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Franz Alt | Foto: Dirk Wächter

© Franz Alt | Foto: Dirk Wächter

Franz Alt: „Jetzt sind Putinversteher gefragt“

Franz Alt im Zoom-Gespräch von Florian Rötzer im OVERTON Magazin – Im Gespräch über das Risiko eines Atomkriegs, über Frieden durch Abwehrwaffen, die Fehler der NATO und Sicherheit im Atomzeitalter.

Sie sind einer der Erstunterzeichner des Manifests für Friedenvon Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht. Über 600.000 Menschen haben die Petition mittlerweile unterschrieben, am Samstag findet die Kundgebung „Aufstand für den Frieden“  ab 14 Uhr am Brandenburger Tor statt. Nun kann man sich fragen: Der Krieg dauert ja nun schon ein Jahr lang. Warum eigentlich jetzt die Dringlichkeit, zu Friedensverhandlungen aufzurufen.

Franz Alt: Weil jeden Tag in diesem schrecklichen Aggressionskrieg von Herrn Putin getötet und vergewaltigt wird. Und es findet ein kultureller Völkermord statt. Putin lässt alle Museen ausräumen und Kirchen zerstören. Es ist einfach ganz furchtbar. Ich habe ja 50 Jahre Erfahrung im politischen Journalismus an das, was die Chinesen in Tibet gemacht haben und bis zum heutigen Tag machen. Kultureller Genozid. Das versucht jetzt Putin auch in der Ukraine. Und deshalb muss der Krieg beendet werden. Je schneller, desto besser. Ich sehe immer mehr Eskalation. Deshalb habe ich diesen Aufruf unterschrieben, dass so rasch wie möglich verhandelt werden muss.

Sie sprechen von kulturellem Genozid. Findet der nicht auch auf der ukrainischen Seite statt? Es werden russische Bücher verbannt und aus den Bibliotheken ausgesperrt. Musik ist verboten von russischen Komponisten. Die ganzen Denkmäler werden geschliffen, auch von russischen Künstlern. Es findet eigentlich auf beiden Seiten eine ähnliche schlimme Geschichte statt.

Franz Alt: Das finde ich genauso unmöglich. Dostojewski und Tolstoi nicht mehr lesen zu dürfen, finde ich genauso unmöglich wie das, was die Russen unter Putin machen. Allerdings, da ist natürlich viel mehr Gewalt dabei, das muss man sehen. Der große Aggressor ist Putin, nicht die Ukraine. Russland hat die Ukraine angegriffen, das muss immer ganz deutlich werden. Deshalb wäre ich auch dafür, dass zum Beispiel die am Samstag geplante Demonstration in Berlin vor der russischen Botschaft stattfinden soll und nicht vor dem Brandenburger Tor, damit der Hauptadressat ganz klar ist.

Die Intention ist, wie es in dem Manifest auch heißt, dass die Bundesregierung aufgefordert wird, eine Allianz zu schmieden, um Friedensverhandlungen auf den Weg zu bringen. Dann wäre aber eigentlich Russland bzw. die russische Botschaft der falsche Adressat.

Franz Alt: Ja, da kann man lange drüber nachdenken. Ich bin ein überzeugter Pazifist seit Jahrzehnten. Die Friedensbewegung muss aber deutlich machen, wer der Hauptadressat ist.

Dieser Aufruf zu Friedensverhandlungen oder auch zum Pazifismus wurde ja wieder sehr heftig angegriffen. Wer Friedensverhandlungen erfordert, ist gleich ein Freund von Putin und unterstützt die russische Propaganda. Was würden Sie denn dazu sagen?

Franz Alt: Das sagt mehr über die Deutschen, die so argumentieren, als über Putin. Wie will ich denn mit Putin irgendwann eines Tages klar kommen – am besten morgen früh -, wenn ich ihn nicht zu verstehen versuche? Das ist ziemlich dummes Zeug. Jeder weiß aus seiner Partnerschaft, wenn ich den Partner nicht verstehe, dann kann ich nie klar kommen mit ihr oder ihm. Irgendwann muss man bei allem Streit sagen: Lass uns in Ruhe eine Tasse Tee trinken, völlig egal, was passiert. Aber ich vermisse Empathie. Die deutsche Friedensbewegung ist mir zurzeit zu unempathisch und sieht nicht das furchtbare Leid des ukrainischen Volkes. Wenn ein Volk so angegriffen wird wie die Ukraine zurzeit, dann muss ich auch mit Waffen helfen. Wenn das Töten dadurch verhindert wird. Viele deutsche Abwehrraketen haben russische Raketen vom Himmel geholt und ukrainisches Leben gerettet. Für mich ist das Leben heilig.

