‹ Zurück zur Übersicht
Depositphotos.com | WDGPhoto | Windenergie

© Depositphotos.com | WDGPhoto

Hunderte Megawatt Windkraft auf der Kippe

Weil die Ausschreibungen nicht krisenfest sind, sind mehrere hundert Megawatt Onshore-Windleistung aus dem Jahr 2022 gefährdet. Statt den Windkraft-Ausbau zu beschleunigen, muss die Ampel erst einmal das Wegbrechen aktueller Projekte verhindern.

Vier bis fünf Windräder will die Bundesregierung bis 2030 täglich an Land hinzufügen. Das Ziel gab Kanzler Olaf Scholz Anfang Februar aus.

Inzwischen wäre die Windbranche froh, wenn sie wenigstens all diejenigen Anlagen gebaut bekäme, denen die Bundesnetzagentur in den Ausschreibungen des vergangenen Jahres den Zuschlag erteilt hat.

Jedes fünfte Windkraftprojekt an Land, das 2022 den Zuschlag bekam, ist derzeit gefährdet, hat eine vom Branchenverband BWE kürzlich durchgeführte Mitgliederbefragung ergeben. Mehr als das Ergebnis ist öffentlich bisher nicht bekannt. Wie viele Megawatt auf der Kippe stehen, lässt sich aber schätzen.

Letztes Jahr hat die Bundesnetzagentur über die Ausschreibungen für 646 Anlagen mit zusammen 3.225 Megawatt Nennleistung grünes Licht gegeben. Im Schnitt hatte eine Anlage also fünf Megawatt. Würde jede fünfte vorerst nicht gebaut, fielen rechnerisch mehr als 600 Megawatt weg. Den Umfang hält auch die Branche selbst für plausibel.

Gründe, dass Projekte sich verzögern oder gar scheitern können, gibt es mehrere. Da sind zu einem die wegen der Energiekrise schnell gestiegenen Material- und Baukosten. Zuletzt soll sich die Errichtung von Windkraftanlagen um bis zu 20 Prozent verteuert haben.

Zwar hat die Bundesnetzagentur die Obergrenze für den Gebotswert – der meist der Vergütung gleichzusetzen ist, die neue Anlagen für erzeugten Strom garantiert bekommen – Anfang des Jahres um 25 Prozent erhöht. Das nützt aber denen wenig, die im vergangenen Jahr mit geringeren Zuschlägen bedacht wurden. Dazu kommen enorme Lieferschwierigkeiten bei wichtigen Anlagenkomponenten.

Eine Datenauswertung der Fachagentur Windenergie an Land (FA Wind), die von Bund, Ländern und Verbänden getragen wird, zeichnet dabei ein Bild zunehmendes Stockens: Das Tempo der Umsetzung der bezuschlagten Projekte nahm schon vor dem Ausschreibungsjahr 2022 ab.

Umsetzungsfrist kann oft nicht eingehalten werden

Die Experten haben sich dazu angeschaut, welcher Anteil der in einem Kalenderjahr bezuschlagten Projekte nach sechs, zwölf und 18 Monaten wirklich ans Netz gegangen ist – und zwar von dem Zeitpunkt an, als die Bundesnetzagentur verkündete, dass ein Projekt den Zuschlag erhält.

Ergebnis: Von der Windkraftleistung, die in den Jahren 2018 bis 2020 einen Zuschlag bekam, waren nach jeweils zwölf Monaten gut zehn Prozent am Netz.

Von der Windstrom-Kapazität, die 2021 bezuschlagt wurde, waren zwölf Monate später laut FA Wind erst knapp fünf Prozent am Netz, der Anteil hat sich also halbiert.

Man könnte meinen, solche Verzögerungen seien kein Problem, sie ließen sich ja aufholen. Die Analyse der Fachagentur spricht aber eine andere Sprache: Im Moment wächst der „Berg“ der trotz Zuschlag nicht gebauten Windprojekte weiter an.

Ein Anzeichen dafür: Der Anteil der 2021er Zuschläge, die nach 18 Monaten realisiert sind, liegt jetzt schon um zwölf Prozentpunkte hinter der Quote früherer Jahre zurück. Anders gesagt: Je mehr Zeit seit dem Zuschlag vergangen ist, desto geringer die Realisierungsquote, verglichen mit dem früheren Tempo.

Für 2022 sind Aussagen bisher nur für den ersten Gebotstermin Anfang Februar möglich. Die Realisierungsquote erreichte hier laut FA Wind nach zwölf Monaten nur noch knapp drei Prozent der bezuschlagten Anlagenleistung.

Diese größer werdende Diskrepanz zwischen bezuschlagten und realisierten Anlagen ist für Jürgen Quentin von der Fachagentur Wind ein Hinweis darauf, dass sich die Lieferschwierigkeiten weiter verschärft haben. So sollen etwa Transformatoren teilweise auf Jahre hin nicht lieferbar sein.

„An den Zahlen lässt sich aber nicht ablesen, ob diese Windprojekte verwirklicht werden oder nicht“, erklärt Quentin. Doch dass immer mehr Windkraft zeitverzögert ans Netz geht, sei ein Warnsignal. Der Kanzler hat schließlich, siehe oben, ganz anderes vor.

„Lieferprobleme dürfen nicht zulasten der Projekte gehen“

Um das Ausbautempo wieder zu beschleunigen, hat die Windbranche der Politik bereits einige Forderungen auf den Tisch gelegt.

Als aussichtsreich gilt das Verlangen, die Pönalen auszusetzen. Diese Strafzahlungen verhängt die Bundesnetzagentur, wenn bezuschlagte Projekte nach einer gewissen Zeitspanne nicht umgesetzt sind.

Nach dem Zuschlag haben Windprojektierer in der Regel 24 Monate Zeit. Bis dahin müssen die Anlagen in Betrieb gehen. Danach wird für jeden Tag Verzögerung pro nicht gebautem Kilowatt eine Pönale fällig, die von zehn Euro im 25. Monat in zwei Stufen auf 30 Euro im 30. Monat anwächst.

Schon bei einem Windpark mit nur drei Anlagen kann so bei der aktuellen Durchschnittsleistung von 5,5 Megawatt am Ende schnell eine halbe Million Euro an Pönale zusammenkommen. Und steht die Anlage nach 30 Monaten immer noch nicht, verfällt der Zuschlag und die Zusage für die EEG-Vergütung erlischt, während die Strafzahlung trotzdem zu entrichten ist.

Angesichts der Lieferschwierigkeiten für einzelne Komponenten hält die Pönale einige Projektierer davon ab, überhaupt in die Ausschreibung zu gehen, obwohl ihre Anlagen schon länger genehmigt sind, meint Quentin. Deshalb ist auch er dafür, die Pönale auszusetzen, zumindest für die Zuschläge der Jahre 2021 bis 2023. „Lieferprobleme dürfen nicht zulasten der Projektierer gehen“, argumentiert der Experte.

Ein weiterer geringer Eingriff ins bestehende Regime wäre für Quentin, den Zuschlag ganz zurückgeben zu können, wenn der Projektierer zusagt, dasselbe Projekt zeitnah wieder in die Ausschreibung zu geben.

Quelle

Der Bericht wurde von der Redaktion „klimareporter.de“ (Jörg Staude) 2023 verfasst – der Artikel darf nicht ohne Genehmigung (post@klimareporter.de) weiterverbreitet werden! 

Diese Meldung teilen

‹ Zurück zur Übersicht

Das könnte Sie auch interessieren