‹ Zurück zur Übersicht
HERDER Verlag

© HERDER Verlag

Wir letzten Kinder Ostpreußens

Zeugen einer vergessenen Generation. Ein vergessenes Kapitel der Zeitgeschichte: Vertreibung von 13 Mio Menschen. Zu einem bewegenden Buch von Freya Klier. Von Rupert Neudeck

 

Zeugen einer vergessenen Generation – nennt Freya Klier ihr Erinnerungsbuch, das jemanden wie den Rezensenten ins Herz trifft, gehört er ja auch zu diesen noch so gerade Zeugen, auch wenn er nicht aus Ost-, sondern aus Westpreußen kam. Die Autorin ist nicht mehr Zeitzeuge, sie hat sieben Kinder-schicksale verfolgt und recherchiert, die sich in den dunkelsten und bittersten Stunden deutscher Geschichte auf den Weg mit ihren Eltern nach Westen machten. Diese sieben Kinder kommen alle bis auf einen Jungen nicht durch. Ein Mädchen wird kurz vor dem Verhungern von einer Estin gerettet, die anderen mussten für drei Jahre im sowjetisch besetzten Ostpreußen eingeschlossen bleiben.

Es ist unvorstellbar, was damals die Mütter und Frauen geleistet haben, die mit den Kindern versuchten, aus der Hölle eines Kessels oder dem Bombenterror der britisch-kanadischen Luftwaffe auszuweichen und die die Flucht versuchten. Am 21. Oktober 1944 geschah das Vergewaltigungs-Verbrechen der Roten Armee in Nemmersdorf, die Nazi Propagandamaschine war noch in der Lage, dem deutschen Volk abzufordern, der Angriffsmaschine der alliierten Armeen hinhaltend Widerstand zu leisten.

Am 26. August 1944 gibt es einen Bombenangriff auf Königsberg, was im Westen Deutschlands ein tägliches und nächtliches Los war, im fernen Ostpreußen aber eher selten geschah. Aber dieses Mal war es furchtbar. Die Sowjets hätten die Stadt in den Jahren vorher mehrfach angegriffen. Das war nichts gegen die Wucht, mit der nun britisch kanadische Bombenstaffeln Königsberg heimsuchen. “Wie ein halbes Jahr später in Dresden, verbrennen auch in Königsberg Menschen in und vor ihren Häusern. Manche springen als lebende Fackeln in den Fluß Pregel“. Doch nur wer noch rechtzeitig die Innenstadt verließ, hatte eine Chance zu überleben. Karla Borowczyk – eine der sieben Familien, die das Buch vorstellt – hat mit ihrer Familie überlebt, aber das Haus wurde zerstört, die Häuser in Mittelhufen, auf der Hermannallee 14.

Während der Bombardierung saß Ellen Browarzyk mit fünf kleinen Kindern und dem 16 jährigen Sohne ihres verstorbenen Mannes aus erster Ehe im Keller. Der Kommunist Arthur Browarzyk hatte die Russen sehnsüchtig erwartet. Er erlag vor dem letzten Angriff der Roten Armee einem Herzversagen. Der Familie gelang es aus dem Flammenmeer Königsberg herauszukommen. Ein Schiff brachte die Ausgebombten bis nach Pillau. Die Browarzyks sollten sich von Pillau aus nach Rauschen, in ein Seebad, 50 km entfernt aufmachen. Was damals mit Kleinkindern in dem bitter kalten Winter 44/45 geschah, steht in keinem Geschichtsbuch. Monika, die jüngste, war acht Monate alt, bekam eine Lungenentzündung und starb. Die Fenster wurden in der Nacht durch eine Bombe herausgerissen, die kleine Monika lag am nächsten Morgen erfroren in ihrem Kinderbettchen. Die damals 6jährige Karla wird von der Autorin zitiert: „Wenn ich an unsere Mutter denke, fange ich immer an zu heulen.“ Sie habe den Verlust ihrer Kinder gar nicht verkraftet. Es war ja neben der winzigen Monika, und der sechsjährigen Karla noch  der achtjährige Peter, die zweijährige Roswitha, der 4jährige Frank und der jugendliche Dieter. Mit all diesen ging sie nach Königsberg zurück.

In den Kellern Königsbergs harrte auch die siebenjährige Doris Meyer mit ihrer Mutter und ihrer Oma aus. Es sind alle Frauen und alle Kinder da, die Männer-Väter sind irgendwo an der Front und bald auch in irgendeiner Gefangenschaft. Die Mutter der Doris hatte erfahren, dass ihr Bruder einen Kopfschuss abbekam und im Lazarett gelandet war. Der Bruder ermuntert die Frau sofort mit den Kindern zu fliehen.