Also Sie würden sagen, was Sie wohl von den meisten Unterzeichnern des Manifests unterscheidet, dass die Waffenlieferungen weitergehen sollten, aber man müsste sie verbinden mit einer diplomatischen Initiative?

Franz Alt: Ich unterscheide als Pazifist natürlich zwischen Angriffswaffen und Abwehrwaffen. Ich bin kein Militärspezialist, aber ich habe von Militärs, die auch für Frieden sind, vernommen, dass deutsche Abwehrraketen an einem Tag im Januar 80 russische Raketen, die Leben zerstört hätten, in der Ukraine abgeschossen haben. Damit wurden Leben gerettet. Das ist für mich wahrer Pazifismus. Du sollst nicht töten ist das Urprinzip aller Religionen und aller Weisheitslehren. Und das schließt für mich immer auch ein: Du sollst nicht töten lassen. Nehmen Sie mal ein Beispiel, das wir alle kennen. In Ruanda waren bewaffnete UN-Soldaten, die einen Völkermord hätten verhindern können. Sie haben es nicht gemacht. Das ist für mich kein Pazifismus, das ist unterlassene Hilfeleistung und Beihilfe zu Massenmord. Das ist das Gegenteil von wirklichem Pazifismus.

So  waren auch immer die Paradoxa, die man lösen sollte, wenn man früher den Kriegsdienst verweigern wollte. Ein schwieriges Feld. Sie gehören seit langem der Friedensbewegung an. Wie unterscheidet sich die jetzige Stimmung von der in den ´1980er Jahren, was die Gegnerschaft zu Friedensbemühungen angeht?

Franz Alt: In den 1980er Jahren stand im Mittelpunkt das Verhindern eines Atomkriegs. Das steht jetzt auch wieder im Mittelpunkt. Jetzt rede ich mal an die andere Seite, zu denjenigen, die immer wieder sagen, die Putinschen Drohungen mit Atomwaffen müsse man gar nicht ernst nehmen. Also bitte, das sagen ja nicht nur Pazifisten, dass wir am Rande eines Atomkriegs stehen, auch amerikanische Atomwissenschaftler haben vor kurzem gewarnt, dass wir seit 60 Jahren oder seit der Kubakrise noch nie so nah am Atomkrieg standen wie jetzt. Nach ihnen stehen wir 90 Sekunden vor der Katastrophe, am Ende des Kalten Krieges waren wir bei 15 Minuten vor zwölf.

Atomkrieg ist ganz einfach. Atomkrieg hieße, es wäre der letzte Krieg der Menschheitsgeschichte, weil es danach keine Menschen mehr gäbe, die noch einen Krieg führen könnten. Das ist eine völlig andere Voraussetzung wie Pazifismus in einer Zeit vor der Atomkriegszeit. Das Schlimmste wäre ein Atomkrieg.

Die Generation Baerbock kann nicht mehr nachvollziehen, was meine Generation in der Phase der Kubakrise an Ängsten erlebt hat, dass morgen früh alles vorbei sein kann. Ich habe auch noch den Zweiten Weltkrieg erlebt. Ich weiß, was Krieg ist, mein Elternhaus wurde zweimal zerstört. Meine Mutter wurde, als wir gemeinsam im Keller saßen, durch einen Splitter am Ohr verletzt. Es ging um Millimeter und sie wäre tot gewesen. Also wenn man weiß, was Krieg ist, muss man differenzierter auf die jetzige Situation in der Ukraine schauen, auf das Leid auf der einen Seite und auf die Gefahr eines Dritten Weltkriegs und eines Atomkriegs auf der anderen Seite. Deshalb verstehe ich Olaf Scholz sehr gut, wenn er, auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, zögert, Waffen zu liefern. Mir ist bei Waffenlieferungen ein zögernder und zaudernder Bundeskanzler viel lieber als ein Draufgänger, der einfach blind die Augen vor den Gefahren einer weiteren Eskalation zumacht.

