Gletscher: „Ewiges Eis“ auf dem Rückzug?
Der jährliche Gletscherbericht des Alpenvereins informiert umfassend über die Entwicklung der heimischen Gletscher
Die aktuellen Daten und Messwerte aus dem Gletscherbericht belegen einen durchschnittlichen Rückzug der Eisriesen um 11 Meter Länge. Diese Abschwächung des mittleren Rückzugs im Vergleich zum Vorjahr (15 Meter) bedeutet aber keinesfalls eine Trendwende. Der Gletscherschwund setzt sich kontinuierlich fort, wenn auch in der aktuellen Messperiode ein wenig gebremst. Die größte Längenänderung wurde in der Venedigergruppe gemessen, wo sich das Schlatenkees (Tirol) um 54,5 Meter Länge zurückzog. Der unaufhaltsame Gletscherrückgang führt auch vor Augen, wie dringend der Schutz der hochalpinen Flächen neu definiert werden muss.
Verluste geringer als im Vorjahr, trotzdem anhaltender Rückzug
Das Gletscherhaushaltsjahr 2020/21 verlief erneut zu Ungunsten der Eisriesen im österreichischen Alpenraum. Von 91 vermessenen Gletschern zogen sich 84 zurück (92,3 %), nur sieben sind mit einer Längenänderung von weniger als einem Meter stationär geblieben (7,7 %). Diese Zahlen sind somit nahezu identisch mit den Werten aus dem Vorjahr, als von 92 Gletschern 85 im Vorstoß (92,4 %) und sieben stationär (7,6 %) waren.
„Die Bedingungen für die Gletscher waren in der aktuellen Messperiode günstiger als in den Vorjahren, da der Hochsommer in Summe annähernd normal temperiert verlief. Jedoch ist auch eine annähernd dem 30jährigen Mittel entsprechende Sommertemperatur so hoch, dass sie die Fortsetzung des herrschenden Gletscherschwundes bewirkt“, analysieren die Leiter des Alpenvereins-Gletschermessdienstes, Gerhard Liebund Andreas Kellerer-Pirklbauer vom Institut für Geographie und Raumforschung an der Universität Graz.
Wichtig für die Gletscher waren vor allem die deutlich zu kühlen Monate April und Mai, welche die starke sommerliche Abschmelzung verzögerten. Dank dieser Verzögerung wurde die Schneedecke bis zum Ende des Sommers zwar großflächig, aber nicht zur Gänze abgeschmolzen.
Drastischer Gletscherschwund währt fort
Die Längenänderungen spiegeln allerdings nicht die Massen- und Flächenverluste sowie die Abnahme der Bewegungsdynamik der Eisriesen – wie die Bewegungsmessungen des Alpenvereins an der Pasterze und am Hintereisferner zeigen – wider. Der verringerte Rückzug der meisten Gletscher ist nur mit dem bis in den Sommer hineinwirkenden Abschmelzschutz der winterlichen Schneedecke zu erklären.
Dieser Effekt zeigt sich auch bei den Höhenänderungen, die an Österreichs größtem Gletscher, der Pasterze am Großglockner, gemessen wurden. Die Verluste sind zwar geringer als im Vorjahr, doch am anhaltenden Rückzug ändert dies nichts. Die Pasterze hat sich in dieser Messperiode um 42,7 Meter Länge zurückgezogen. Das schon seit Jahren im Zerfall befindliche Schlatenkees wies mit 54,5 Metern den höchsten Rückzugswert in Österreich auf, das ebenso in der Venedigergruppe gelegene Untersulzbachkees mit 35,3 Metern den dritthöchsten Wert.
Einzig der tief gelegene, südalpine Eiskargletscher in den Karnischen Alpen hob sich einmal mehr von allen anderen Gletschern in Österreich ab. Reichlich Schneefall im Winter und zusätzlicher Lawinenschnee ließen den Gletscher zum weitaus überwiegenden Teil seiner Fläche schneebedeckt bleiben, weshalb der Gletscher auch ohne Vorliegen von Längenänderungswerten als stationär eingestuft wurde.
„Obwohl der aktuelle durchschnittliche Rückzug von 11 Metern der drittniederste der letzten 20 Jahre war, kann dies in Anbetracht der übrigen Beobachtungen kaum als „Verschnaufpause“ für die Gletscher gewertet werden. Vielmehr fügt sich auch dieses Jahr nahtlos in die herrschende Periode drastischen Gletscherschwundes ein, an deren zukünftiger Fortdauer nicht zu zweifeln ist“, so die Analyse der Leiter des Messdienstes Lieb und Kellerer-Pirklbauer.
