Ist Konrad Adenauer ein Vorbild für Friedrich Merz?
Das gab es noch nie: Das Scheitern eines Kanzlers im ersten Wahlgang ist ein historisches Novum.
Acht Bundeskanzler und eine Bundeskanzlerin wurden seit 1949 alle und immer im ersten Wahlgang gewählt – wenn auch manchmal äußerst knapp.
1949 hatte Konrad Adenauer nicht eine Stimme mehr bekommen als benötigt, wie meist geschrieben wird, sondern nur exakt so viele wie zu seiner Wahl nötig waren. Nur eine Stimme weniger und es wäre – wie 2025 – ein weiterer Wahlgang nötig geworden. Am 15. September 1949 wählten 202 von 404 Bundestagsabgeordneten den ersten Bundeskanzler des neuen Deutschland. Auch Helmut Kohl gewann 1994 denkbar knapp mit nur einer Stimme Mehrheit im ersten Wahlgang: Er bekam 337 von 672 Stimmen. Hingegen erhielt Angela Merkel bei ihrer dritten Wahl 2013 146 Stimmen mehr als benötigt. Aber nur einmal hat ein Bundeskanzler bei seiner Wahl mehr Stimmen bekommen als seine Koalition Abgeordnete hatte: 1998 erhielt Gerhard Schröder sechs Stimmen mehr als seine rot-grüne Koalition aufwies.
Das Wahlergebnis 1949: CDU/CSU 31 Prozent (139 Sitze), SPD 29,2 Prozent (131 Sitze), FDP 11.9 Prozent (52 Sitze), KPD 5,7 Prozent (15 Sitze), Bayernpartei 4.2 Prozent (17 Sitze), Deutsche Partei 4.0 Prozent ( 17 Sitze), Wirtschaftliche Aufbauvereinigung 2.9 Prozent ( 12 Sitze), Zentrum 3.1 Prozent (10 Sitze), DKP Deutsche Rechtspartei 1.8 Prozent (5 Sitze), Schleswigscher Wählerverband 0.3 Prozent (1 Sitz). Nach heutigem Wahlrecht wären nur die vier Parteien in den Bundestag eingezogen, die mehr als fünf Prozent der Stimmen bekamen. Aber die Fünf-Prozent-Hürde gab es 1949 noch nicht
Alles anders aber jetzt: Im ersten Wahlgang erhielt Friedrich Merz nur 310 von 328 Stimmen der CDU/CSU und SPD-Fraktion. Das heißt, dass ihn mindestens 18 Abgeordnete der beiden künftigen Koalitionsfraktionen nicht gewählt haben. Die Bundestagspräsidentin musste zu ihrer eigenen Überraschung bitter feststellen, dass der Abgeordnete Friedrich Merz „nicht zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde“. Da die Kanzlerwahl geheim ist, werden die Namen der Gegner oder Enttäuschten von Friederich Merz wohl nie bekannt werden.
Die Hauptgründe dürften aber sein, dass viele SPD-Abgeordnete nicht vergessen hatten, dass der Kanzlerkandidat gegen sein Versprechen, eine Brandmauer gegenüber der AfD zu bilden, dieses Versprechen erst vor kurzem gebrochen und sowohl SPD wie Grüne als „linke und grüne Spinner“ bezeichnet hatte. Und einige Unionsabgeordnete waren und sind bitter enttäuscht darüber, dass Merz entgegen ebenfalls seiner Wahlversprechen riesige Schulden machen muss, um andere Wahlversprechen einlösen zu können. Beides nährt Misstrauen statt Vertrauen.
Deshalb war es bei dieser Wahl des zehnten deutschen Kanzlers oder einer Kanzlerin knapper als je zuvor. Ein zweiter Wahlgang war nötig, um Friedrich Merz mit 325 Stimmen zum Kanzler zu wählen. Zweite Wahl eben!
