Meeresspiegelanstieg: 1,5 Grad sind schon zu viel
Der steigende Meeresspiegel bedroht Hunderte Millionen Küstenbewohner:innen. Selbst die Einhaltung der Klimaziele könnte noch zu mehreren Metern Meeresspiegelanstieg führen. Das zeigt auch ein Blick in die erdgeschichtliche Vergangenheit.
Der Meeresspiegel steigt und er steigt immer schneller. Gezeitenmessungen und seit den 1990er Jahren auch Satellitendaten lassen daran keinen Zweifel.
Den größten Teil des 20. Jahrhunderts kletterten die Ozeane jedes Jahr 1,4 Millimeter die Küsten der Welt hinauf. Seit den 1990er Jahren und vor allem seit der Jahrtausendwende beschleunigt sich der Höhenzuwachs sogar noch.
Allein letztes Jahr lag er laut einer Nasa-Analyse bei 5,9 Millimetern.
Bei dieser Rate könnte der Meeresspiegelanstieg die Anpassungsfähigkeit der Menschheit schnell überschreiten, warnen Wissenschaftler:innen in einer neuen Studie. Daraus schließen die Autor:innen im Fachjournal Communications Earth & Environment, dass bereits die gegenwärtige Erwärmung von rund 1,2 Grad zu hoch sei, um „katastrophale“ Folgen zu vermeiden.
Das heutige Klima sei warm genug, um die großen Eisschilde in Grönland und der Antarktis aus der Balance zu bringen, erklärte das britisch-US-amerikanische Forschungsteam. Die Eisschilde schrumpften derzeit viermal so schnell wie noch in den 1990er Jahren. Damit sei der Eisverlust der Schilde zum wichtigsten Faktor des Meeresspiegelanstiegs geworden.
Schmelzende Gebirgsgletscher und die Ausdehnung des Meerwassers als Folge der Erwärmung waren im vergangenen Jahrhundert hauptverantwortlich für den Anstieg.
Die Kernaussage der Studie: Selbst wenn die Menschheit das 1,5-Grad-Limit einhält, muss sie sich langfristig auf mehrere Meter Meeresspiegelanstieg einstellen. Zur Erinnerung, mit allen bislang angekündigten und eingeleiteten Klimaschutzmaßnahmen steuert die Welt bis 2100 auf eine Erwärmung um 2,7 Grad zu.
Dynamik der großen Eisschilde kaum verstanden
„Eine Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 Grad wäre ein großer Erfolg und sollte unbedingt unser Ziel sein“, ergänzte der Glaziologe an der Universität Durham und Erstautor Chris Stokes. „Doch selbst wenn dieses Limit eingehalten oder nur vorübergehend überschritten wird, müssen sich die Menschen darüber im Klaren sein, dass der Meeresspiegel Anstiegsraten erreichen dürfte, an die man sich nur sehr schwer anpassen kann.“
Wie schnell und wie stark der Meeresspiegel auf die fortschreitende Erderwärmung reagieren wird, darüber zerbrechen sich Wissenschaftler:innen seit Jahrzehnten die Köpfe.
Im jüngsten Bericht des Weltklimarates IPCC geben die Autor:innen für den Anstieg bis Ende des Jahrhunderts eine Spanne zwischen knapp 30 Zentimetern und über einem Meter an – je nach Höhe der Treibhausgasemissionen. Auch zwei Meter Meeresspiegelanstieg bis 2100 könnten jedoch nicht ausgeschlossen werden, heißt es in dem Bericht weiter. Dasselbe gelte für einen Fünf-Meter-Anstieg bis 2150 und für 15 Meter bis 2300.
Die Dynamik der großen Eisschilde ist bisher nur rudimentär verstanden, deshalb auch die großen Unsicherheiten bei Prognosen.
Noch bis weit in die 1990er Jahre hinein attestierte die Wissenschaft dem grönländischen und dem westantarktischen Eisschild weitestgehende Stabilität. 2006 sah eine Studie die Gefahr für einen langfristigen Kollaps, also ein Kippen, des Grönlandeisschildes erst bei über drei Grad Erderwärmung gegeben.