Diese Geschichten der letzten sieben Kinder von Königsberg verbindet die Autorin zu einem Klagegesang, der etwas von einer geschichtlichen Tragödie enthält. Man kann als Leser oft nicht weiterlesen, weil der Schmerz einer Mutter, die von fünf Kindern zwei verloren hat und in Gefahr ist, ein drittes zu verlieren, so groß ist,  dass man lesend innehalten muss. In einer ganz schnörkellosen Berichtssprache, die aus den aufgezeichneten und protokollierten Zeugnissen der Überlebenden besteht, entsteht eine würdevolle Wiedergutmachungssaga für diejenigen, die damals in dem Jammertal von Ostpreußen nicht überlebt und denen, die es dann gegen jede menschliche Erwartung doch geschafft haben. Dass man über bestimmte Ereignisse nur den Verstand verlieren kann, wird dem Leser zugemutet. Es sind Ereignisse, die der Überlebende nicht mehr einzuordnen vermag, denn das Ausmaß des Grauens und Entsetzens ist heute nicht mehr fassbar.

Das alles Überragende ist die Angst vor immer neuen Vergewaltigungsorgien, die die Frauen und die älteren Mädchen nicht aus den Kellerräumen herausgehen lässt. Das zweite ist der maßlose Hunger, der dazu führt, dass die eigenen Kinder zu „Wolfskindern“ werden. Der 12jährige Günter Kopp sammelt winzige Kartoffelschalen von den Feldern der Kolchose, um überhaupt etwas im Magen zu haben. Er beschließt, im benachbarten Litauen auf Nahrungssuche zu gehen. Er ging jetzt mit seinem Rucksack nach Litauen hinein, immer für vierzehn Tage. Sieben Tag nach Litauen rein und sieben Tage wieder zurück. „Und dann hatte ich immer etwas im Rucksack, damit mein Mutter, meine kleiner Bruder und meine Tante etwas zu essen abbekamen. Ich war so eine Art Wolfskind“.

In der Familie Possienke verlieren die drei kleinen Mädchen ihre Mutter durch Typhus; die älteste, die achtjährige Edith wird in die Rolle der Ersatzmutter gesteckt. Auch sie werden zu „Wolfskindern“. Sie beobachteten in den Soldatenquartieren, wie Frauen da gekocht haben. „Wir sahen, wie sie Kartoffelschalen auf den Misthaufen warfen und angefaulte Möhrenstückchen. Und wenn die Frauen weggingen, sind wir drei aus unseren Verstecken gekrochen, zum Misthaufen hinübergeschlichen und haben die Kartoffelschalen gierig in uns reingestopft“. Die drei kommen in das Lager für elternlose Kinder in Schlossberg. Irgendwann wird die älteste Schwester krank „Es scheint, als falle der Körper der 8jährigen aus einer monatelangen Verantwortung für ihre kleineren Geschwister. Edith kommt in ein Lazarett, das sie noch mal besuchen dürfen“.

Diese Stelle beschreibt die Apokalypse in dem  ganzen Elend. Die kleineren Schwestern kommen in das Lazarett. Edith lag in einem Saal voller Metallbetten. Sie lag auf dem Metallgestell, auf dem eine Zeitung ausgebreitet war. Über die Zeitung krochen die Läuse. „Wir haben unsere Schwester angeschaut und nur noch geweint. Edith war völlig abgemagert, sie saß da auf der Zeitung, rüttelte an den Eisenstäben des Bettes und sagte ununterbrochen, mit schleppender Stimme: ‚Das sag ich alles meinem Papa. Das sag ich alles meinem Papa‘. Sie erkannte uns nicht mehr. Unsere Schwester hatte den Verstand verloren“. Als die beiden Schwestern Brigitte und Irmgard sie noch mal besuchen wollen, wird ihnen barsch gesagt: „Da braucht ihr nicht mehr hinzugehen, die ist schon lange tot.“

Es gibt die Geschichte des 16jährigen Michael Wieck, der gemeint hat, der gelbe Judenstern würde ihm etwas helfen. Aber weit gefehlt. Die russischen Soldaten sagen ihm und der Familie ins Gesicht: alle Juden seien umgebracht worden, wer überlebt hat, habe mit den Nazis kooperiert. Michael bekommt eine doppelte Lungenentzündung samt Rippenfellentzündung.