Alpenverein fordert Schutz von hochalpinen Regionen
Der Alpenverein als Naturschutzorganisation setzt sich seit Jahren für den Gletscherschutz und den Schutz der umliegenden hochalpinen Regionen ein. Nicht zuletzt gehen mit der Gletscherschmelze auch wertvolle Daten verloren. „Im Gletschereis finden sich mehr Informationen über das Klima der Vergangenheit als in jedem Buch. Als wäre der stetige Verlust dieses ‚Geo-Archivs‘ nicht schon schlimm genug müssen wir uns auch die unangenehmen Folgen für die Menschen vor Auge führen“, mahnt Ingrid Hayek, Vizepräsidentin des Österreichischen Alpenvereins. „Das rasche globale Abschmelzen der Gletscher trägt einen wesentlichen Anteil zum Anstieg des Meeresspiegels, Vermurungen und Überschwemmungen inklusive. Die fehlenden natürlichen Wasserspeicher im Gebirge führen in weiterer Folge zu regionaler Trockenheit“, so Hayek.
Im Dienste der Eisriesen
Im aktuellen Berichtsjahr 2020/2021 waren für den Alpenverein 23 ehrenamtliche Gletschermesser mit 42 Begleitpersonen unter der Leitung von Gerhard Lieb und Andreas Kellerer-Pirklbauer vom Institut für Geographie und Raumforschung an der Universität Graz im Einsatz.
Welche Herausforderungen und alpinen Hochleistungsaufgaben ein Mess-Einsatz für den Gletschermessdienst mit sich bringt, kann auch Günther Groß berichten, der im vergangenen Jahr sein 50-jähriges Jubiläum als ehrenamtlicher Gletschermesser feierte. Er beschreibt die Veränderungen auf zwei der großen Gletscher auf der österreichischen Seite der Silvretta, dem Vermunt- und dem Ochsentaler Gletscher, seit Beginn seiner Messarbeiten vor über 50 Jahren und heute als groß.
„Die Gletscher waren damals noch mächtig, hell und energetisch hoch aufgeladen. Ihre Fließstruktur klar sichtbar. Das Gletscherzungenende war aufgewölbt und sowohl Vorfeld als auch Ende des Gletschers waren auch bei Schneebedeckung klar erkennbar. Heute sind Gletscher hingegen meist schlaff daliegende, von Schuttablagerungen bedeckte und schwindende Reste jenes ursprünglich imposanten Phänomens“, weiß Groß.
Rückzug und Veränderungen als Herausforderung
Schwierig für die Arbeit der Gletschermesser sind vor allem Verluste von Messmarken, etwa durch Lawinen oder Geröll, die Suche nach dem oft unter Schutt verdeckten Eis und vor allem der starke Rückzug der Gletscher mit Bildung von Toteisfeldern, die für die Messung keine Relevanz mehr haben. Ein weiteres Problem stellt das unangenehme, meist aus lockerem Schutt bestehende Gelände in den Vorfeldern dar, das den Weg zu den Gletschern immer mühsamer und teilweise auch gefährlicher macht. Diese Einschätzung wird auch in den diesjährigen Berichten der Gletschermesser bestätigt, denn sie beinhalten wie in den Vorjahren eisfrei werdende Felsbereiche, Teilung von Gletschern, flächigen Zerfall von Gletscherzungen, ausdünnendes Eis, Bildung und/oder Weiterentwicklung von konzentrischen Einsturztrichtern, Anreicherung von Schutt an den Gletscheroberflächen und Bildung oder Vergrößerung von Seen in den Gletschervorfeldern.
Gletschermessdienst in Zahlen
Der Gletschermessdienst des Alpenvereins beobachtet bereits seit 131 Jahren die heimischen Gletscher und registriert akribisch deren Längenänderungen. An einigen Gletschern werden zusätzlich Messungen der Fließgeschwindigkeiten und der Oberflächenhöhe durchgeführt. Die Gebietsverantwortlichen nahmen österreichweit 91 Gletscher in zwölf Gebirgsgruppen – vom Dachstein bis hin zur Silvretta – unter die Lupe. Die Gletscherberichte und die Fotodokumentationen aus den Alpenvereins-Archiven vermitteln ein einzigartiges Bild von der Entwicklung der Gletscher in den Ostalpen und sind wissenschaftlich von internationaler Relevanz.
- Zahlen und Vergleichsbilder zum Gletscherbericht sind hier einsehbar: Gletscherbericht