HÖRZU: „Das große Schmelzen“
Das „ewige Eis“ verschwindet immer schneller. Hier berichtet Autor und TV-Journalist Franz Alt exklusiv von Schauplätzen des Klimawandels.
Überschwemmung in Bayern durch Starkregen, Zwei-Jahres-Dürre in Kalifornien, immer schnellere Eisschmelze in Alaska und Grönland, am Südpol und am Nordpol. Der Klimawandel ist Realität. Am dramatischen Schmelzen der Gletscher vom Himalaya bis zur Arktis und von der Antarktis bis Grönland erkennen wir mit bloßem Auge am deutlichsten, was uns durch die Klimaerwärmung bevorsteht, wenn wir den Klimawandel in den nächsten 20 bis 30 Jahren nicht noch stoppen können. Die Klimaforscher sind sich weltweit einig: Es ist heute global wärmer als in den letzten 800.000 Jahren. Unsere Erde hat Fieber.
In den letzten fünf Jahren waren meine Frau und ich an fünf Tatorten der Gletscherschmelze: Am Südpol und am Nordpol, in Island, in Grönland und in Alaska. Die Erfahrung aller Reisen: Jedes Mal sagten uns die Gletscherforscher übereinstimmend: „Die Eisschmelze beschleunigt sich schneller als wir es vorhergesagt hatten“. Das heißt: Hunderte Millionen Menschen – von Bangladesch bis Afrika, von den pazifischen Inseln bis Südamerika und vielleicht auch in Europas Küstenstädten – werden ihre Heimat verlieren und zu Flüchtlingen, zu Klimaflüchtlingen, werden. Was in Europa heute noch kaum jemand weiß: Im Jahr 2016 sind in Afrika bereits 18 Millionen Klimaflüchtlinge unterwegs auf der Suche nach der nächsten Wasserstelle. Noch bleiben sie in Afrika. Noch! Aber was, wenn die Wasserknappheit als logische Folge des Klimawandels nicht bald gestoppt wird? Ohne Wasser kein Leben. Was bleibt ihnen außer der Flucht?
Mitte August dieses Jahres stehen wir am Fuß des Mendenhall-Gletschers in Alaska. Der nördlichste Bundesstaat der USA ist fünfmal größer als Deutschland, aber es leben nur 700.000 Menschen hier. Fast alle der 100.000 Alaska-Gletscher schmelzen schneller als es die Wissenschaftler noch vor einigen Jahren vermutet hatten.
Wer vor einem Eisberg oder Gletscher steht, dem ist als ob er vor einem stillen, weißen, heiligen Tempel Halt gemacht hätte. Aber diese weißen Tempel schmelzen schneller als sich in Europa heute die Kirchen leeren.
Unsere Reiseführerin Cordula Page zeigt uns Fotos, auf denen sie vor 25 Jahren am Rand des Exit-Gletschers stand – jetzt wachsen an derselben Stelle Bäume und Sträucher! Jahreszahlen im Wald markieren den dramatischen Rückzug der Gletscher. Alaskas „weiße Tempel“ werden zurzeit jedes Jahr um 150 bis 200 Meter kleiner.
Wissenschaftler schätzen, dass seit 1950 allein in Alaska das Gletschereis um 3.000 Kubik-Kilometer abgeschmolzen und ins Meer geflossen ist. Schon bei einem Anstieg um einen Meter, werden etwa 150 Millionen Menschen weltweit den Boden unter ihren Füßen verlieren und fliehen müssen. Was aber, wenn der Meeresspiegel in hundert Jahren um bis zu fünf Meter steigt, wie manche Wissenschaftler befürchten?
Der renommierte Klimaforscher Mojib Latif, mit dem wir 2014 die Arktis-Region besucht hatten, sagte uns schon damals: „Globale Erwärmung, schmelzende Gletscher, ansteigender Meeresspiegel Es besteht kein Zweifel mehr: Der Klimawandel ist in vollem Gang und der Mensch hat in zunehmendem Ausmaß Anteil daran.“ In Arktis- und Antarktis-Gletscherregionen sahen wir in den letzten Jahren ständig neue gewaltige Wasserfälle, die es vor 10 oder 20 Jahren noch gar nicht gegeben hatte.
