Erdgasversorgung in Europa trotz Ukraine-Krise gesichert
Berechnungen des DIW Berlin: Europäische Union könnte möglichen russischen Lieferstopp durch die Ukraine kurzfristig überbrücken. Die europäische Erdgasversorgung ist trotz der politischen Krise zwischen Russland und der Ukraine kurzfristig sicher. Sollte Russland seine Lieferungen in und durch die Ukraine unterbrechen, könnten die Mitgliedsländer der Europäischen Union dies weitgehend kompensieren. Würde Russland aber einen kompletten Stopp über sämtliche Lieferwege verhängen, wären insbesondere die osteuropäischen EU-Staaten stark betroffen, Westeuropa jedoch wesentlich weniger. Das sind zentrale Ergebnisse einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).
Demzufolge hat sich die Versorgungssicherheit seit der letzten Erdgaskrise zwischen Russland und der Ukraine im Winter 2009 zwar erhöht, unter anderem weil die EU-Länder Erdgas aus mehr Ländern beziehen und Flüssiggasterminals, Speicher und neue Pipelines gebaut haben. Allerdings: „Europa ist in Sachen Versorgungssicherheit noch nicht ganz so weit, wie es sein sollte“, sagt Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am DIW Berlin.
„Um sich mittelfristig noch besser gegen Lieferausfälle zu wappnen, muss die EU den Kreis ihrer Erdgaslieferanten weiter vergrößern, die bestehende Infrastruktur besser nutzen, für eine steigende Energieeffizienz sorgen und den Ausbau erneuerbarer Energien konsequent vorantreiben.“
Die Bedeutung russischer Erdgasexporte nach Europa hat das DIW Berlin im Auftrag der Grünen-Fraktion des Europäischen Parlaments untersucht. Vor dem Hintergrund der derzeitigen politischen Krise und den Drohungen des russischen Erdgaskonzerns Gazprom, im Falle der Nichtbegleichung offener Rechnungen der Ukraine Anfang Juni des Gashahn abzudrehen, berechneten die DIW-Energieökonomen die Folgen zweier Ausfallszenarien für das Jahr 2015.
Deutschland käme relativ glimpflich davon
Bei einem Lieferstopp durch die Ukraine wären neben dem Land selbst in erster Linie Kroatien, Ungarn und Rumänien betroffen – diese Länder haben kaum Zugang zu Flüssiggas, das per Tanker geliefert werden könnte, und sind zudem nicht ausreichend in das europäische Pipelinenetz integriert, um genügend Ersatzlieferungen aus Nachbarländern erhalten zu können.
Das Szenario, in dem Russland sämtliche Erdgasexporte stoppt, bekämen hingegen nahezu alle EU-Mitglieder in Form deutlich steigender Preise zu spüren, insbesondere das Baltikum und Finnland; dort würden die Preise um etwa 100 Prozent steigen.
Deutschland käme vergleichsweise glimpflich davon. Zwar deckt die Bundesrepublik etwa 38 Prozent ihres Erdgasverbrauchs mit Importen aus Russland, dennoch würden sich russische Liefereinschränkungen weitaus weniger stark auswirken als in anderen Ländern. Der Grund: Die Bedeutung der Ukraine als Transitland für Erdgaslieferungen aus Russland hat in den vergangenen Jahren abgenommen, seitdem die Nord-Stream-Pipeline als direkte Verbindung zwischen Russland und Deutschland in Betrieb gegangen ist.
Da Deutschland auch an die in Weißrussland startende und über Polen verlaufende Jamal-Pipeline angeschlossen ist, kann es seine Lieferwege diversifizieren. Hinzu kommt: Mit einem Volumen von über 20 Milliarden Kubikmetern gibt es hierzulande große Speicherkapazitäten, die etwa einem Viertel des gesamten Erdgasverbrauchs entsprechen.
Erdgas bleibt wichtiger Pfeiler der europäischen Energieversorgung
Den Berechnungen des DIW Berlin zufolge wird Erdgas auch langfristig eine Rolle im europäischen Energiemix spielen: Der Verbrauch wird bis 2040 sogar noch leicht auf über 600 Milliarden Kubikmeter pro Jahr steigen. Da die Erdgasförderung in den EU-Ländern aber bereits seit mehr als einem Jahrzehnt rückläufig ist und auch künftig weiter sinken wird, steigt die Importquote weiter. Gleichzeitig sinkt jedoch der Anteil der Erdgasbezüge aus Russland von heute fast 35 Prozent auf gut 20 Prozent im Jahr 2040.
Mit stärker diversifizierten Bezugsquellen und Lieferwegen wäre die europäische Erdgasversorgung auch bei dann steigender Importabhängigkeit gesichert. Die osteuropäischen Länder werden sich Bezugsquellen außerhalb der EU erschließen und zudem sowohl ihre Aufnahmekapazitäten für verflüssigtes Erdgas als auch ihre Pipelinekapazitäten erhöhen.
Ein wichtiger Bestandteil einer noch höheren Versorgungssicherheit sind zudem sogenannte Umkehrflüsse. Dabei handelt es sich um den Transport von Erdgas entgegen der ursprünglichen Flussrichtung, den technische Zubauten oder Umrüstungen ermöglichen. Allerdings sind solche Umkehrflüsse noch nicht in allen Pipelines eingerichtet.
„Über diesen Weg könnte noch mehr Erdgas vom Westen in Richtung Osten strömen, also beispielsweise von Deutschland in potentiell von der Versorgung abgeschnittene Länder im Osten Europas“, erklärt DIW-Forschungsdirektor Christian von Hirschhausen.
Europäische Energieunion würde fossile Energieträger stärken
Den polnischen Vorschlag einer Europäischen Energieunion betrachten die DIW-Energieexperten unterdessen kritisch. Zwar sei es sinnvoll, sich mit Blick auf eine höhere Versorgungssicherheit enger abzustimmen – vor allem, weil der russische Gazprom-Konzern einzelnen EU-Ländern sehr unterschiedliche Verträge mit teilweise wettbewerbswidrigen Klauseln anbiete.
Allerdings lege eine genauere Analyse offen, dass die Energieunion in erster Linie Ländern mit einem hohen Anteil fossiler Energieressourcen zusätzliche Mittel zu deren Entwicklung bereitstellen soll. Das sei mit den Klimazielen der Europäischen Union nicht kompatibel.
- Interview: „Europa muss seine Erdgasimporte weiter diversifizieren“. Sieben Fragen an Claudia Kemfert
- Das Interview mit Claudia Kemfert ist dem Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 22/2014 entnommen. Es steht sowohl als PDF-Dokument | PDF, 456.45 KB zur Verfügung als auch als O-Ton. | MP3, 5.27 MB
- DIW Wochenbericht 22/2014 | PDF, 0.9 MB
- DIW Wochenbericht 22/2014 als E-Book | EPUB, 2.36 MB
Quelle
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) 2014