Diagnose Klimakrise
Mehr Hitzetote, tropische Krankheitserreger in Mitteleuropa, Extremwetter wird härter und häufiger. Der neue Lancet-Bericht zu Klima und Gesundheit in Europa zeigt aber auch: Das Thema kommt langsam in der Politik an.
„Der Klimawandel ist kein weit in der Zukunft liegendes theoretisches Szenario: Er ist da, und er ist tödlich“, mahnt der europäische „Lancet Countdown“-Bericht. In der ein oder anderen Formulierung greifen diesen Satz am Donnerstagvormittag alle Vortragenden in der alten Aula der Universität Heidelberg auf.
Schon der erste Bericht im medizinischen Fachjournal The Lancet zu dem Querschnittsthema Klima und Gesundheit habe 2015 prognostiziert, dass die Erderwärmung die größte Gefahr für die weltweite Gesundheit im 21. Jahrhundert darstelle, erinnert Joacim Rocklöv. Der schwedische Epidemiologe war federführend an dem aktuellen Bericht beteiligt.
Neben Rocklöv haben 70 weitere Forscher:innen aus zahlreichen Instituten und Disziplinen an dem Bericht gearbeitet. Die Uni Heidelberg – die maßgeblich an dem Bericht beteiligt war – hat gemeinsam mit der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG) und dem Centre for Planetary Health Policy (CPHP) zur Vorstellung des Berichts eingeladen.
Die Erwärmung schreitet in Europa doppelt so schnell voran wie im weltweiten Durchschnitt – das sei eine Gefahr für die Gesundheit der gesamten europäischen Bevölkerung und bedeute einen „unnötigen Verlust an Menschenleben“, heißt es im Bericht.
Eine der unmittelbarsten Gesundheitsfolgen des Klimawandels ist ein Anstieg der Hitzebelastung. Analysen bringen für das Jahr 2022 europaweit über 60.000 Todesfälle mit Hitzebelastung in Verbindung. Die hitzebedingte Sterblichkeitsrate habe sich innerhalb der vergangenen zwei Dekaden um 17,2 Todesfälle pro 100.000 Einwohner:innen erhöht, zitiert Rocklöv aus dem neuen Lancet-Bericht.
Es gebe allerdings keine genaue medizinische Diagnose und dementsprechend auch keine verlässlichen Daten, führt der studierte Mathematiker aus. Stattdessen müssten ausgeklügelte epidemiologische Methoden angewandt werden, um zu errechnen, wie viele Todesfälle tatsächlich auf Hitze zurückzuführen sind.
Leishmaniose breitet sich aus
Auch Krankheitserreger fühlen sich unter den veränderten Klimabedingungen zunehmend wohler in Europa. Ein Ausbruch des vor allem in tropischen Regionen vorkommenden West-Nil-Virus ist heute im Vergleich zu den 1950er Jahren um über 250 Prozent wahrscheinlicher geworden. Die das gefährliche Dengue-Fieber übertragende Tigermücke kommt xmittlerweile entlang des Rheins vor.
Während Anfang der 2000er nur etwas mehr als die Hälfte Europas als mögliches Ausbruchsgebiet für Leishmaniose galt, sind es mittlerweile zwei Drittel. Die einzelligen Erreger der Art Leishmania donovani werden von Sandmücken übertragen.
Angelina Taylor, Leiterin der Geschäftsstelle für Klimawandel und Gesundheit des Robert-Koch-Instituts (RKI), ergänzt in ihrer Rede: „Dieser Trend zeichnet sich in Deutschland auch für FSME ab.“ Wies das RKI im Jahr 2007 noch 129 Risiko-Landkreise aus, waren es 2022 schon 175 Kreise – eine Ausweitung besonders Richtung Norden.
Extremwetterereignisse sind ein weiterer Faktor, der die Gesundheit über den gesamten Kontinent in Mitleidenschaft zieht. In den letzten 40 Jahren hat zum Beispiel die Gefahr von Waldbränden deutlich zugenommen.
