Geschichtsvergessen und AfD-besessen
Gehört Horst Seehofer noch zu Deutschland, gehört Bayern noch zu Europa? Gibt es wirklich noch einen Unterschied zwischen Orban und Söder in ihrer Flüchtlingspolitik? Ist schon jemand aufgefallen, dass überwiegend Männer Angst vor Flüchtlingen haben und gegen diese hetzen? Von Franz Alt
In Deutschland sind es vor allem die Westentaschen-Trumps der CSU Söder und Seehofer oder auch Gauland und Dobrindt, in Ungarn Herr Orban, in den USA Herr Trump höchst selbst – während Frau Trump oder Frau Merkel noch immer menschlich empathisch empfinden und argumentieren.
Angela Merkels stärkster und überzeugendster Satz zu Beginn der Flüchtlingskrise 2015 hieß sinngemäß: Wenn wir Flüchtlingen gegenüber kein freundliches Gesicht mehr zeigen dürfen, „dann ist dies nicht mehr mein Land“. Manche Herren um sie herum waren schockiert.
Hauptsächlich Männer gegen Merkel
Es fällt in diesen Krisen-Wochen auch auf, dass überwiegend männliche Journalisten eine Kanzlerin-Dämmerung herbei schreiben und darüber Schadenfreude zu empfinden scheinen. Es ist der Mann Seehofer, der Frau Merkel in einen Kampf verwickelt, der schlussendlich ganz Europa in den Abgrund zu stürzen droht.
Es ist auch ein Mann in der Tagesschau-Redaktion, der hemmungslos Angela Merkel, vor kurzem erst demokratisch zur Kanzlerin wieder gewählt, zum Rücktritt auffordert. Gehört das zur Aufklärungspflicht von Journalisten?
Horst Seehofer, immer noch Mitglied der großen Koalition und Chef einer Koalitionspartei, die sich auch noch christlich nennt, droht inzwischen sogar der deutschen Crew des Flüchtlings-Rettungsschiffs „Lifeline“ mit Verhaftung. Lebensretter, die sich an internationalem Seerecht orientieren und Schiffbrüchigen helfen, werden vom deutschen Innenminister kriminalisiert. Das ist schändlich. Und für einen CSU-Politiker geistesarm.
Es ist ein geistiges Armutszeugnis, dass man eine „C“-Partei an ethische Grundwerte erinnern muss. Wer verhält sich hier kriminell? Und warum ist die Angst vor den Wählern wenige Wochen vor der bayerischen Landtagswahl so riesig und irrational? Denn selbst in Bayern stehen laut aktueller Umfragen mehr Wählerinnen und Wähler hinter Merkel als hinter Söder. Historisch gesehen steckt in jedem von uns ein Flüchtling. Doch die CSU ist geschichtsvergessen und AfD-besessen. Aber darüber berichten meine Herren Kollegen kaum.
Die stoische Ruhe der Kanzlerin
Die stoische Gelassenheit und Überzeugung, mit der die Kanzlerin derzeit in ganz Europa für ihre Flüchtlingspolitik kämpft, ist Journalisten kaum einen Kommentar wert – viel lieber schreiben sie über das aufgeregte Gockel-Gehabe bayerischer Spitzenpolitiker. Ich habe freilich auch bayerische CSU-Bürgermeister kennengelernt, die mich schon 2015 gefragt haben: „Warum redet Horst Seehofer vom Flüchtlingschaos – wir könnten doppelt so viel Flüchtlinge aufnehmen?“
Hätten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in den letzten Jahren nicht geholfen, im Mittelmeer zehntausende Flüchtlingsleben zu retten, wäre das „Mare Nostrum“ Europas noch ein viel größeres Massengrab geworden. Hetze gegen Helfer löst doch keine Krise, Horst Seehofer.
Merkels großer Fehler war sicherlich, noch bis zum Sommer 2015 Italien, Spanien und Griechenland mit den ankommenden Flüchtlingen weitgehend allein gelassen zu haben. Aber ist es deshalb ein Fehler, diese Politik im Herbst 2015 korrigiert zu haben und bis heute zu rechtfertigen?
Das Beispiel der Cap Anamur
Der aktuelle Streit zwischen den Unions-„Schwestern“ ist absurd. 2014 kamen schließlich mehr Flüchtlinge als 2018. Je weniger Flüchtlinge kommen, desto mehr verletzen sich die Unionsparteien mit ihrer Flüchtlingspolitik.
Vor bald 40 Jahren hat Rupert Neudeck mit seinem Rettungsschiff Cap Anamur im Südchinesischen Meer über 11.000 Boat People gerettet, die alle in Deutschland aufgenommen wurden. Schon damals wurde Neudeck – wie auch jetzt den Flüchtlingshelfern – vorgeworfen, er unterstütze Schlepper und Schleuser. Doch deutsche Fernsehzuschauer haben damals über 20 Millionen Mark gespendet, um die Boat-People zu retten und hierher bringen zu können.
Am 12. Mai diese Jahres wurde in seiner Heimatstadt Troisdorf ein Denkmal für den Lebensretter eingeweiht. Neudeck nannte Troisdorf, wo heute viele Boat-People von damals leben, immer „Klein-Saigon“. Bei dieser Feier sagte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble den 1.500 anwesenden Vietnamesen, die damals gerettet wurden, sie hätten „Deutschland bereichert“.
Gemeinsam mit deutschen Politikern und Helfern sangen die Geretteten „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland…blühe deutsches Vaterland“. Sie sangen die deutsche Nationalhymne innbrünstiger als sie je eine deutsche Fußball-Nationalmannschaft gesungen hat. Über der Bühne hing ein großes Banner mit der Aufschrift „Danke Deutschland“.
Hätten Horst Seehofer oder Markus Söder vor 2.000 Jahren in Oberägypten regiert, hätte das junge Flüchtlingskind Jesus aus Nazareth keine Chance gehabt, auf der Flucht vor König Herodes in Ägypten Asyl zu bekommen. Und die „christlichen“ Parteien müssten sich einen neuen Namen suchen, weil es das Christentum nicht gäbe.
Jetzt, wo so wenige Flüchtlinge übers Meer kommen wie seit langem nicht, ist die richtige Zeit, sich endlich auf eine humane und langfristige Flüchtlingspolitik zu besinnen. Das gemeinsame „C“ der Unionsparteien könnte dabei helfen. „Man kann mit der Bergpredigt regieren“. Der deutsche Bundespräsident und CDU-Politiker Richard von Weizsäcker hat mir das mal gesagt.
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