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Esys-Gutachten: AKW brauchen künftig den Wasserstoff

Erneuerbare oder Atomkraft? Die Alternative machen manche Politiker und Medien gern auf. Doch AKW haben laut Energieforschern in künftig von Erneuerbaren bestimmten Stromsystemen nur eine Chance, wenn sie „nebenbei“ Wasserstoff produzieren.

Bildliche Vergleiche sind gefährlich. Jeder wisse, dass man Kernkraftwerke „nicht wie eine Schreibtischlampe ein- und ausschalten kann“, antwortete CDU-Chef Friedrich Merz Anfang der Woche auf die Frage, ob die Wiederbelebung der Atomkraft zu seinen politischen Absichten als kommender Kanzler gehöre.

Soll aus Merz‘ Sicht wohl heißen: Bei AKW ist Geduld gefragt. Das Bild von der leicht an- und auszuknipsenden Lampe verniedlicht die atomaren Risiken aber nicht nur, es ist falsch.

Denn im eigentlichen Sinn ausschalten lässt sich ein AKW nicht mehr, ist der atomare Brennprozess einmal gestartet. Die Kettenreaktion im Reaktor kann heruntergefahren oder die Stromerzeugung eingestellt werden, die Kernspaltung selbst aber läuft eine ziemliche Ewigkeit – so lange, bis das spaltbare Material aufgebraucht ist.

Der Schutz vor den Folgen einer unkontrollierten Kettenreaktion macht Atomkraftwerke denn auch im Bau so enorm teuer. Um das wieder hereinzuholen, müssen sie jahrzehntelang Tag und Nacht durchlaufen.

AKW sind sogenannte Grundlastkraftwerke. Solche Kraftwerke deckten in Deutschland lange Zeit den größten Teil des Strombedarfs. Neben den AKW waren das vor allem große Braunkohlemeiler. Das hat sich im letzten Jahrzehnt grundlegend geändert. Grundlastkraftwerke sind künftig nicht mehr nötig.

Eine Stromnachfrage nach Grundlast gibt es künftig nicht mehr

Das sagen nicht Ökostromfans, sondern die besten Energieforscher des Landes: „Eine zuverlässige klimaverträgliche Stromversorgung ist durch das Zusammenspiel von Solar- und Windenergie mit Speichern, einem flexiblen Stromverbrauch und Residuallastkraftwerken möglich.“ Der Satz steht wortwörtlich in einem Ende 2024 veröffentlichten Gutachten des Akademienprojekts „Energiesysteme der Zukunft“ (Esys).

Eine Grundlast im Sinne einer durchgehend zu deckenden Stromnachfrage werde es in Zukunft nicht mehr geben, bekräftigte Mitautorin Karen Pittel von der Uni München bei der Präsentation des Gutachtens.

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© Fotolia.com | Gina-Sanders | Kernkraft für Wasserstoff: Trotz ungeklärter Atommüll-Probleme und warnender Beispiele in Europa wollen einige wieder einsteigen.

Auch für Bastian Olzem passen Grundlastkraftwerke nicht mehr wirklich ins künftige Stromsystem. Anlässlich des Esys-Gutachtens verwies der Bereichsleiter beim Energiebranchenverband BDEW auf die künftig sinkende Zahl von Stunden, in denen große Kraftwerke voll genutzt werden. Aktuell gehe man hier von 3.000 bis 3.500 Stunden pro Kraftwerksblock und Jahr aus. Das werde bis auf 800 Stunden abnehmen, betonte Olzem. Da sei kaum noch Platz für Grundlastkraftwerke.

Den verbleibenden Rest übernehmen stattdessen sogenannte Residualkraftwerke, die als Reserve einspringen, wenn Wind, Sonne, Speicher und Verbraucher ans Ende ihrer Möglichkeiten gelangen, meist in einer „Dunkelflaute“. Solche Reservekraftwerke können aus Sicht der Energieforscher flexible gasbetriebene Anlagen sein – zum Beispiel die berühmten, praktisch aber noch nicht gesehenen Wasserstoff-Gaskraftwerke.

Weil Wasserstoff knapp und seine Verstromung ineffizient ist, fragten sich die Esys-Fachleute weiter, ob nicht auch klassische Grundlastkraftwerke als Stromreserve geeignet wären, beispielsweise die politisch so umstrittenen AKW.

Energieforscher: Privatwirtschaftlich rechnen sich AKW nicht

Tatsächlich setzen einige europäische Länder auf einen Mix aus Atomkraft und Erneuerbaren. Frankreich will zwar Photovoltaik und Windkraft auf See ausbauen und 2030 einen Erneuerbaren-Anteil beim Strom von 40 Prozent erreichen, bis 2050 aber auch mindestens sechs weitere AKW bauen.

Einen ähnlichen Stellenwert habe die Kernkraft in der Slowakei, konstatiert das Esys-Gutachten. Auch Bulgarien, Polen, Rumänien, Schweden, Tschechien und Ungarn planen demnach mit neuen AKW.

