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Ein Jahr Franziskus

Rosenmontag 2013 – In Deutschland wird Karneval gefeiert. In Rom verkündet ein alter Mann seinen Rücktritt als Papst. Als knapp vier Wochen später sein Nachfolger erstmals auf die Loggia am Petersdom tritt, hatte ihm der vatikanische Zeremonienmeister empfohlen, sich die purpurne Monzetta als Zeichen seiner päpstlichen Machtfülle um die Schulter legen zu lassen. Aber Franziskus hat dies angeblich mit den Worten abgelehnt: „Der Karneval ist vorbei“. Ein passendes Motto für das erste Jahr des neuen Papstes.

Am 13. März 2013 gegen Abend war Kardinal Borgolio aus Buenos Aires mit großer Mehrheit zum ersten Papst aus einem  Land der „Dritten Welt“ gewählt worden. Er nannte sich bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nicht Papst, sondern bescheiden „Bischof von Rom“.

„Brüder und Schwestern, guten Abend“ hatte er die wartende Menge auf dem Petersplatz und Millionen an den Bildschirmen in aller Welt begrüßt. Und dann gesagt: „Ich bitte Euch um einen Gefallen, bevor ich Euch segne, bitte ich Euch, den Herrn anzurufen, dass er mich, Euren Bischof, segne“. Das neue Pontifikat beginnt mit einer Geste der Demut. Ganz so wie es Jesus seinen Freunden empfohlen hat: „Seid Diener.“

Benedikt XVI. war wohl nicht nur wegen seines Alters zurückgetreten. Immerhin ist der bayerische Papst der erste in der neueren Kirchengeschichte, der sein Amt freiwillig aufgab. Eine überraschte deutsche Katholikin wurde im Fernsehen dazu nach ihrer Meinung gefragt: „Das glaube ich nicht. Ein Papst tritt nicht zurück, ein Papst stirbt.“

Ob jetzt der Neue die katholische Kirche aus ihrer tiefen Krise führen könne, fragten sich Millionen Christen auf der ganzen Welt. Schon 2010 hatte der Skandal um den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen die katholische Kirche kräftig durchgeschüttelt und das Vertrauen in die Institution erschüttert. Hinzu kamen kriminelle Handlungen in der vatikanischen Bank „Santo Spirito“, höfisches Gehabe im Vatikan und offensichtliche Ineffizienz im Verwaltungsapparat – Intrigen um Intrigen! Immer weniger gläubige Katholiken können noch guten Gewissens das „Ich glaube an die eine, heilige katholische Kirche“ in ihrem Glaubensbekenntnis  mit beten.

Entsprechend war die Stimmung unter den Kardinälen vor dem Konklave gereizt. Heftige Machtkämpfe zeichneten sich ab. Die Reformer unter den Kardinälen spürten Aufwind und forderten weniger Zentralismus und mehr Unabhängigkeit für die Ortskirchen und für die Bischöfe.

Der Kardinal von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio, redet nur fünf Minuten bei seiner „Bewerbungsansprache“. Er geißelt den „theologischen Narzissmus“ der katholischen Kirche, also den  nicht jesuanischen Dogmatismus und Fundamentalismus. Die Kirche sei aufgerufen, wie Jesus vor 2.000 Jahren „an die Ränder zu gehen, nicht nur an die geografischen Ränder, sondern an die Grenzen der menschlichen Existenz“.

Der 76-Jährige, der wie er selbst sagt „fast vom Ende der Welt“ kommt, tritt vor einem Jahr im schlichten weißen Gewand auf seine künftige Loggia. Seine Bescheidenheit hat inzwischen überraschende Folgen: Die Herrenschneider um den Vatikan klagen, dass sie geschäftliche Einbußen unbekannten Ausmaßes erlebten. Früher hätten sie Kardinalskleider für 6.000 Euro das Stück geschneidert, doch jetzt erhielten sie nur noch 600 Euro dafür.

Seit jenem 13. März des vergangenen Jahres ist Unerhörtes im Vatikan geschehen: Der Papst lässt sich im Mittelklassewagen chauffieren und macht auch deutschen Bischöfen in ihren Protz-Autos ein schlechtes Gewissen. Der Bischof  von Limburg ist immer noch in Zwangsurlaub.

Seine erste Reise führte Bergoglio nach Lampedusa zu den Bootsflüchtlingen. Bei seiner Messe mit den Gestrandeten benutzte er einen Hirtenstab und einen Holzkelch, die aus den Überresten eines im letzten Sommer gesunkenen Flüchtlingsschiffs gefertigt waren. Dabei waren über 300 Menschen ertrunken. Der Pontifex wollte und will keinen Protz und keinen Prunk und kein Getöse. Der neue Papst setzt Zeichen: Kein Staatsbesuch, sondern eine Reise zu den Ärmsten. Die Flüchtlingstragödie nennt er einen „Skandal und eine Schande“. Er prangert unsere „Kultur der Gleichgültigkeit“ an. Unentwegt fordert der Mann mit dem Namen des Heiligen aus Assisi eine „arme Kirche für die Armen“.