Diese Zusammenhänge zwischen Klimawandel und Gesundheit sind schon seit Jahren bekannt. Alarmierend ist die Geschwindigkeit, mit der die vielfältigen Gesundheitsgefahren zunehmen.
Die Anpassungsstrategien müssten dabei Klimagerechtigkeitsaspekte stärker berücksichtigen, schreiben die Autor:innen. Denn es leiden nicht alle Bevölkerungsgruppen gleich unter den Folgen. Ethnische Minderheiten, Migrant:innen, indigene sowie ärmere Bevölkerungsgruppen sind stärker von klimabedingten Gesundheitsfolgen betroffen.
Für ärmere Haushalte ist zum Beispiel laut Bericht die Gefahr „erheblich höher“, unter Nahrungsknappheit aufgrund der Klimakrise zu leiden.
Der im Fachjournal The Lancet veröffentlichte Europa-Bericht ist der zweite seiner Art. Seit 2015 erscheint jährlich ein Lancet-Bericht über weltweite Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit. Vor zwei Jahren erschien der erste Bericht mit Fokus auf Europa.
EU-Parlament schweigt zu klimabedingten Gesundheitsgefahren
In diesem Jahr haben Wissenschaftler:innen aus 43 europäischen Forschungsinstituten in dem Gemeinschaftsprojekt 42 Indikatoren untersucht. Der Bericht befasst sich dabei nicht nur mit den Folgen des Klimawandels.
Die Treibhausgasemissionen in Europa sind pro Kopf laut Bericht sechsmal so hoch wie in Afrika und dreimal so hoch wie in Lateinamerika. „Das Tempo, mit dem sich die europäischen Länder in Richtung netto null Emissionen bewegen, ist nach wie vor völlig unzureichend“, stellt der Report fest. Europa sei auf einem Kurs, mit dem CO2-Neutralität erst im Jahr 2100 zu erwarten sei.
Joacim Rocklöv lobt in seinem Vortrag, dass Investitionen in erneuerbare Energien in den vergangenen Jahren stetig zugenommen haben und heute deutlich über den fossilen Investitionen liegen. Allerdings müssten sich die nachhaltigen Investitionen bis 2030 verdreifachen und die Investitionen in fossile Geschäfte um mehr als die Hälfte zurückgefahren werden, um in die Spur zu den europäischen Klimazielen zu kommen.
Auch politisch lässt sich ein zaghaftes Umsteuern erkennen. Auf dem Weltklimagipfel COP 28 im vergangenen Dezember in Dubai wurde der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Gesundheit zum ersten Mal auf die weltpolitische Bühne gehoben. 124 Länder unterschrieben eine als historisch gefeierte „Deklaration über Klima und Gesundheit“, darunter die EU, Deutschland und China.
Das ist ein wichtiges Zeichen, aber nicht viel mehr. Die Deklaration ist eine freiwillige Absichtserklärung ohne rechtliche Verbindlichkeit. Fossile Energien tauchen in dem Dokument auch nicht namentlich auf.
Dass der Nexus Klima–Gesundheit auch in der EU-Politik noch nicht allzu weit oben auf der Agenda steht, macht der Bericht ebenfalls deutlich. Die Forscher:innen haben alle im Europäischen Parlament gehaltenen Reden zwischen 2014 und 2022 analysiert.
Von den über 264.000 Redebeiträgen thematisierten ganze zehn den Zusammenhang zwischen Klimawandel und Gesundheit. Davon wiederum griffen nur zwei Reden die ungleiche Verteilung von Gesundheitsrisiken auf.
Es gebe also einige Lichtblicke, schließt Joacim Rocklöv seinen Vortrag, aber vor allem jede Menge Nachholbedarf.
Quelle
Der Bericht wurde von der Redaktion „klimareporter.de“ (David Zauner) 2024 verfasst – der Artikel darf nicht ohne Genehmigung (post@klimareporter.de) weiterverbreitet werden!