Wenn die in Hessen geborene Cordula Page ihre alten Fotos von den Alaska-Gletschern anschaut und Besuchern zeigt, ist sie jedes Mal schockiert über das steigende Tempo der Eisschmelze in ihrer neuen Heimat und macht sich Sorgen um die Zukunft ihrer zwei in Alaska geborenen Kinder. Sie weiß, dass 97% des gesamten Süßwassers auf unserm Planeten im noch „ewigen“ Eis gespeichert sind und noch in diesem Jahrhundert der Menschheit die größte Wasserkatastrophe aller Zeiten droht. Zeitsprung ins Jahr 2014.
Wird Grönland grün?
Grönland, die größte Insel der Welt, ist noch größer als Alaska, hat aber nur etwa so viele Einwohner wie Baden-Baden, etwa 50.000. Wir sehen großartige arktische Landschaften, Fjorde mit blau-weißen und türkisfarbenen Eisbergen, kristallklares Wasser, vielfarbige Eskimosiedlungen. Wir vermuten, dass hier wahrscheinlich mehr Schlittenhunde leben als Menschen. Aber Grönland – Grünland hatte Erik der Rote aus Island die Insel vor 1000 Jahren getauft, weil es an den Küsten einige grüne Flecken gab – bietet auch für jeden mit offenen Augen den stärksten Anschauungsunterricht für die größte Bedrohung der menschlichen Spezies: den Klimawandel. Als Angela Merkel vor einigen Jahren hier war, sprach sie von der „Überlebensfrage der Menschheit“.
85% der Insel sind vom noch „ewigen Eis“ bedeckt. Grönlands Eiskappe ist 2.000 Kilometer lang, 1.000 Kilometer breit und bis zu dreitausend Meter dick. Wir sind überwältigt von Grönlands weißer Unendlichkeit.
Während ich diese Zeilen schreibe, erreicht mich folgende Meldung: „Arktis schmilzt im Rekordtempo“. Noch nie seit Beginn der Klimaaufzeichnungen ist das Meereis im hohen Norden so dramatisch zurückgegangen wie in den letzten fünf Jahren. Von ähnlichen Beobachtungen haben uns Forscher ein Jahr zuvor in der Antarktis berichtet. Wird Grönland grün?
Der Klimawandel schreitet zurzeit an den Polen unseres Planeten etwa doppelt bis dreimal so schnell voran wie in anderen Regionen. Das berichtet die Fachzeitschrift „Nature Climate Change“. Im Vergleich zu 1950 ist 2011 die Hälfte des damaligen Sommereises in der Arktis verschwunden. Zurzeit schmelzen dort jedes Jahr 250 Kubikkilometer Eis. Das ist etwa das fünffache Volumen des Bodensees.
Im Juli 2012 geschah in Grönland etwas Unerwartetes, für die Gletscherforscher ein Alptraum: Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte schmolz der gesamte Eisschild. Riesige Eisbrocken lösten sich und stürzten ins Meer. Wir flogen im Hubschrauber über den Ilulissat-Gletscher und waren überwältigt, weil sich eine dünne Eisschicht auf dem gesamten Gletscher erstmals in Schneematsch verwandelt hatte.
In der Arktis und Antarktis wird es immer wärmer. Wir haben zwei Tage im Juli erlebt, an denen es in Grönland wärmer war als in Deutschland. Schon der Sommer 2011 hatte Grönland im Schwitzkasten. Im ersten Halbjahr lag die Temperatur durchschnittlich um 1,5 bis 2,5 Grad über dem Niveau der letzten 30 Jahre – regional waren es sogar bis zu sieben Grad. Die uns begleitenden Wissenschaftler erwarten einen völlig eisfreien Arktis-Sommer schon bis 2020.
Die gesamte Nordost-Schifffahrtsroute zwischen Grönland und Ostasien ist jetzt im Sommer ohne Eisbrecher befahrbar. Das gleiche gilt für die Nordwest-Passage zwischen Grönland, Alaska und Kanada. Im vorletzten Bericht des UN-Klimarats (IPCC) im Jahr 2006 war diese Situation für das Jahr 2070 erwartet worden.