Heute werden sowohl für den grönländischen als auch den westantarktischen Eisschild Schwellenwerte von rund 1,5 Grad oder sogar darunter angenommen. Eine ebenfalls kürzlich veröffentlichte Studie unter Beteiligung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung hält einen Kollaps des westantarktischen Eisschilds bereits bei einer „geringen zusätzlichen Ozeanerwärmung“ für möglich.
Zurück in die 1980er Jahre
Ein Kippen des westantarktischen Eisschildes hätte in den kommenden Jahrhunderten einen Meeresspiegelanstieg von rund vier Metern zur Folge. Der Kollaps des Grönlandeisschildes würde einen Anstieg von über sieben Metern auslösen.
Selbst Teile des deutlich größeren ostantarktischen Eisschildes könnten nach neueren Forschungen bei zwei bis drei Grad Erwärmung kollabieren. Noch 2001 ging der IPCC in seinem dritten Sachstandsbericht davon aus, dass eine Erderwärmung von 17 bis 20 Grad nötig wäre, um den Eisschild zu destabilisieren.
Wie so oft in der Klimaforschung: Je besser die Datengrundlage und je besser das Verständnis der zugrundeliegenden Physik, desto düsterer die Prognosen.
Das im Pariser Klimaabkommen vereinbarte 1,5-Grad-Ziel wäre demnach nicht der Schutz vor allem Übel. Stattdessen liege die „sichere Grenze“ bei etwa einem Grad über vorindustriellem Niveau oder gar etwas darunter, schreiben die Studienautor:innen um Chris Stokes.
Auf diesem Level lag die globale Durchschnittstemperatur schon in den 1980er Jahren. Damals seien die Eisschilde noch weitestgehend im Gleichgewicht gewesen, erläutert die Forschungsgruppe.
„Was wir mit einer sicheren Grenze meinen, ist eine Grenze, die ein gewisses Maß an Anpassung zulässt und nicht zu einer katastrophalen Binnenmigration oder erzwungener Abwanderung führt“, sagte Mitautor Jonathan Bamber. Um eine solche Anpassung zu ermöglichen, dürfe der Meeresspiegelanstieg nicht über einem Zentimeter pro Jahr liegen.
Bei gegenwärtiger Tendenz könnte diese Anstiegsrate allerdings bereits Ende des Jahrhunderts erreicht werden.
Eem-Warmzeit: Heutiges Klima, sechs Meter höherer Meeresspiegel
Die Warnungen der Forscher:innen fußen nicht allein auf immer akkurateren Beobachtungsdaten. In der Studie fassen sie auch Untersuchungen zu vergangenen Warmzeiten zusammen.
Der Blick in die Vergangenheit offenbart, dass zuletzt während der Eem-Warmzeit vor etwa 120.000 Jahren die Temperaturen so hoch waren wie heute. Damals lag der Meeresspiegel allerdings deutlich höher. Das lässt sich aus verschiedenen Indikatoren schließen, etwa der Höhenlage fossiler Korallenriffe oder mariner geologischer Formationen, korrigiert um tektonische Hebung und Senkung.
Während einzelne Studien die damalige Höhe des Meeresspiegels zwischen einem und vier Metern über heutigem Niveau angeben, kommen die meisten Untersuchungen zu Werten von sechs bis neun Metern.
Heute leben etwa 230 Millionen Menschen weniger als einen Meter über dem Meeresspiegel. Eine Milliarde Menschen leben weniger als zehn Meter über dem Ozean.
Dabei muss das Meerwasser einen Landstrich nicht verschlingen, um ihn unbewohnbar zu machbar. Es reicht, wenn es in das Grundwasser eindringt und es versalzt oder wenn regelmäßige Überschwemmungen den Menschen die Lebensgrundlage rauben.
Selbst wenn der Meeresspiegel bis 2050 nur um weitere 20 Zentimeter steigt, würde das laut Studie für die 136 größten Küstenstädte der Welt Überschwemmungsschäden in einer Gesamthöhe von mindestens einer Billion US-Dollar pro Jahr verursachen.
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Der Bericht wurde von der Redaktion „klimareporter.de“ (David Zauner) 2025 verfasst – der Artikel darf nicht ohne Genehmigung (post@klimareporter.de) weiterverbreitet werden!