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Gütersloher Verlagshaus

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Die Menschheitsgeschichte ist eine Flüchtlingsgeschichte

Jesus, Buddha und Mohamed lehren Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung. Warum aber tun sich alle Religionen in der Praxis so schwer damit. Franz Alt im Interview mit dem Internet-Magazin „Muslim-Markt“.

MM: Sehr geehrter Herr Dr. Alt. Nach so kurzer Zeit haben wir wieder die Ehre, Ihnen einige Fragen stellen zu dürfen. Wie kam es zu ihrem neuen Buch „Flüchtling – Jesus, der Dalai Lama und andere Vertriebene“? 

Dr. Alt: Das Buch schrieb ich aus aktuellem Anlass. Ich möchte die „Flüchtlingskrise“ historisch einordnen und zeigen, dass die ganze Geschichte der Menschheit eine Flüchtlingsgeschichte ist. Wir dürfen unser christliches und humanistisches Gedächtnis nicht verlieren. Deshalb auch die Erinnerung an Jesus, der vor dem Kindesmörder Herodes fliehen musste und an den Dalai Lama, der seit 1959 als vielleicht ältester Flüchtling der Welt vor der chinesischen Schreckensherrschaft auf dem Dach der Welt fliehen musste.

MM: Nun werden bibelfeste Leser bei Jesus einwenden, dass er ja gar nicht geflohen ist, sondern wenn überhaupt, dann seine Mutter. Sollten Männer nicht lieber in ihrer Heimat bleiben und sich für Frieden und Gerechtigkeit aufopfern?

Dr. Alt: Nach dem Evangelisten Matthäus (Kapitel 2, 13 – 15) mussten Jesus und seine Eltern vor dem Kindesmörder Herodes nach Ägypten fliehen. Ich weiß, dass diese Flucht historisch umstritten ist. Ob Männer grundsätzlich in ihrer Heimat bleiben sollen, kann ich nicht von hier aus entscheiden. Für alle, die vor Bürgerkrieg, Hunger und Elend in ihrer Heimat fliehen, sollten wir Verständnis haben und helfen so gut es geht. Niemand soll sich „aufopfern“, jeder Mensch hat das Recht auf Glück und Wohlstand. Wäre hier Bürgerkrieg wie in Syrien würde ich auch über Flucht nachdenken. Und aus Deutschland sind in der Mitte des 19. Jahrhunderts Millionen Menschen in die USA, nach Kanada und Brasilien geflohen, weil sie hier verhungert wären und keine Chance auf einen Arbeitsplatz hatten.

MM: Sie behaupten auch „Wir schaffen das“, was übrigens auch wir vertreten (Wer sonst soll das schaffen, wenn nicht wir Deutsche?). Woher nehmen sie die Zuversicht?

Dr. Alt: Wiederum durch historische Erfahrung: Ich habe erlebt und auch in meinem Buch geschrieben, dass meine Elterngeneration nach 1945 etwa zwölf Millionen Ost-Flüchtlinge in Westdeutschland aufnahmen gegen die es dieselben Vorurteile gab wie heute gegen Flüchtlinge. Sie wurden dennoch integriert und haben ganz wesentlich zum weltberühmten deutschen Wirtschaftwunder in den Fünfzigern und Sechzigern des letzten Jahrhunderts beigetragen. Dasselbe geschah mit etwa acht Millionen Gastarbeitern in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern. Auch sie trugen zu unserem Wohlstand bei. Dasselbe geschieht jetzt wieder. Die Deutschen werden in spätestens fünf bis zehn Jahren Angela Merkel dankbar sein für ihre vorausschauende und humanitäre Flüchtlingspolitik. Flüchtlinge sind natürlich mehr als Arbeitskräfte und Rentenzahler von morgen. Sie sind eine kulturelle und spirituelle Bereicherung. Merkels Flüchtlingspolitik bringt Vorteile für die Flüchtlinge und für die Deutschen, also für die Alt-Deutschen wie für die Neu-Deutschen. Intelligente Humanität hilft allen. Die historische Erfahrung zeigt, dass offene Gesellschaften auch ökonomisch immer erfolgreicher sind als geschlossene Gesellschaften. Gerade in den Zeiten der Globalisierung ist doch klar: Wer sich abschottet, hat schon verloren. Offene Gesellschaften werden toleranter, bunter und erfolgreicher in jeder Beziehung.

MM: Weite Teile der Bevölkerung sind verunsichert und denken, dass sie nur die Wahl haben zwischen Überfremdung und Unmenschlichkeit. Welche Alternative haben sie denn sonst?

Dr. Alt: Für Politik und für uns Journalisten stellt sich vor allem diese Aufgabe: Angst kann nur durch Aufklärung, Aufklärung und nochmals Aufklärung überwunden werden. Dazu will ich mit meinem Buch beitragen. Wir haben in Deutschland überwiegend positive Erfahrung gemacht mit der Integration von Millionen Flüchtlingen. Auch jetzt werden wir mittel- und langfristig wieder erfahren: Wachsende Toleranz bereichert eine Gesellschaft. Kluge Menschen können immer voneinander lernen.

