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Stirbt die Artenvielfalt? Das neue Zeitalter des Naturschutzes 8/8

Erstmals werden wie 2007 schon beim Klimaschutz jetzt auch beim Artenschutz Berechnungen angestellt, die den Wert der Natur und Artenvielfalt, des Klimas, der Böden, Wälder und Wässer in Dollar und Euro ausrechnen.

1992, kurz vor dem Rio-Erdgipfel, ist der deutschstämmige Jose´ Lutzenberger als Umweltminister von Brasilien zurückgetreten.  Er hatte den brasilianischen Regenwald vor weiterem Kahlschlag retten wollen. Doch die brasilianische Holzlobby war im Verein mit Großgrundbesitzern und internationalen Agrarkonzernen stärker. Brasiliens Regenwald wurde weiter abgeholzt.
 
Letzte Woche trat wieder eine brasilianische Umweltministerin zurück. Auch diesmal aus Protest gegen die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes. Auch die jetzt gescheiterte Marina Silva war wie früher Jose´ Lutzenberger eine Ikone der weltweiten Waldschutzbewegung. Beide wollten nicht länger das grüne Feigenblatt für Brasiliens wenig ökologische Regierung spielen und traten zurück.
 
In Brasiliens Urwald regiert die Kettensäge. Ein Fünftel der 3.6 Millionen Quadratkilometer großen Urwälder im Norden des Riesenlandes ist bereits abgeholzt – in Viehweiden und Sojaäcker verwandelt. Tote Wälder gelten als wertvoller als lebende Wälder. So rechnet die Wirtschaft heute noch weltweit – die Natur hat keinen finanziellen Wert. Mit landwirtschaftlich genutzten Flächen lässt sich eben mehr Geld verdienen als mit unberührten Urwäldern, obwohl Waldschutz immer auch Klimaschutz ist, denn jeder Baum speichert Treibhausgase.
 
Die weltweit stattfindende Urwaldzerstörung ist menschengemacht und kein Naturereignis. Das beweist die Waldpolitik der letzten drei Jahrzehnte im kleinen mittelamerikanischen Land Costa Rica.
 
Seit 1980 hat sich dort die Waldfläche beinahe wieder verdoppelt – nachdem sie zuvor ebenfalls durch Kahlschlag mehr als halbiert worden war. Doch eine kluge Aufforstungspolitik macht  sich jetzt in Costa Rica auch bezahlt. 50% der Fläche des Landes ist heute wieder mit Wald bedeckt. 1,5 Millionen Ökotouristen, welche jedes Jahr die Naturwunder der Berg- und Regenwälder erleben wollen, bringen pro Jahr 1.5 Milliarden Dollar ins Land – viel Geld für den kleinen Staat in der Karibik durch Naturschutz!
 
Öko kann sich rechnen. Wir müssen den Planeten nicht aus wirtschaftlichen Gründen ruinieren. Wir können lernen, intelligenter und nachhaltig zu wirtschaften. Wir können lernen, mit der Natur zu rechnen.
 
Auf der Bonner Artenschutzkonferenz rechnen in diesen Tagen Ökologen und Ökonomen ganz neu. Erstmals werden wie 2007 schon beim Klimaschutz jetzt auch beim Artenschutz Berechnungen angestellt, die den Wert der Natur und Artenvielfalt, des Klimas, der Böden, Wälder und Wässer in Dollar und Euro ausrechnen. Was sind uns Gartenmöbel aus Teakholz, Kaviar von russischen Stören, Filets aus Steinbutt oder der Frühjahrsgesang unserer gefiederten Freunde wert? Oder auch der Duft einer Rose? Ganz neue Fragen, an die sich Ökonomen erst gewöhnen müssen.
 
Vor allem der indische Ökonom Pavan Sukhdey hat im Auftrag der EU und des deutschen Umweltministeriums mit seinen Geldwert-Berechnungen die über 5.000 Delegierten aus 191 Ländern in Bonn stark beeindruckt, sodass in der ersten Woche der Konferenz ein erstes Umdenken zu beobachten war.
 
Sukhdey wollte wissen: Was ist uns die Erde wert? Und was die Natur?  Schon die Fragestellung deutet einen Paradigmenwechsel in der gesamten Umwelt- und Wirtschaftspolitik an.
 
Einige Ergebnisse der ökonomischen Bewertungen des ökologischen Reichtums unseres Planeten:

  • Um die Vielfalt der Korallenriffe und des Fischreichtums zu erleben, geben Taucher und Schnorchler pro Jahr 30 Milliarden Dollar aus. Doch 20 % der weltweiten Korallen sind bereits tot und viele Fischarten an den Korallenbänken ausgestorben.
  • Die Urwälder speichern riesige Mengen an klimazerstörendem CO2. Banken schätzen den ökonomischen Wert allein der indonesischen Urwälder auf 9 Milliarden Dollar pro Jahr.
  • Der Wert der globalen Naturreservate wird auf riesige 5.000 Milliarden Dollar geschätzt.
  • Pflanzliche Naturheilmittel haben bereits einen Marktwert von 45 Milliarden Dollar jedes Jahr. Die Apotheke Gottes wird von Jahr zu Jahr mehr entdeckt, genutzt und ökonomisch wertvoller für unsere Gesundheit. So wird zum Beispiel das Herzmittel Digitoxin aus dem Roten Fingerhut gewonnen. 80% der Deutschen vertrauen den Naturheilmitteln mehr als den chemischen. Die Naturheilstoffe werden aus wild lebenden Pflanzen, Pilzen, Bakterien und Tieren gewonnen.
  • Die Arbeit von Milliarden Bienen, die überall auf der Welt Agrarpflanzen bestäuben, wird jetzt erstmals geschätzt: auf 8 Milliarden Dollar pro Jahr.
  • Fische als Nahrungsmittelquelle sind jedes Jahr 58 Milliarden Dollar wert. Aber wir fischen die Meere leer. Fische sichern die Eiweisversorgung von über einer Milliarde Menschen.
  • Allein der Ökotourismus im Nationalpark Wattenmeer in der Nordsee spült pro Jahr 58 Millionen Euro in die Kassen der Touristiker und sichert viele Tausend Arbeitsplätze.

Hinzu kommt: Naturschutzgebiete sind Rückzugsgebiete für die menschliche Seele, die ohnehin unberechenbar und unbezahlbar bleiben.
 
Der Preis des Lebens und Überlebens ist hoch. Doch Natur – ohnehin Voraussetzung fürs Leben – war bislang ökonomisch nichts wert. Wir haben die Natur einfach ausgebeutet und zerstört. Doch das soll sich jetzt durch die Ökonomisierung der Natur ändern.
 
Denn allmählich begreifen wir, dass die Natur uns nicht braucht, wir aber sie. Ohne Menschen ginge es der Natur sogar entschieden besser. Aber wir lernen gerade, dass uns die Zerstörung der Natur viel teurer zu stehen kommt als die Bewahrung von Wäldern, Meeren und Mooren – und zwar nicht nur langfristig, sondern auch schon in wenigen Jahren wird der weitere Raubbau unbezahlbar sein. Dagegen könnte die intelligente Nutzung von Wäldern, Walen und Korallen künftig zum Milliardengeschäft einer intelligenten ökologischen Politik werden. Wir werden vermutlich Natur nur besser schützen, wenn uns in diesem ökonomischen Zeitalter ihr unersetzlicher Wert bewusst wird. 
 
Der Wald speichert Kohlendioxyd, versorgt uns mit Wasser, bietet Erholung und Lebensfreude sowie Tieren und Pflanzen eine Heimstatt und schenkt uns eine Fülle von wertvollen Pharma-Wirkstoffen.
 
Doch wie beim Klimaschutz gibt es auch beim Artenschutz längst einen Nord-Südkonflikt. Wer soll und darf vom Reichtum der Natur am meisten profitieren? Bislang waren es eindeutig die reichen Industriestaaten – auf Kosten der armen Länder. Noch ungelöste Fragen auf der Bonner Konferenz.
 
Doch jetzt fordern auch die Entwicklungsländer ihren Anteil am Naturreichtum. Natur und Artenvielfalt in der Natur  sind für viele Entwicklungs- und Schwellenländer der größte Reichtum und ihr wichtigstes Kapital. Aber gleichzeitig haben sie auch eine besondere Verantwortung.
 
Denn 80 % des gesamten Gen-Reservoirs unserer Erde beherbergen die südlichen Länder. Nachdem wir schon vor Jahrhunderten unserer Wälder abgeholzt und Moore trockengelegt haben, wollen dies jetzt auch die Dritte-Welt-Länder tun, wenn sie keinen finanziellen Ausgleich für den Erhalt der Natur bekommen. So wie sie sich auch beim Klimaschutz nicht in ihrem Wachstum beschränken lassen wollen. 
 
Das Hauptproblem bei der  Klimazerstörung und beim Artensterben sind nicht die Armen, sondern wir Reiche, die wir 10mal mehr Energie und andere Ressourcen verbrauchen als sie und damit den Klimawandel und das Artensterben verursachen. Ohne mehr Gerechtigkeit zwischen Nord und Süd wird es auch kein Vertrauen in die Versprechungen der Bonner Konferenz geben. Die Weltgemeinschaft hat zugesagt, dass sie bis 2010 das Artensterben „stark reduzieren“ will und Deutschland will es bis 2010 sogar „stoppen“.
 
Die Realität sieht freilich anders aus. Das Artensterben ist noch immer schneller als jeder Artenschutz. Täglich verlieren wir Dutzende  von Tier- und Pflanzenarten. Der Weg zu einem Netz von Schutzgebieten an Land und auf hoher See wird noch lang sein – aber überlebenswichtig für die Menschheit. Denn Artenschutz ist Menschschutz. In Deutschland sollen bis 2020 wieder 10 % des Waldes zu Urwald werden. Immerhin ein erster Schritt zu mehr Artenschutz. Wir brauchen ein neues Zeitalter eines wirklich wirklichen Naturschutzes.

Bigi Alt
Quelle

Franz Alt
Erstveröffentlichung „tz“ München 2008

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