Die Gefahr, die aus der Kälte kommt
Seit Jahren warnen Forschende vor Keimen in den auftauenden Permafrostböden. Vielleicht hört man ihnen jetzt besser zu. Von Jürg Müller-Muralt
«Corona und der Klimawandel haben kaum etwas gemein»: So lautet der Titel eines Kommentars in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) von Anfang April 2020. Natürlich: Man kann den von verschiedenen Städten ausgerufenen Klimanotstand mit dem gegenwärtigen Pandemie-Notstand nicht vergleichen. Trotzdem besteht ein innerer Zusammenhang zwischen der Corona-Pandemie und dem ökologischen Zustand der Erde. «Neue Krankheiten wie Covid-19 entstehen, weil das Ökosystem aus dem Gleichgewicht ist»: So leitet – ebenfalls – die NZZ in der Printausgabe ein Interview mit Gertraud Schüpbach ein, Professorin für Veterinary Public Health an der Universität Bern.
Verschwundene Virenbarrieren
Die Wochenzeitung (WOZ) macht auf die nicht mehr existenten Virenbarrieren aufmerksam und verweist auf den US-amerikanischen Virologen Nathan Wolfe und sein Buch «Virus. Die Wiederkehr der Seuchen». Wenn immer mehr Menschen in Regionen mit einer mikrobiellen Vielfalt Wildtiere jagen würden, kämen zwangsläufig viele mit neuen Erregern in Kontakt: «Erreger, die den ganzen Planeten verheeren können.» Die Armut in diesen Gegenden werde «sehr unmittelbar zu unser aller Problem», konstatiert Wolfe. Die Pandemien, so schreibt die WOZ, «haben also viel mit der Globalisierung zu tun, die riesige Ökosysteme fundamental verändert hat. Die Welt wurde mit Strassen und Flugplätzen überzogen, viele natürliche Virenbarrieren sind durch die beschleunigte Mobilität verschwunden. Die Viren kennen keine Grenzen, weder geografisch noch bezüglich Arten. Sie mutieren ständig und nehmen, was gerade passt.»
Der Berner Klimaforscher Heinz Wanner wiederum macht auf Infosperber darauf aufmerksam, dass die Corona-Pandemie Ausdruck einer ökologischen Verbundkrise sei. Wanner zählt gleich mehrere Gründe auf: Klimawandel, Luft- und Gewässerverschmutzung, Monokulturen, Wohndichte und enge Käfighaltung von Tieren.
Uralte Viren und Bakterien
Wenig geschrieben wird derzeit jedoch über Pandemie-Gefahren ganz anderen Ursprungs. Und da die Wahrscheinlichkeit verheerender Seuchen in der jüngsten Vergangenheit unterschätzt worden ist, wie die aktuelle Krise zeigt, lohnt es sich, einmal mehr auf eine schlummernde Gefahr aufmerksam zu machen – auf eine Gefahr, die sehr direkt mit der Klimaerwärmung zu tun hat. Immer wieder hat es in den vergangenen Jahren warnende Stimmen aus der Wissenschaft gegeben, die sich mit der Frage beschäftigten: Was würde passieren, wenn wir plötzlich tödlichen Bakterien und Viren ausgesetzt wären, die es seit Tausenden von Jahren nicht mehr gibt oder denen wir noch nie begegnet sind? «Vielleicht sind wir dabei, dies herauszufinden. Der Klimawandel lässt Permafrostböden schmelzen, die seit Tausenden von Jahren gefroren sind, und wenn die Böden schmelzen, setzen sie uralte Viren und Bakterien frei, die wieder zum Leben erwachen», heisst es beispielsweise in einem Beitrag der britischen BBC.
«Die unbewohnbare Erde»
Einer, der diese Gefahr eindrücklich dokumentiert hat, ist David Wallace-Wells, stellvertretender Chefredaktor des New York Magazine. Unter dem Titel «Die unbewohnbare Erde» hat er 2017 einen Artikel (siehe Infosperber-Beitrag) und 2019 ein gleichnamiges Buch publiziert. Der Autor beschreibt darin die schlimmstmöglichen Folgen der Klimaerwärmung. Er hat mit Dutzenden von Klimatologen und anderen Wissenschaftlern Interviews geführt und Hunderte von Studien zum Klimawandel verarbeitet. Das Resultat ist ein Text, der mit Informationen und Szenarien aufwartet, die wohl die meisten Menschen bisher in dieser Art kaum durchdacht haben: «Ganz egal, wie gut informiert Sie sind, ausreichend alarmiert sind Sie nicht», schreibt der Autor.
Zu den Gefahren des auftauenden Permafrosts hält Wallace-Wells fest, dass im arktischen Eis Krankheiten steckten, die seit Millionen Jahren nicht mehr in der Luft zirkulieren – einige davon gingen schon um, bevor es Menschen gab, die ihnen hätten ausgesetzt sein können. «Das bedeutet, dass unser Immunsystem keine Ahnung hätte, wie es diese prähistorischen Krankheiten abwehren sollte, sollten sie wieder freigesetzt werden.»
Viele Unbekannte beim Klimawandel
Doch nicht nur in der Arktis lauern Gefahren. Furchterregende Keime sind im Permafrost auch aus jüngerer Zeit gespeichert. In Alaska haben Forscher bereits Überreste der Grippeviren von 1918 (Spanische Grippe) gefunden, die Millionen Menschen infizierten und die bis zu 100 Millionen Menschen das Leben kostete.
