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Zur Verfassung Europas

„Warum diese Schreckstarre?“ Träume oder Prognosen von Jürgen Habermas über die Europagesellschaft, und dann auch Weltgesellschaft. Von Rupert Neudeck

„Mit Verlaub, das klingt ziemlich illusionär!“, erwidert der Interviewer des deutschen Intelligenzblattes Die ZEIT in dem Interview, das Jürgen Habermas nach der Lehmann Pleite gab. Aber nach dem Interview und der Lektüre des Buches über die „Verfassung Europas“ kann man als Leser nur sagen: Das was da als „Träume eines Geistersehers“ abqualifiziert wird, ist eigentlich höchste und realistische Notwendigkeit.

Das Buch beschreibt in immer wieder erneuerter Parallelisierung zur geschichtlichen Entwicklung der USA die stehengebliebene Torso-Gestalt Europas. Der Autor hilft uns abgebrochenen Zeitungs- und Leitartikellesern auf die Sprünge. Er belegt, wie diese politische Union und die Wirtschaftsregierung eben nicht wirklich weiter gekommen sind, und wir deshalb in der Patsche stecken. Immer wieder zitiert der Autor die Nacht des 8. auf den 9. Mai 2010, in der Angela Merkel von der Gewalt der Finanzwelt eingeholt wurde. Heute – 2011 – beobachten wir eine ökonomische Verschiebung der weltpolitischen Gewichte, „die inmitten der Finanzkrise von 2008 zur Erweiterung des Clubs der führenden Industrienationen zur Runde der G20 genötigt“ habe.

Der Autor ist wohl der einzige europäische Philosoph, der folgenlose akademische Gerechtigkeitsdiskussionen nicht beklagt, sondern sie gern „innerhalb eines Weltparlaments geführt“ haben will. Ein Weltparlament, das auf Grund seiner Zusammensetzung aus Staaten und Bürgern „dem gerechtigkeitsrelevanten Zeitfaktor Rechnung tragen würde“, Das zweite utopische Moment, das sich im Denken von Habermas als sehr realistisch erweist, sind die Menschenrechte, in denen sich die Menschenwürde wiedereinsetzt. Diese Menschenrechte bilden insofern eine realistische Utopie, als sie nicht länger die sozialutopisch ausgemalten Bilder eines kollektiven Glücks vorgaukeln, sondern das „ideale Ziel einer gerechten Gesellschaft in den Institutionen der Verfassungsstaaten selbst verankern“.

Die Institutionalisierung der Menschenrechte habe „Fortschritte gemacht – mit dem Verfahren der Individualbeschwerde, mit den periodischen Berichten über die Menschenrechtssituation in einzelnen Staaten, vor allem mit der Einrichtung internationaler Gerichte wie des europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, verschiedener Kriegsverbrechertribunale und des Internationalen Strafgerichtshofes“.

Die Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit der Menschenrechte konfrontiere uns – so Habermas besser als jeder amtierende Politiker – mit der „Herausforderung, realistisch zu denken und zu handeln, ohne den utopischen Impuls zu verraten“. Und noch eindeutiger geht dieser gar nicht so akademische Essay weiter, wenn er den „Kampf um die Durchsetzung der Menschenrechte“ fordert, nicht weniger in „unseren eigenen Ländern als z.B. in China, in Afrika, oder in Russland, in Bosnien oder im Kosovo“. Und noch imperativischer, noch verbindlicher klingt es so – wie man es gern von den Tribünen unserer Parlamente mit legislativer und exekutiver Macht hören möchte: „Jede Abschiebung eines Asylbewerbers hinter den verschlossenen Türen eines Flughafens, jedes kenternde Schiff mit Armutsflüchtlingen auf der Mittelmeerroute zwischen Libyen und der Insel Lampedusa, jeder Schuss am Grenzzaun zu Mexiko ist eine weitere beunruhigende Frage an die Bürger des Westens“. Mit der ersten Menschenrechtserklärung sei ein Standard gesetzt worden, der „die Flüchtlinge, die ins Elend Gestürzten, die Ausgeschlossenen, Beleidigten und Erniedrigten inspirieren und ihnen das Bewusstsein geben kann, dass Ihr Leiden nicht den Charakter eines Naturschicksals“ hat.

Noch schärfer verlangt er: Mit der Verkündung dieser Menschenrechtscharta sei eine „Rechtspflicht zur Realisierung überschießender moralischer Gehalte erzeugt worden, die sich in das Gedächtnis der Menschheit eingegraben“ habe.

Habermas möchte die Europäische Union als einen erstentscheidenden Schritt auf dem Weg zu einer Weltgesellschaft begreifen, die auch politisch institutionelle Fundamente hat. Und als Vorbild dient da immer wieder die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.

Die US-Verfassung macht in Artikel V. „Amendments“, Änderung und Zusätze von der Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit der Staaten abhängig. Dagegen macht die Änderung der Europäischen Verträge immer noch die Einstimmigkeit unter den Mitgliedern zur Voraussetzung.

Ich habe mich an mehreren Stellen gefragt, wie Habermas mit den Phänomenen des opportunistischen und populistischen Chauvinismus fertig wird, der mal staatsmännisch, mal rabaukenhaft daher kommt.

Der Name Vaclav Klaus fällt mir immer wieder ein, wenn ich lese, dass in Zukunft den nationalen Völkern bewusst sein sollte, wie tief die Entscheidungen der EU in ihren Alltag eingreifen. Wie steht es mit retardierenden Bewegungen, die in den Niederlanden und in Österreich, in Belgien wie in Dänemark doch immer noch eine Versuchung darstellen können!

Aber das sind nicht Fragen, die etwas andeuten, was der Essay offen gelassen hat. Im Gegenteil, man denkt das in seiner eigenen Geschichte und Region weiter, was Habermas gern schon transnational entwirft. Habermas selbst wünscht sich eine politische Elite, die offensiv die „europäischen Karten auf den Tisch legt und die Bevölkerung, also uns alle über das Verhältnis von kurzfristigen Kosten und wahrem Nutzen, also die „historische Bedeutung des europäischen Projektes“ aufklärten.

Und da kommt die ganze Aufklärung, der Optimismus der französischen Revolution noch mal durch: Diese Politiker, Mitglieder der politischen Elite Europas, müssten „ihre Angst vor demoskopischen Stimmungslagen überwinden  und auf die Überzeugungskraft guter Argumente vertrauen“. Ja, aber wer wird das schon tun? Vor solchen Schritten „zucken alle beteiligten Regierungen, zucken einstweilen alle politischen Parteien zurück“. Da kommt ungenannt der tschechische Präsident Vaclav Klaus mit seinem Buch „Europa?!“ zu einer Erwähnung, ohne dass in diesem Essay der Name die Würde des Zitats erfährt. Viele (?) biederten sich stattdessen an einen Populismus an, den sie mit der Vernebelung eines komplexen und ungeliebten Themas selbst herangezüchtet haben.

Der sonst so vornehm-vorsichtige Philosoph nimmt an solchen Stellen – wie man umgangssprachlich sagt – kein Blatt vor den Mund: Die Politik scheine an der Schwelle von der ökonomischen zur politischen Einigung Europas „den Atem anzuhalten und den Kopf einzuziehen. Warum diese Schreckstarre?“

Quelle

Rupert Neudeck 2011Grünhelme 2011

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