Sicher ist, wem Konrad Adenauer 1949 seine Stimme gab: Sich selbst. Nach der äußerst knappen Wahl sagte er zu seinem Sitznachbarn im Bundestag den historisch gewordenen Satz: „Et hät noch immer jut jejangen“ – „Es ist noch immer gut gegangen“. Über diese historische erste Bundestagswahl und die nicht weniger historische Wahl Adenauers habe ich meine Dissertation geschrieben. Wir wissen, dass Adenauer sich selbst gewählt hat. Das hat er später mehrfach bestätigt- auch mir gegenüber. Die Frankfurter Rundschau erinnerte nach seiner Wahl an die Worte des Königs Pyrrhus: „Noch ein solcher Sieg und ich bin verloren.“
Die DDR-Presse, die Presse der damaligen sowjetischen Zone, hatte sehr präzise Vorstellungen von der neuen Regierung der Bundesrepublik. Die Ost-Berliner „Berliner Zeitung“ schrieb am 21. Dezember 1949 unter der Überschrift „Kabinett der Landesverräter“: „Großindustrielle und Marionetten der Herren von Rhein und Ruhr, Separatisten, Kollaborationisten und Vaterlandsverräter, notorische Kriegs- und Antisowjethetzer, Leute, die für das Ermächtigungsgesetz stimmten und über deren Tätigkeit in der Nazizeit meist ein verschwiegenes Dunkel ausgebreitet ist, das ist die Ministerkollektion Adenauers“.
Am Anfang war Adenauer
Neun Fraktionen im ersten Deutschen Bundestag sorgten auch damals für eine komplizierte Regierungsbildung. Ohne Fernsehen, ohne Computer und ohne Meinungsforschungsinstitute, doch mit den Spielregeln der neuen Verfassung gelang es dem damals 73-jährigen Adenauer, den Grundstein für eine solide und sichere Basis seiner 14-jährigen Herrschaft und der 20-jährigen Herrschaft seiner Partei zu legen.
Im Mai 1949 war das Grundgesetz als neue westdeutsche Verfassung in Kraft getreten. Sie wurde mit der ersten Bundestagswahl und der ersten Regierungsbildung von Wählern und Gewählten mit Leben erfüllt. Wahlkampf, Wahlergebnis und die erste Regierungsbildung von 1949 bildeten das erste große politische Spiel auf dem noch holprigen Rasen der neuen Bundesrepublik Deutschland. An diesem Spiel beteiligten sich damals 25 Millionen Wählerinnen und Wähler, eine überraschend hohe Wahlbeteiligung von 78,5 Prozent, obwohl sich nach der Nazi-Katastrophe Millionen Deutsche geschworen hatten: „Nie wieder Politik.“ Das Grundgesetz war ohne Befragen der Wähler in Kraft getreten. Am Anfang war Adenauer.
Dieser Konrad Adenauer wurde neben Willy Brandt die stärkste politische Persönlichkeit der deutschen Nachkriegsgeschichte. Das was später als Kanzlerdemokratie bezeichnet wurde, hatte seine Wurzeln in der 1949 vorgegebenen Personalunion zwischen der Regierungs- und Parteifunktion Adenauers. Die Bundesrepublik Deutschland hatte von Beginn an mit der Auswahl seiner wichtigsten Spitzenpolitiker relatives Glück, was nicht für jedes Land nach 1945 gilt. Es begann mit Adenauer.
Friedrich Merz sieht in Konrad Adenauer sein Vorbild. Der erste Kanzler ebnete mit seiner Politik den Weg zur deutschen Kanzlerdemokratie. Er legte damit den Grund für jene potestas, seine Wirkmächtigkeit, ohne die seine spätere autoritas, seine Autorität, nicht möglich gewesen wäre. Das war und ist für den nächsten Bundeskanzler vorbildlich.
- Franz Alt „Es begann mit Adenauer. Der Weg zur Kanzlerdemokratie“ – Herder Verlag (1975)
- Franz Alt „Es begann mit Adenauer“ | Es war die Stunde Null nach 1945. Nazi-Deutschland war besiegt. Vor 75 Jahren, am 10. August 1948, begann am bayerischen Chiemsee eine Sternstunde der deutschen Demokratie-Geschichte.