In Sibirien wurde 2016 ein Fall bekannt, bei dem sich zuerst Rentiere und dann Menschen mit Milzbrand infizierten. Laut Professor Warwick F. Vincent von der Laval University in Quebec ist eines der bemerkenswertesten Beispiele für solche Krankheitserreger das Bakterium Anthrax. Auf der Halbinsel Jamal in der russischen Arktis starben durch die Infektion mit Anthrax-Bakterien und Sporen etwa 2600 Rentiere. Polarjournal.ch schreibt, der Erreger sei wahrscheinlich im warmen Sommer durch das Auftauen einer alten Grabstätte mit Rentierkadavern freigesetzt worden; 36 Rentierhirten hätten sich ebenfalls infiziert. «Es ist nur ein weiteres Beispiel dafür, dass es so viele Unbekannte im Zusammenhang mit dem Klimawandel gibt. Wir wissen, dass wir am Rande grosser Veränderungen im Norden stehen und das ist ein weiterer Prozess, den wir sehr genau beobachten sollten».
Infektionen durch ausgestorbene Tierarten?
In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 11.09.2016 sagte der Infektiologe Christoph Stephan vom Universitätsklinikum Frankfurt: «Infektionen durch Sporen bildende Bakterien haben im Tierreich eine grosse Bedeutung. Wenn zum Beispiel Milzbrand-Erreger auftauen und an die Oberfläche gelangen, können sie zunächst Tiere befallen, die dann auch Menschen anstecken – etwa wenn sich die Sporen im Fell festsetzen und von Menschen, die Kontakt mit den Tieren haben, eingeatmet werden. Daraus kann sich dann ein Lungenmilzbrand entwickeln.» Es sei denkbar, dass selbst Sporen längst ausgestorbener Tierarten – etwa Mammuts – Infektionen auslösen könnten; denn Sporen seien «überaus widerstandsfähig und können in gefrorenen Böden über einen sehr langen Zeitraum überleben.»
Sorgen um globale Gesundheitsrisiken
Das Polarjournal.ch berichtete am 22.11.2019 von einer Konferenz mit 55 Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen in Hannover im November 2019, bei der es um das bessere Verständnis der globalen Gesundheitsrisiken durch arktische Mikroorganismen ging. «Wir wissen, dass der Permafrost auftaut und dass die Menschen zunehmend in Kontakt kommen mit tauendem Permafrost, entweder direkt durch Aktivitäten an Land wie Jagd und Forschung oder indirekt durch Wildtiere. Und wir wissen, dass Permafrost eine Vielzahl von Viren und Bakterien enthält. Und wir wissen auch, dass nicht alle Viren und Bakterien gesundheitsgefährdend für Tiere und Menschen sind, und es ist wichtig, die gefährlichen vom breiteren Mikrobiom, den anderen Mikroorganismen, unterscheiden zu können», wird Joshua Glasser zitiert, Aussenbeauftragter des Büros für Ozeane und internationale Umwelt- und Wissenschaftsangelegenheiten des US-Aussenministeriums.
Indikatoren genau beobachten
Für Susan Kutz, Wildtierärztin und Professorin an der University of Calgary, ist es äusserst wichtig, diese Veränderungen richtig überwachen zu können. Sie beschäftigt sich seit den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts mit den Auswirkungen des Klimawandels auf die Krankheiten unter arktischen Wildtieren. Im Polarjournal.ch wird sie wie folgt zitiert: «Ungewöhnliche oder pathogene Keime, die aus dem Permafrost oder Eis auftauen, könnten die ersten Indikatoren für eine Veränderung der Tierwelt und der Gesundheit der Tiere sein. Da die Wildtiere über die gesamte Landschaft verteilt sind und auch dort weiden, wo Permafrost auftaut, könnten sie als Indikator und Frühwarnung für das Geschehen da draussen fungieren, bevor Keime Auswirkungen auf Menschen haben.»
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, so schreibt Polarjournal.ch, seien «angesichts der bereits realen und noch lauernden Gefahren für Mensch und Tier infolge des Auftauens der Permafrostböden» sehr besorgt. Die Konferenz von Hannover habe auch gezeigt, dass die Möglichkeiten derzeit unzureichend seien, die Gefahren zu bewältigen; deshalb sei schnelles Handeln angezeigt.
Unbekannte Viren aus der Tibet-Hochebene
Doch nicht nur in Alaska, in der Arktis und im sibirischen Permafrost verbergen sich potenziell gefährliche Keime. Auch im Eis der Tibet-Hochebene froren vor Jahrtausenden verschiedene unbekannte Viren ein. Virologen durchsuchten jüngst Eisbohrkerne, welche Klimaforscher 2015 aus dem Eis des Tibetplateaus gezogen hatten. Die Viren aus dem alten Tibeteis gehörten dabei zu 33 unterschiedlichen Virenpopulationen. Bloss vier dieser Viruspopulationen waren den Forschern bereits bekannt, den Rest definierten sie nach der genetischen Ausstattung als bisher unbekannte Virusgattungen, wie das Spektrum der Wissenschaft am 20.01.2020 schreibt. Auch das Wissenschaftsmagazin befürchtet, dass die vermehrt auftauenden Böden und Eisflächen eine bisher unbekannte Infektionsgefahr für Mensch und Tier darstellen. Denn schon seit einiger Zeit «häufen sich nicht nur anekdotische Hinweise darauf, dass in Russland verschiedene Krankheiten wie Tollwut, Hirnhautentzündungen und Zoonosen (von Tier zu Mensch und umgekehrt übertragbare Krankheiten, J.M.) zugenommen haben, seit Erreger vermehrt aus auftauenden Böden auftauchen».
Die Klimaerwärmung birgt also wohl noch weit mehr Gefahren als ansteigende Meeresspiegel, verheerende Stürme, Hitzesommer und Dürreperioden.
Quelle
Der Bericht wurde von
der Redaktion „INFOsperber.ch“ (Jürg Müller-Muralt) 2020 verfasst –
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