Fast täglich kommt seine Mutter mit Schwarzmarkterträgen, eine Scheibe Brot, etwas Pferdefett, eine Konserve und wiederum etwas Brot. Die Mitter verwandelte sich von der Geigerin in eine Kleinhändlerin, die auf dem Schwarzmarkt aufpassen muss, um als Deutsche nicht so aufzufallen. Die dreijährige Roswitha Anne Browarzyck wird dank eines Engels, der 45jährigen Estin Selma Avik überleben, die sich gerade mit ihrer jugendlichen Tochter in Königsberg aufhält. Sie war wegen eines jungen Polen nach Königsberg gekommen, in den sie sich verliebt hatte. In Königsberg angekommen, liefen hungrige Kinder hinter den Frauen her, weil ein Brot aus deren Tasche lugte. Schlagartig wurde ihnen bewusst, wie groß die Not ist. Selma Avik nimmt die kleine Roswitha Browarzyck einfach mit und bringt sie durch die Hungerzeit und macht sie zu ihrer Adoptivtochter.

Nicht allein die materielle Versorgung und Wiedergutmachung konnte die Traumata der Vertriebenen ganz ausheilen. Es sind insgesamt 15 Mio., die aus den Ostgebieten vertrieben und verjagt wurden. Vier Mio. strandeten in der DDR. Die Autorin hat mit dem Buch eine Wiedergutmachung betrieben. Denn die Vertriebenen waren immer Störmasse, sie störten die Prozesse der Entspannungspolitik mit den Herkunftsländern im Osten. Das einzige, was dem Buch fehlt, ist eine Differenzierung der wirklich oft ganz plump nationalistischen Revanchisten Verbände und einzelner kleiner landsmannschaftlicher Verbände, denen es nach dem grausigen Geschehen nur um die Versöhnung mit den immerwährenden Nachbarn ging. Da waren die Sudentendeutsche Ackermann Gemeinde wie auch der traditionsreiche Verband der Danziger Katholiken, die sich seit 1947 auf der Jugendburg Gemen immer mit Polen aus Danzig/Gdansk getroffen haben.

Am Schluss versuchen sie alle noch mal nach der Wende und dem Fall der Mauer, als Sehnsuchtstouristen in ihre Heimat zu kommen. Manche halten die Konfrontation mit den Gräueln der Zeit zum Kriegsende nicht mehr aus. Michael Wieck ist verblüfft, dass inmitten der völlig zerstörten Stadt das jüdische Waisenhaus erhalten geblieben ist. Er kommt sich bei seinem Besuch vor wie in einem Fellini Film: Er isst im Hotel für 3 DM eine mehrgängige Mahlzeit, vor dem Hotel betteln Kinder, winken Prostituierte. Er sieht, wie russische Bewohner am Kant-Denkmal und am Kant-Grab Blumen niederlegen. Wieck wird interviewt und gefragt, was geschehen muss, dass aus Kaliningrad wieder eine Kulturstadt wird? Auch Freya Klier sagt es am Schluss Ihres Buches: Durch die vielen Besucher sei Bewegung in die westliche russische Enklave gekommen: „Immanuel Kant wird plötzlich als Brücke zwischen Ost und West, Gestern und Heute entdeckt“. Was Freya Klier nur andeutet: der Name der Stadt sollte geändert werden, nicht der Status. Kalinin war einer der Verbrecher in der Runde um den Hauptverbrecher Stalin.

Man kann das Buch nicht zur Seite legen, ohne noch einmal dankbar all den Müttern und Frauen zu danken und sie zu ehren, die damals ohne ihre Männer und ohne die Väter in den Familien das Überleben unter grauenvollen Bedingungen organisierten. Metaphysisch kann man diese Situation von unschuldigen Kindern, die die Opfer dieser Katastrophe wurden, von den Millionen Frauen und Mädchen nicht verstehen, die die Vergewaltigungsopfer der ausgepowerten Soldaten der Roten Armee wurden. Man möchte sich wünschen, das Andenken dieser Elendszeit würde in uns und den nächsten Generationen noch lange anhalten, um Krieg und Vertreibung, ethnische Säuberung und Diskriminierung auf Dauer aus der Menschheit zu verbannen.

Freya Klier „Wir letzten Kinder Ostpreußens: Zeugen einer vergessenen Generation“

Quelle

Rupert Neudeck 2015 Grünhelme 2015

Diese Meldung teilen

‹ Zurück zur Übersicht

Das könnte Sie auch interessieren