MM: Die Bundesregierung verbreitet einerseits die vernünftige Devise, dass die Fluchursachen bekämpft werden müssen und andererseits wurde erst vor wenigen Tagen eine neuerliche Waffenlieferung an Saudi-Arabien, einem der Hauptschuldigen für die Flüchtlinge – von der Bundesregierung genehmigt. wie soll die Bevölkerung dann der beabsichtigten Ursachenbekämpfung glauben schenken?

Dr. Alt: Wer Waffen liefert, darf sich über Flüchtlingsströme nicht wundern. Da haben sie völlig recht. Ohne Waffen gäbe es keine Kriege mehr. Wir müssen noch viel lernen über die wahren Fluchtursachen. Dasselbe gilt für den Klimawandel – eine weitere Fluchtursache. Zurzeit sind in Afrika 18 Millionen Menschen als Klimaflüchtlinge unterwegs. Irgendwann kommen auch dies Problem zu Fuß zu uns.

MM: Seit Tausenden von Jahren herrschen die Minderheiten der Superreichen mit dem Mittel des „teile und herrsche“, wobei dem Werkzeug des Sündenbocks die Funktion eines Unmutsblitzableiters zukommt. Gestern waren die Flüchtlinge jener Sündenbock und in der Vorahnung, dass morgen weniger Flüchtlinge kommen könnten werden jetzt die Muslime dazu aufgebaut. Warum funktioniert dieses Jahrtausende alte Machtinstrument der herrschenden Elite immer noch und was können wir dagegen tun?

Dr. Alt: Alle Religionen empfehlen mehr Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Entweder lernen wir dies endlich oder es werden noch viel mehr Flüchtlinge und Emigranten zu uns in das reiche Europa kommen. Wir können nur ernten, was wir säen. Das lehren uns Buddha, Jesus und Mohamed. In der Schule dieser Großen in der Menschheitsgeschichte können wir lernen wie eine bessere und gerechtere Welt organisiert werden kann. Im Talmud lese ich ebenso wie in der Intention im Koran und in der Bergpredigt diese Erkenntnis: „Wer einem Menschen das Leben rettet, rettet die ganze Welt“. Das ist ein Appell für mehr internationale Solidarität und weniger nationalistische Interessenpolitik.

MM: Angstmacher haben aber Konjunktur, wie es bei den letzten Landtagswahlen deutlich geworden ist. Was antworten sie auf NPD-Parole, die in subtilerer form auch von der AfD vertreten wird, dass wir nicht das Sozialamt für die ganze Welt sind?

Dr. Alt: Das ist ein dummer, nichtssagender Spruch. Ich kenne niemand, der das von Deutschland verlangt. Aber als reiches Land haben wir eine Verantwortung für mehr Gerechtigkeit in der Welt. Wenn wir das nicht endlich verstehen und ernst nehmen, dann kommen die Probleme weiterhin zu Fuß zu uns.

MM: Bedauerlicherweise ist nicht jeder Flüchtling wie Jesus oder der Dalai Lama. Wie können die diesbezüglich geschürten Sorgen auf der Ebene der Bürger abgebaut werden, wenn doch offensichtlich ein Teil der Sensationspresse gar kein Interesse am Abbau von Sorgen hat?

Dr. Alt: Ängste können nur durch geduldige und nachhaltige Aufklärung überwunden werden. Allerdings müssen sich auch die verängstigten und „besorgten“ Bürger  selbst darum bemühen. Ich sehe viele „besorgte“ Bürger, die lieber in ihrem Hass gegen Fremde verweilen als sich um Aufklärung zu bemühen. Hass aber macht krank.

MM: Wie erklären Sie sich die offensichtliche Aufteilung Deutschlands in Ost und West bezüglich der Ängste?

Dr. Alt: Ostdeutsche haben nach 1990 viel mehr Veränderung erlebt als wir Westdeutsche. Deshalb haben manche noch mehr Angst vor weiterer Veränderung. Aber diese Veränderung wird durch Millionen Migranten notwendig. Dass diese Veränderungen für unsere gesamtdeutsche Gesellschaft eine Chance zur Bereicherung sind, wird nur langfristig deutlich und letztlich auch verständlich.

MM: Der Kernaspekt des Christentums ist die Nächstenliebe. Sind Christen, was die Lautstärke angeht, in Deutschland in eine Minderheit geraten?

Dr. Alt: Der Kern aller Religionen ist die Liebe, und zwar ganz konkret und praktisch und nicht als Lippenbekenntnis. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass es gar keine Ausländer gibt, sondern nur Brüder und Schwestern unter der einen Sonne des himmlischen Vaters wie es Jesus in seiner Bergpredigt formuliert. Wer das wirklich versteht, verliert auch seine Angst vor den so genannten Fremden.

MM: Herr Dr. Alt, wir danken für das Interview.

Nils Müller | Franz Alt auf Mallorca
Quelle

Muslim-Markt 2016

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