen Reporterinstinkt erschließt.

Sie spricht mit einem Botschaftsangehörigen in Paris über die beiden Vietnamesen Gruppen, die es immer noch in den USA gibt: die Flüchtlinge, auch die Boat-Flüchtlinge und diejenigen, die mit dem kommunistischen Vietnam sympathisieren. Diese beiden Gruppen halten zwanzig Jahre nach den Ereignissen an ihrem tiefen Hass gegeneinander fest. Es kommt zu einer  typischen Wendung in dem Gespräch, als der Botschafter die Anfrage des berühmten AP-Journalisten Peter Arnett erwähnt, der eine Erlaubnis braucht, nach Vietnam zu reisen, um von dort zu berichten. Die Autorin wusste, dass er während des Krieges in Saigon war. Also müsse er dann ja Vietnam ganz gut kennen, bemerkt der Diplomat.Darauf die Autorin, die damit auch das aufwendige Buch zusammenfasst: Wie kann ein weißer Mann unser Land wirklich sehr gut kennen, wenn er nur die Oberfläche des Landes während des 30jährigen Kriegs berührt hat? „Die meisten schauen nur nach dem, was die US-amerikanischen Steuerzahler hören wollen. Andere wollen nur rührselige Geschichten hören. Einige schreiben über den faszinierenden Krieg, das hässliche Leiden der Menschen, die Armut, die unterprivilegierten Vietnamesen. Viele Amerikaner wissen nur von dem Vietnam aus den Bildern, die die Reporter ihnen gegeben haben. Viele meinen, Vietnam sei ein unendlicher Dschungel voll mit Krankheiten, Moskitos, Sümpfen und schlechtem Wasser. Und sie meinen Vietnamesen seien Bettler, Prostituierte, Schuhputzer-Jungen und unschuldigen Bauern in befreiten Zonen. Sie müssen gar nicht seinen politischen Hintergrund wissen, er schiebt das alles für seine Vorurteile beiseite, wenn er seine Presse-Karte empfängt“.

Das ist zwischen vielen ergreifenden Geschichten ein wirklicher Ausbruch der Autorin. Ich habe viel über Vietnam und seine bezaubernden Seiten, aber auch über die Gefährdungen des vietnamesischen Volkes gelernt. Dank dem Verlag, der dieses instruktive Buch über eines der Schlüsselländer der Zeitgeschichte jetzt zum 35. Jahrestag des Auslaufens des Rettungsschiffes CAP ANAMUR am 9. August 2014 in Hamburg in einer guten deutschen Übersetzung auf den Markt bringt. Man erfährt in winzigen Fußnoten, dass die vietnamesischen Frühlingsrollen sich wie vieles andere von den chinesischen unterscheiden, dadurch, dass sie mit Reispapierumwickelt werden…

Quelle

Rupert Neudeck 2014Grünhelme 2014

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