Boden: Der letzte Dreck?
Den Boden unter uns treten wir mit Füßen und nennen ihn oft abwertend Dreck. Dabei leben wir alle von den 20 bis 30 Zentimetern dieses „letzten Drecks“. Ohne fruchtbare Böden keine Zivilisation: kein Wein und kein sauberes Wasser, kein Brot und keine Butter, kein Mehl und kein Mahl, kein Rasen und keine Rose, keine Flora und keine Fauna. Doch die Böden befinden sich in einer schleichenden Krise. Es ist die am meisten unterschätzte Krise unserer Zeit. Der Boden ist das vergessene Medium – auch in der Umweltpolitik.
Der Zustand von Böden verschlechtert sich in einem langen Zeitraum und wird oft erst sichtbar, wenn es zu spät ist. Täglich produzieren wir zurzeit weltweit 50 000 Hektar Wüste zusätzlich und täglich verlieren wir 86 Millionen Tonnen fruchtbaren Boden durch Erosion, hauptsächlich Wind- und Wassererosion. Auch deshalb rotten wir pro Tag bis zu 150 Tier- und Pflanzenarten aus. Dies sind Berechnungen der UNO. Nie zuvor hat eine Generation von Menschen dem Schöpfer so gnadenlos ins Handwerk gepfuscht und Evolution rückwärts gespielt wie wir dies tun. Boden wird verschmutzt, versiegelt und geht verloren.
Böden, hauptsächlich in den armen Ländern, sind zudem zunehmend Spekulationsobjekte. Zwar lebt der Boden und ist – aller Spekulation und aller menschlicher Kurzsichtigkeit zum Trotz – ein wahres Multitalent. Doch wenn wir ihn nicht vollends unter den Füßen verlieren wollen, müssen wir handeln. Wir können eine neue Bodenpolitik und eine neue Bodenethik lernen. Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor allem Leben“ gilt auch gegenüber unserer Lebensbasis Boden, die in geradezu unvorstellbarer Vielfalt und Fülle voller Leben ist.
Wer weiß schon, dass eine Handvoll Boden mehr Lebewesen enthält, als Menschen auf der Erde leben? Dass Böden doppelt so viel CO2 speichern wie die globale Vegetation und die Atmosphäre zusammen? Wer ahnt, dass allein in den letzten 20 Jahren ein Viertel der gesamten Bodenfläche unseres Planeten zu Wüsten oder überbaut wurde? Oder dass in den letzten fünf Jahren ausländische Investoren eine Fläche von 20 Millionen Hektar in den Ländern des armen Südens gepachtet oder gekauft haben? Landraub ist die neueste Form von Kolonialismus. Wie aber machen wir wieder Boden gut?
Der Boden ist ein Tausendsassa: Er speichert Treibhausgase, ist ein Wasserreservoir, ernährt uns und bietet Lebensraum für Pflanzen und Tiere, er baut Schadstoffe ab, produziert Biomasse, ist Lagerstätte für Rohstoffe und beinhaltet das Archiv der Natur- und Kulturgeschichte. Die Geschichte der Menschheit ist auch die Geschichte ihrer Böden.
Im „Zweiten Bodenschutzbericht“ der Bundesregierung von 2009 steht: „Es gibt viele Gründe dafür, dass der Zustand der Böden in der Öffentlichkeit weit weniger bekannt ist als z.B. der von Pflanzen und Tieren oder von Luft und Wasser. Böden sind meist bedeckt. Man sieht allenfalls zeitweise ihre Oberflächen, und ihre genauen Eigenschaften lassen sich nur mit aufwändigen Untersuchungen erfassen.“ Böden sind träge reagierende Systeme: Positive wie negative Veränderungen werden erst mit erheblicher Verzögerung deutlich.
Der Indianerhäuptling Seattle sagte in seiner berühmten Rede 1854: „Ihr müsst Eure Kinder lehren, dass der Boden unter ihren Füßen die Asche unserer Großväter ist. Damit sie unser Land achten, erzählt ihnen, dass die Erde erfüllt ist von den Seelen unserer Vorfahren. Wenn die Menschen auf die Erde spucken, bespeien sie sich selbst. Denn das wissen wir, die Erde gehört nicht den Menschen, der Mensch gehört zur Erde. Alles ist miteinander verbunden, wie das Blut, das eine Familie vereint. Was die Erde befällt, befällt auch die Söhne der Erde.“
Schon vor 500 Jahren bemängelte Leo Leonardo da Vinci: „Wir wissen mehr über die Bewegung der Himmelsgestirne als über den Boden unter unseren Füßen.“
Heute brauchen wir mehr denn je ein neues Boden-Bewusstsein.
Dem Boden bereiten wir vielerlei Probleme
Herkömmliche Landwirtschaft überdüngt ihn und traktiert ihn mit viel zu schweren Maschinen. Aus Mülldeponien sickern Gifte ein. Klimawandel und Bevölkerungswachstum sind eine zusätzliche Belastung. Auf demselben Boden unseres Planeten lebten bei der Geburt meines Vaters noch eine Milliarde Menschen, bei meiner Geburt 1938 waren es zwei Milliarden. Als unsere Kinder geboren wurden, waren es fünf Milliarden, heute sind wir sieben, 2050 werden wir 10 Milliarden Menschen sein. Immer mehr Straßen, Häuser und Autobahnen nehmen Tieren und Pflanzen den Lebensraum.
- Wie kann und muss eine neue Bodenpolitik aussehen?
- Wie finden wir einen Weg zu einem neuen Boden-Bewusstsein und einer neuen Boden-Kultur?