Der „Bischof von Rom“ wohnt auch nach einem Jahr im Amt noch immer in einem Gästezimmer des Vatikans.  Er versucht auch in seinem Lebensstil Jesus heutig zu machen und sagt Sätze wie „Petrus hatte kein Bankkonto“. Er bittet um Vergebung für die, die zur „Betäubung der Herzen“ beigetragen haben. Sein Klartext ist mehr als Symbolik. Franziskus lenkt – wie sein Meister aus Nazaret vor 2.000 Jahren – die Aufmerksamkeit auf die Schmuddel-Kinder unserer reichen Gesellschaft: auf Flüchtlinge, auf Asylsuchende, auf die Armen, auf die Außenseiter.

Das Mittelmeer ist in den letzten zehn Jahren zu einem Massengrab von Flüchtlingen geworden – direkt vor unserer europäischen Haustür sollen 20.000 Menschen ertrunken sein. Franziskus weist darauf hin, dass diese unmenschliche Politik nur möglich ist, weil wir herzenstaub, seelenblind und wohlstandsversessen sind.

Selbst hinter den dicken Mauern des Vatikan passiert jetzt Unerhörtes: Franziskus ruft einfach irgendwelche Leute an, die ihm geschrieben haben und schreibt dem Papst-Kritiker Hans Küng persönlich freundschaftliche Briefe – Absender: Franziskus, Roma – und erklärt in Interviews: die Kirche solle sich nicht nur mit Abtreibung, Verhütung und der Bewertung von homosexuellen Lebenspartnerschaften beschäftigen, sie solle auch niemand verurteilen, weil er oder sie schwul oder lesbisch sei oder abgetrieben habe.

In solchen Worten findet man endlich Jesus wieder, der in seiner Bergpredigt gesagt hat: „Verurteilt nicht, damit ihr nicht verurteilt werdet“. Oder zum Thema Ehebruch: „Wer ohne Fehler ist, der werde den ersten Stein“.

Auf dem Flug von Rio nach Rom fragt ein Journalist Franziskus nach seiner Bewertung von Homosexualität. Der Papst – gar nicht unfehlbar – antwortet: „Wer bin ich denn, dass ich Homosexuelle verurteilen könnte!“. Noch keine neue Sexualmoral, aber immerhin neue Töne!

Auf dem Weltjugendtreffen in Rio hatte er zuvor den über 100.000 jubelnden Jugendlichen zugerufen: „Ich will keine jungen Leute, die nicht protestieren“, in seiner ersten Enzyklika redet er auch Klartext über den Kapitalismus: „Dieses System tötet“. Wie anders soll man es nennen, wenn täglich über 20.000 Menschen verhungern?

Die traditionelle Lehre der katholischen Kirche hat dieser Papst (noch) nicht verändert. Vielleicht wird auch er an den Dogmatikern und Traditionalisten scheitern. Bislang standen alle Päpste seit dem vierten Jahrhundert im Mittelpunkt kirchlichen Geschehens. Doch dieser Papst, so hört man, hat seinen Mitarbeitern im letzten Jahr mehrfach gesagt: „Sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, das ist die größte Gefahr für die Kirche“.

Paulus hat in seinem ersten Korinther-Brief bekannt: „Stückweise erkennen wir und stückweise prophezeien wir.“ Das galt für Paulus und das gilt für jeden von uns, also auch für den Papst. Wir erleben in unseren Tagen erstmals ein Kontrastprogramm zum tradierten Papsttum der Unfehlbarkeit und Allmacht dieses Amtes. Wir erleben einen Papst als Lernenden.

Unser Wissen und unsere Erkenntnis sind grundsätzlich subjektiv und relativ. Wie oft haben sich auch Päpste geirrt. Zum Beispiel gegenüber Galilei Galileo. Deshalb ist jede Generation aufgefordert, Jesu Aussagen und Lehren neu auf ihre Zeit zu übertragen so wie es Paulus vorgeschlagen hat, der sich auch gewaltig geirrt hatte und vom Saulus zum Paulus wurde.

Franziskus, der erste Papst mit dem Namen des Heiligen der Tiere, des Friedens und der Umwelt, traue ich die jetzt nötigen Kirchenreformen zu. Allerdings: Es könnte ihm ähnlich ergehen wie vor 500 Jahren dem Kirchenreformator Martin Luther. Er bekam zu hören: „Mönchlein, du gehst einen schweren Gang!“. Die Ewiggestrigen, die Fundis und die Dogmatiker im Vatikan planen selbstverständlich die Gegen-Reformation. Der katholischen Kirche stehen also spannende Zeiten bevor. Ohne Kampf geht gar nichts, so lehrt die Geschichte, auch die Kirchengeschichte.

Das hat am deutlichsten und brutalsten Jesus selbst erfahren. Er war der Oberkämpfer. Auch seine Gegner waren die Frommen von 2.000 Jahren.

Zum Abendessen nach seiner Wahl war Franziskus mit anderen Kardinälen im Kleinbus gefahren. Nach dem Essen bedankte er sich bei seinen Kollegen mit den Worten: „Möge Gott Euch das vergeben, was ihr getan habt.“

Quelle

© Franz Alt 2014

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