Ich stehe zwischen den Fronten, wenn Sie so wollen. Ich werde von vielen in der Friedensbewegung als Verräter bezeichnet, weil ich kein wahrer Pazifist mehr sei, wenn ich sage, dass man in der Situation auch überlegen muss, Frieden mit Waffen zu schaffen, mit Abwehrwaffen füge ich immer hinzu. Das ist die eine Seite. In Baden Baden gibt es eine Demo, zu der ich als Redner eingeladen bin. Ein junger Ukrainer sagt: Wenn der Alt redet, rede ich nicht, der will das Leid nicht beenden, der will unsere Kapitulation. Das will ich genau nicht. Aber da steht man, wenn man differenziert und eine neue Herausforderung neu bewerten muss, immer zwischen den Fronten. Als Journalist ist das der beste Platz, der einem passieren kann. Mich juckt das nicht.

Wenn man nun Friedensverhandlungen fordert, geht es auch um Kompromisse, die von beiden Seiten gefunden werden müssen. Welche Kompromisse wäre vernünftig zu fordern?

Franz Alt: Ich bin kein deutscher Besserwisser, der vom sicheren Platz in Baden-Baden aus den Ukrainern Ratschläge erteilt. Die Ukrainer müssen entscheiden, zu welchen Kompromissen sie bereit sind. Ich weiß, als Deutscher, die wir Waffen liefern, sind wir auch mitverantwortlich dafür, dass der Krieg möglichst nicht weiter eskaliert. Deshalb wäre mein Vorschlag, dass der UN-Generalsekretär eine Initiative ergreift. Der Papst hat vor kurzem im Südsudan eine Deeskalation bewirkt, er hat in Äthiopien vermittelt oder die verfeindeten Kongolesen einander nähergebracht, das sind Bürgerkriege, die genauso schlimm sind wie in Europa. Aber wir sehen alles nur aus der eurozentristischen Brille. Das ist eines der großen Probleme. Also, ich bin dem Kanzler dankbar für seine Vorsicht. Aber nach Brasilien zu fahren und zu sagen, Lula soll uns Waffen liefern, ist so weltfremd und eurozentrisch, als hätten die Brasilianer keine anderen Sorgen als die blöden Europäer, die sich gegenseitig umbringen, noch mit Waffen zu unterstützen.

Benevento Publishing
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Gorbatschow hat vorgemacht, dass man auch alles anders machen kann. Ich habe mit ihm zusammen ein Buch zu dem Thema mit dem Titel „Nie wieder Krieg“ geschrieben. Hier macht Gorbatschow deutlich, wie eine wirkliche Entfremdung im Sinne der Bergpredigt funktionieren kann. Ronald Reagan, dem er gegenübersaß, war auch nicht gerade ein Friedensengel. Das war ein kalter Krieger. Das war eines der politischen Wunder, die immer wieder passieren und an die ich glaube. Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist. Ich habe den Gorbatschow gefragt: Wie haben Sie das denn fertiggebracht? Er sagte:  Einmal hat mich meine Frau dazu gedrängt. Und zweitens ist es mir gelungen, zu Reagan ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Wir haben uns gegenseitig vertraut. Wir müssen Putin aus dieser Ecke holen, in die ihn auch die NATO zum Teil gedrängt hat. Am Ende des Kalten Krieges gab es 16 NATO-Mitglieder. Heute sind es 30. Mich hat das selten gejuckt, dass die NATO immer mehr erweitert wurde. Aber aus der Sicht von Putin ist es doch etwas ganz anderes. Putin hat einmal im Deutschen Bundestag vom Ende des Kalten Krieges gesprochen und alle haben applaudiert. Von links und rechts gab es Standing Ovations. Warum ist Putin anders geworden? Das fragen wir uns zu wenig.