Böden sind eine wertvolle Ressource, die allen gehört. In Schule, Forschung und Politik braucht ihr Schutz einen neuen Stellenwert, um einer Ernährungskatastrophe zu entgehen. Wie also lässt sich Bodenbesitz zum Wohle aller nutzen?
Boden scheint so selbstverständlich, dass wir kaum darüber nachdenken. Nur wenige Menschen können oder wollen sich vorstellen, dass der Verlust an fruchtbaren Böden zur Überlebensfrage der Menschheit werden kann. Biologisch arbeitende Landwirte sind aktive Bodenschützer. Ökobauern in Indien haben mir erzählt, dass sie doppelte Ernte einfahren, seit ihre Böden durch fürsorglichen Umgang wieder fruchtbarer geworden sind. Doch die Umstellung hat viele Jahre gedauert. Weltweit werden noch immer ausreichend genug Lebensmittel produziert. Das Problem ist, die Nahrung an diejenigen zu verteilen, die hungern oder keinen Zugang zu fruchtbarem Ackerland haben oder zu wenig Geld, um sich Saatgut zu kaufen.
Unsere Erde könnte 13 Milliarden Menschen gut ernähren, hat die UNO errechnet. Es ist also kein Naturgesetz, dass Menschen hungern oder verhungern. „Alles ist eine Frage der Produktionsweise“, sagt der US- Agrarwissenschaftler Professor David Montgomery. Und die nachhaltigste Produktionsweise unserer Lebens-Mittel ist nun mal die ökologische Landwirtschaft. Montgomery nennt historische Beispiele für nachhaltigen Umgang mit dem Boden: „Holländer trotzten dem Meer Land ab und gewannen dadurch die besten Böden. Auf Hangterrassen der Inka findet man Böden mit hohem Humus- und Nährstoffgehalt. Die Werte liegen deutlich über denjenigen nicht terrassierter benachbarter Flächen. Die indianische Bevölkerung Amazoniens verwandelte die für ihre Nährstoffarmut berühmt-berüchtigten Urwaldböden in ausgesprochen fruchtbare, humusreiche Böden.
Das Rezept hierzu war so einfach wie zufällig: Sie entsorgten die beim Kochen anfallende Holzkohle in den Latrinen, die sich am Rande der Siedlungen befanden. Und natürlich ist auch China ein berühmtes Beispiel, mit seiner Rückführung menschlicher Abfälle in die Agrarökosysteme. Was all diese Beispiele gemeinsam haben, ist der Schutz des Bodens vor Erosion und die Zufuhr organischer Substanz.“
Kann vielleicht auch die Gentechnik helfen, die Böden fruchtbarer zu machen? Montgomery ist skeptisch: „Das gentechnisch veränderte Saatgut, das als Wunderwaffe gegen den Hunger propagiert wird, ist für Kleinbauern nicht erschwinglich. Übrigens ist Gentechnik keine wirklich neue Idee.
Seit dem Altertum haben Bauern Tiere und Pflanzen mit bestimmten Eigenschaften gezüchtet, beispielsweise, um die Erträge zu erhöhen. Doch die moderne Variante, die selbst vor der Verpflanzung artfremder Gene nicht haltmacht, zieht drastische, ungewollte Konsequenzen nach sich. So können Gene, welche die neuen Patentpflanzen gezielt unfruchtbar machen, auf gewöhnliche Bestände übergehen. Ich weiß nicht, ob wir hier von einer Lösung sprechen sollten.“
Montgomery ist überzeugt, dass sich Intensivanbau und ökologische Landwirtschaft nicht widersprechen müssen. Eine intelligente ökologische Bodenreform kann die Fruchtbarkeit der Böden erhalten oder wieder herstellen. Dafür bietet der ökologische Landbau viele Techniken wie zum Beispiel: minimale schonende Bodenbearbeitung, Direktsaat oder die Zufuhr organischer Substanzen.
Was immer wir in Zukunft essen werden, fruchtbarer Boden ist die überlebensnotwendige Basis unserer Landwirtschaft. Die EU betrieb lange Agrarpolitik nach dem Motto: Bauern brauchen wir nicht – wir haben ja Aldi. Auch deshalb erleben wir seit Jahrzehnten das größte Bauernsterben der Geschichte.
Die Ökologisierung der EU-Landwirtschaft kommt nur langsam voran. Dabei ist es hohe Zeit für eine neue Bodenhaftung. Ökologische Landwirtschaft oder zumindest integrierte Landwirtschaft, die schon über 50 Prozent der deutschen Bauern betreiben, ist bester vorsorgender Bodenschutz. Zurzeit bieten nur zwei deutsche Hochschulen, Osnabrück und Stuttgart-Hohenheim, Bodenwissenschaften als eigenständigen Studiengang an.
Bodenbewusstsein wird aber nur gestärkt, wenn Schulen und Hochschulen, Politik und die Landwirtschaft selbst, aber auch bewusste Konsumenten und Konsumentinnen das Thema als Überlebensthema verstehen lernen. Wir müssen den Blick auf den Boden unter unseren Füßen richten. Der „Dreck“ dort bleibt die Basis jeder Zivilisation und Kultur.
Der Verlust an fruchtbaren Böden war historisch oft der Beginn des Niedergangs einer ganzen Kultur, zum Beispiel beim Niedergang des Römischen Reiches. Der Erosion der Böden im gesamten Mittelmeerraum folgte jene der Zivilisation.
Und was kann der Einzelne zur Rettung der Böden tun? Bewusst einkaufen und gärtnern. Das hilft dem Boden. Gartenarbeit kann emotional, körperlich, materiell und politisch viel bewirken.
Quelle
© Franz Alt 2011