Die Schätzungen über die Kosten neuer Atomkraftwerke gehen dabei laut Gutachten weit auseinander, je nachdem, welche Sicherheitsstandards und Arbeitskosten angenommen werden und ob die Kosten für die atomaren Altlasten berücksichtigt werden oder nicht.

In zwei Punkten ist das Papier der Energieforscher aber eindeutig. Der erste: Privatwirtschaftlich rechnet sich der Bau neuer AKW nicht – im Unterschied zu den Erneuerbaren. Im Gutachten liest sich das so: „Bei heutigen Kostenparametern und betriebswirtschaftlichen Zinssätzen haben Kernkraftwerke einen klaren Kostennachteil gegenüber insbesondere erneuerbaren Technologien.“

Viele Photovoltaik- und Windkraftanlagen seien bereits heute auch ohne spezifische staatliche Fördermaßnahmen betriebswirtschaftlich tragfähig, insbesondere in Verbindung mit einem höheren CO2-Preis, stellt das Gutachten fest.

Wasserstofferzeugung könnte Kernkraftwerken Auslastung verschaffen

Zweiter Punkt: Damit AKW als Reservekraftwerke überhaupt eine Chance haben, müssen sie möglichst viele Stunden im Jahr Strom erzeugen, am besten jenseits von 7.000 Stunden. Den Schlüssel für eine Integration und einen wirtschaftlichen Betrieb von Grundlastkraftwerken sieht Esys-Mitglied Anke Weidlich künftig im Wasserstoffsektor. Die Kraftwerke könnten in Zeiten mit viel Sonne und Wind für die H2-Produktion genutzt werden, sagte die Energiewirtschaftlerin bei der Gutachten-Präsentation.

Wasserstoff, der mithilfe von Atomstrom hergestellt wird, nennt sich in der H2-Farbenlehre „roter Wasserstoff“. Er gilt in der EU inzwischen als CO2-arm. Dafür hat vor allem Frankreich gesorgt. Dem Land geht dabei weniger um den Wasserstoff, sondern vor allem um die Rentabilität seiner AKW.

Ob die atomaren H2-Träume aufgehen, ist dennoch weitgehend unklar. Zum einen wegen der Kosten. 2021 lagen die Kosten für „roten“ Wasserstoff laut einer Anfang 2024 veröffentlichten Esys-Studie bei 3,30 bis 6,80 Euro pro Kilogramm. Das liege etwas unterhalb der Kosten für „grünen“, also mit Ökostrom hergestellten Wasserstoff, aber deutlich über denen für „grauen“ und „blauen“ Wasserstoff. Ersterer wird aus fossilem Erdgas gewonnen, beim zweiten wird zusätzlich das CO2 abgeschieden.

Ob all diese Wasserstoffherstellungen mit H2 aus sonnenreichen Gegenden konkurrieren können, ist fraglich. Inzwischen soll es in Afrika Solarparks geben, die eine Kilowattstunde Strom für ein bis zwei Cent erzeugen. Das ergäbe nach Expertenangaben einen unschlagbaren Wasserstoffpreis von einem Euro pro Kilo.

Noch ein weiteres Problem macht dem „roten“ Wasserstoff zu schaffen – der enorm hohe Wasserbedarf. Dieser übersteige mit 414 Litern pro Kilo Wasserstoff die übrigen H2-Verfahren um ein Vielfaches, rechnet die Esys-Studie vor.

Zum ohnehin hohen Kühlwasserbedarf des Atomkraftwerks kommt eben noch das Wasser hinzu, das für die Elektrolyse benötigt wird. In Zeiten des Klimawandels ist ein hoher Wasserbedarf immer ein großes Risiko, wie inzwischen bekannt ist.

Eines macht das Gutachten zu den Grundlastkraftwerken auch klar: Je länger mit dem Bau oder der Wiederinbetriebnahme von AKW gewartet wird, desto weniger Raum auf dem Strommarkt wird für sie sein.

Friedrich Merz will als Bundeskanzler erstmal ein Rückbaumoratorium für die letzten stillgelegten deutschen AKW beschließen lassen, sagte er letzte Woche noch. Inwieweit es dann zu einer Wiederinbetriebnahme komme oder gar zu einem Bau neuer Kernkraftwerke, werde sicher nicht in dieser Wahlperiode entschieden und vollzogen, setzte er hinzu.

Sollte der Strommarkt dann aber schon dicht sein, kann die Union ja die „hässlichen Windräder“ (Merz) wieder en masse abreißen. Ein politisch gefährliches Bild, wie man weiß.

Quelle

Der Bericht wurde von der Redaktion „klimareporter.de“ (Jörg Staude) 2025 verfasst – der Artikel darf nicht ohne Genehmigung (post@klimareporter.de) weiterverbreitet werden! 

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