Der wohl wichtigste Einschnitt war der Aufbau des amerikanischen Raketenabwehrschilds in Polen und Rumänien. Ab dem Zeitpunkt ist Putin umgeknickt.

Franz Alt: Putin ist ein Gauner. Putin ist ein Geheimdienstmensch – und die können tricksen und lügen und täuschen. Man muss an so einen Typ anders herangehen, wie wenn ich mit Lieschen Müller diskutiere. Das muss uns klar sein. Deshalb sind Putinversteher gefragt. Ein solcher Typ muss sich doch eingekreist fühlen, wenn der Kreis um ihn immer enger wird und wenn der Westen nicht bereit ist zu sagen: Putin, wir müssen auch über unsere eigenen, über unsere westlichen oder NATO-Fehler sprechen, die wir bisher gemacht haben. Wir sind bereit dazu. Wenn die alten Feindbilder wie auch auf der Sicherheitskonferenz vorherrschen, also: Wir sind die Guten und die Russen oder Putin ist der einzig Böse auf der Welt, werden wir nie Frieden bekommen.

Eine Behauptung des Westens war immer, dass der Krieg unprovoziert war, aber das war er nicht ganz. Man hat zumindest nicht alles getan, um ihn zu verhindern, oder?

Franz Alt: Ich höre dann immer wieder, die NATO sei ein Verteidigungsbündnis. Ja, natürlich, hoffentlich. Die NATO verhält sich auch jetzt sehr zurückhaltend, das muss ich auch sagen. Aber früher, nach 1990, hat man viele Chancen verpasst. Und da hätten wir die Sicherheitsbedenken der Russen mitberücksichtigen müssen. Es ist wichtig, in den Verhandlungen dafür zu sorgen, dass die Ukraine mehr Sicherheit vor Russland erhält, das ist ganz klar. Aber Sicherheit im Atomzeitalter heißt immer auch Sicherheit für die andere Seite.

Im Atomzeitalter gibt es, wenn wir das überleben wollen, nur eine gemeinsame Sicherheit. Das ist völlig anders wie in der Zeit der konventionellen Kriege. Es muss uns klar werden, dass wir eine völlig neue Situation haben. Das hat die Friedensbewegung noch nicht begriffen, aber auch Realpolitiker haben das bis jetzt noch nicht begriffen. Eine völlig neue Situation, in der wir versuchen müssen, Putin aus der Ecke herauszuholen. Was soll es anders geben? Die Alternative ist der dritte Weltkrieg oder der Atomkrieg am Schluss, wenn wir immer weiter eskalieren.

Im Hintergrund steht ja die Auseinandersetzung mit China. Hier trifft Ähnliches zu, was Sie jetzt mit Blick auf Russland sagten. China hat jetzt eine Friedensinitiative angekündigt.

Franz Alt: Der chinesische Vertreter hat auf der Sicherheitskonferenz angeboten, dass noch in dieser Woche die Chinesen einen Friedens- und Verhandlungsplan vorlegen. Ich bin da deshalb skeptisch, weil ich weiß, was die Chinesen in Tibet treiben und was mir mein Freund Dalai Lama immer wieder sagt, was da los ist. Ich war auch da. Meine Frau und ich haben Filme gedreht über das, was die Chinesen anstellen in Tibet oder was sie den Uiguren antun. Das alles muss ich im Hinterkopf haben, wenn ich das beurteile, was der chinesische Vertreter jetzt in München auf der Sicherheitskonferenz gesagt hat.

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Aber ich will mal die Bedenken im Moment zurückstellen. Wenn es der Ukraine hilft, diesen Krieg zu beenden, wäre ich auch bereit, die Chinesen als Verhandler oder als Anbieter von Verhandlungen zu akzeptieren. Aber ich würde dann weitergehen. Meine These heißt immer: Frieden für die Ukraine und Freiheit für Russland. Das ist realer Pazifismus. Man muss immer auch an die Opfer der anderen Seite denken, also auch an die 60.000 oder wahrscheinlich noch mehr gefallenen russischen Soldaten. Das sind genauso Menschen wie die Ukrainer.

Quelle

Zoom-Gespräch von Florian Rötzer im OVERTON Magazin 2023

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