Der Meeresspiegel könnte nicht nur um 60 Zentimeter bis zum Ende unseres Jahrhunderts ansteigen wie im letzten IPCC-Bericht angenommen, sondern um einen bis fünf Meter. Schon bei einem Anstieg um einen Meter wären bis zu 150 Millionen Menschen betroffen, die dann keinen Boden mehr unter ihren Füßen hätten und fliehen müssten. Hauptsächlich Menschen in Millionenstädten an den Küsten rund um den Globus: zum Beispiel in Shanghai und Hongkong, in Calcutta und Bombay, in Kairo und Alexandria, in Rio und in Buenos Aires, aber auch in Bangladesch und Afrika.
In der Arktis taut bereits der Permafrostboden auf und setzt den Klimakiller Methan frei. Ein Methangas-Molekül zerstört das Klima etwa 22mal mehr als das Haupttreibhausgas CO2. In den Eisschichten Grönlands sind gewaltige Kohlenstoffvorkommen eingelagert, die sich dort in Jahrhunderten aus absterbenden Pflanzen gebildet haben.
300 Kilometer nördlich des Polarkreises, beim Hubschrauber-Flug über den Ilulissat-Fjord: Hier kommen die größten Eisberge Grönlands zur Welt. Eisberg heißt auf grönländisch „Ilulissat“. Vor über 100 Jahren brachte ein Eisberg, der von diesem Fjord kam, die Titanic zum Sinken.
Mitte September 2016 gab das dänische Meteorologische Institut bekannt: 2016 erneuter Hitzerekord in Grönland. Die Eisschmelze begann noch früher als in früheren Jahren. Heute liegt die Grönländische Durchschnittstemperatur um 2,3 Grad höher als im Schnitt zwischen 1981 und 2010. Der Eisschild nimmt heute doppelt so schnell ab wie im Schnitt des letzten Jahrhunderts.
Grönland: weißer Schnee – weiß-blaue Eisberge – kahl-schwarze Bergkuppen. Das einzigartige Naturparadies scheint dem Untergang geweiht. Unsere Wissenschaftler diskutieren nicht mehr wie noch vor einigen Jahren die Frage, ob das Eis verschwindet, sondern nur noch die Frage, wann das sein wird. 20 Kilometer schrumpfte der Ilulissat-Gletscher in letzten 10.000 Jahren vor 1850. Allein in den letzten Jahren schmolz das Eis um 10 Kilometer. Das Gebiet, das von der Eisschmelze betroffen ist, wächst permanent. Beim Flug lassen wir uns zeigen wie der Gletscher noch vor 150 Jahren fast den gesamten Fjord bedeckte. Doch heute ist der Fjord voller Eisberge, die vom Gletscher abgebrochen sind. „Die Gletscher kalben“, nennen die Wissenschaftler das Phänomen. Der ganze Fjord ist voller „Kälber“. Schließlich stehen wir am Rande der Abbruchkante des Gletschers. Es „ kalbt“ und kracht und poltert hier pausenlos. Auf acht Kilometer Länge „kalbt“ hier der Gletscher täglich mehr Eis in den Fjord wie in den Alpen alle Gletscher in einem Jahr zusammen.
Auf einer Karte haben die Wissenschaftler die Eisschmelze des Gletschers seit 1850 dokumentiert. Wir erschrecken über das zunehmende Tempo. In meinen weltweiten Vorträgen zu diesem Thema und zu den Erneuerbaren Energien gibt es immer noch gelegentlich Zweifel am Klimawandel. Ich werde künftig diese Bilder zeigen und die Skeptiker fragen: „Warum schmilzt in Grönland und in Alaska, am Südpol und am Nordpol das Eis, wenn es keinen Klimawandel gibt?“
Globale Eisschmelze: Hier tickt eine Zeitbombe planetarischer Größenordnung. Allein der Eisschild von Grönland enthält so viel Wasser, um den Meeresspiegel um sieben Meter ansteigen zu lassen. Dann wäre die Erde nicht mehr unser Freund, sondern unser Feind. Der noch schlafende Riese Antarktis könnte bei einer totalen Schmelze den Meeresspiegel um bis zu 70 Meter erhöhen.
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Quelle
FRANZ ALT 2016 | Erstveröffentlichung HÖRZU Nr. 47 / November 2016