Zwischen Wildnis und Freizeitpark
Müssen die Alpen von Walt Disney neu formatiert werden? Zu einer Streitschrift, die gegen den herrschenden Trend angeht. Von Rupert Neudeck
Das Buch beschreibt den Zwiespalt des Europäers, der gern Urlaub hat und dabei etwas erleben will. Er will die Welt erleben, aber nicht immer in der faszinierenden Form, wie die Natur und die Wildnis oder religiös gesprochen, die Schöpfung sie uns anbietet. Das ist etwas, was in den Hintergrund geraten ist, obwohl es ein Bedürfnis sein könnte, aber unter modernen Bedingungen verschüttet ist.
Der moderne Tourismus ist verkommen zu einem Besucher-Massen-Arrangement, wo an Plätzen, die die Tourismus-Industrie als Wunder der Natur und der Baukunst ausmacht, Massen von Menschen vorbeirasen lässt, die zwar Spaß haben, aber nicht an der originalen Schönheit, sondern dafür, dass sie sie fotografieren können.
Die Alpen könnten so in den nächsten Jahren zu einem hedonistischen fun-Freizeitpark werden und als Naturereignis verschwinden.
Werner Bätzing hat dazu eine andere Vorstellung. Der Freizeitpark schafft keine positive Zukunft für die Alpen. Sie würden dadurch den Freizeitinteressen der europäischen Zentren unterworfen, „hätten keine Eigenständigkeit mehr und würden eine Scheinwelt, ein städtisches Zerrbild leben müssen“. Zugleich würde die Gier nach permanenten Steigerungen aller Attraktionen zahllose Umweltproblemen schaffen, und es würde sich schnell, so der Autor die Grundsatzfrage stellen: „Muss die unendliche Steigerung des Tourismus in einem begrenzten Raum wie den Alpen mit ihrer sprunghaften Naturdynamik nicht zur wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen Selbstzerstörung führen?“
Die Frage stellen, heißt sie positiv zu beantworten. Zumal, wenn man das Erlebnis der Alpen in der Sicht einer Gesellschaft, die von einer Freizeitindustrie noch nicht besoffen war, dazu nimmt. Während man im 19. Jahrhundert nur die eigene Abreise und die Übernachtungen kaufte, bei den Freizeiterlebnissen jedoch selbst aktiv blieb und sie selbst erlebte, kauft man heute komplette Fertigangebote mit Erlebnisgarantie, „bei denen man nicht selbst aktiv werden muss“. Heute gelte das eigene Erleben gegenüber professionell entwickelten Erlebnisangeboten als minderwertig. Und auch die so gekauften Erlebnisse müssen ständig intensiver werden, was dann irgendwann zum „Erlebnis Burn-out“ führen muss.
Man findet dieses Problem, das der Autor anspricht nicht nur in den Alpen, man findet es im Schwarzwald auch in der Toskana, deren Wälder in den Bergen verkommen zu Urwäldern, dabei waren sie schon mal Kulturwälder und Kulturlandschaften. Die kleinen Orte mit wunderbaren, aber natürlich geschlossenen Kirchen in der norditalienischen Toskana bieten nur noch den Schatten ihrer Selbst dar. Sie haben oft nicht mal einen Tante Emma Laden oder eine Kneipe, Wege die es mal gab, sind von der Natur so überwuchert, dass man sie nicht mehr wiederentdecken kann.
Der Autor trennt mir zu manichäisch die Welten der Kultur und des eigenen Erlebens vom Geld. Geld kann ja auch für Erlebnisplätze, in denen es nicht nach dem Muster der Wald t Disney Parks zugeht, gebraucht werden.
Das Buch beginnt mit elf Thesen zur aktuellen Situation der Alpen: „Die Alpen verwildern“, als Natur und Umwelt und als Wirtschaft und Kultur. Der zweite Teil gilt den aktuellen Perspektiven für eine Zukunft der Alpen: Die neoliberale Perspektive, die hedonistische Perspektive. Dazu die radikal naturschützerische Alternative: Alles muss Wildnis werden. Schließlich die sog. „realistische“ Perspektive, die einfach behauptet, dass die Alpen den Anschluss an die Moderne verpasst haben und ihn jetzt schleunigst nachholen müssen. Dem setzt der Autor eine vernünftige „unzeitgemäße Perspektive“ entgegen: „Die Alpen als dezentraler Lebens und Wirtschaftsraum“.
Die einzelnen Kapitel sind eigentlich Variationen in immer neuen Beispielen, um zu erklären, dass das moderne brachiale Wirtschaftswachstum in der Topographie der Alpenregion keine Chance haben wird. Es geht auch immer um dezentrale und damit auch traditionelle Lösungen, oder, wie der Autor sagt: „Einzelfalllösungen“. Jede Alp hatte früher (und hat partiell vielleicht noch) ihre eigene Alpsatzung, die sich inhaltlich von allen anderen Alpsatzungen unterschied, weil sie genau auf diese eine Alp und nicht auf die anderen zugeschnitten war.
Der Autor führt etwas ein, was in der Geschichte der Wirtschaft und Moderne bisher unüblich und nicht erlaubt war. Die standardisierte Umsetzung wirtschaftlicher Ziele ist in den Alpen nicht zu machen. „Der Mensch hat die sprunghaften Naturprozesse nie im Griff“, und er kann daher seine Produktionsprozesse nie vollständig kontrollieren. Deshalb modifiziert er je nach Situation, denn er muss immer damit rechnen, dass etwas Unvorhergesehenes passiert. Das sei bei Standardprogrammen nicht vorgesehen, die „blind“ ablaufen müssen.
Die Alpen brauchen deshalb alpenspezifische Einzelfalllösungen, um die Kulturlandschaft auch ökologisch zu erhalten und zu stabilisieren. Deshalb sollte es in Europa besondere „Orte guten Lebens“ geben. Die Wirtschaft und der Tourismus müssen sich anpassen. Eine am maximalen Ertrag ausgerichtete Wirtschaft in hier gar nicht möglich und würde in einer Art Selbstuzerstörung enden.
Die Streitschrift krankt ein wenig auch an der akademischen Semantik. Das führt dann auch zu gewagten Schlussfolgerungen. Zum Beispiel dem Postulat, das in dem Alpenraum die permanente Steigerung des Erlebnisangebots noch möglich sei und dass über kurz oder lang ein riesiger Erlebnis Burn-out drohe. Das scheint mir subjektiv wünschenswert, aber die Streitschrift versucht einen besonderen Weg vorzuschlagen für die Alpen: Aber andere werden ganz andere Lösungen und realistische Autobahnen und Bergbahnen vorsehen und in Kürze aufziehen und sich um dieses Postulat des Autors nicht scheren. Man muss solche Vorschläge und Postulate etwas bescheidener einsetzen. Der Erlebnis Burn-out droht leider noch lange nicht.
Werner Bätzing „Zwischen Wildnis und Freizeitpark“