‹ Zurück zur Übersicht
Bigi Alt | Adlerdame Tasttulek

© Bigi Alt | Adlerdame Tasttulek

„Mein Freund – der Adler“

Zorniger Wind pfeift über den Höhenkamm. Der Adler stößt verhaltene Schreie aus. Der Adlerjäger Sailuukhaan hat seine traditionelle Tracht angezogen und stellt uns stolz seinen Freund, den Adler Tasttulek ( „Die Dreijährige“) vor.

Zorniger Wind pfeift über den Höhenkamm. Der Adler stößt verhaltene Schreie aus. Der Adlerjäger Sailuukhaan hat seine traditionelle Tracht angezogen und stellt uns stolz seinen Freund, den Adler Tasttulek ( „Die Dreijährige“) vor. Ihre angriffslustigen rötlichen Adleraugen blitzen. Sie breitet ihre  riesigen Schwingen mit über zwei Meter Spannweite aus. Die Königin der Lüfte kann ihr größtes Opfer, einen Wolf, auf zwei Kilometer Entfernung wahrnehmen, stürzt mit 200 Stundenkilometern Geschwindigkeit auf ihn zu und schlägt mit voller Wucht ihre Krallen in seinen Körper. Sogar für einen Wolf das sichere Todesurteil. Die Adlerjäger benutzen für die Jagd nur weibliche Tiere. Weibchen sind beim Jagen aggressiver als Männchen. Das erfordert ihr Brutinstinkt.

„Die meisten Jäger jagen mit einem Gewehr. Das kann jeder. Aber Jagen mit einem Adler, das ist eine Kunst. Jedes Mal ein Abenteuer“, sagt uns der 59-jährige Lailuukhaan. Die Steinadler erjagen die Beute, halten sie fest und der Jäger tötet sie.

Wir sind bei den letzten Adlerjägern im Altai-Gebirge, am Ende der Welt, am Dreiländereck Russland, China und Mongolei. Hier ist der noch einzige Platz auf unserem Planeten, wo das Jagen mit dem König der Lüfte in seiner reinsten Form existiert. Es gibt hier noch dreihundert Adlerjäger, vor zehn Jahren waren es noch 420. Tasttulek, die Dreijährige, frisst im Sommer jeden Tag ein Kilogramm Fleisch, meist tote Mäuse. In den Wintermonaten bekommt sie nur jeden dritten Tag was zu Fressen, so bleibt sie hungrig auf Beute. Die Jagdsaison ist in den acht Wintermonaten von September bis April. Im letzten Winter hat unsere „Dreijährige“ acht Wölfe,  elf Füchse, drei Marder und drei Hasen sowie unzählige Vögel erlegt. Im Winter darf der Adler nie satt sein, sonst kommt er nicht mehr zurück. „Nur wenn die Dreijährige hungert, ist sie gut“, sagt der Jäger.

Der Nomade Sailuukhaam ernährt seine  10-köpfige Familie von seinen über 1.000 Tieren, mit denen er drei- bis viermal im Jahr Weideplatz und Jurte, also sein Nomadenzelt, wechselt. Die Adlerjagd ist sein traditionelles Hobby, das zusätzlich etwas Fleisch und Geld aus dem Verkauf der Felle bringt. Der Jäger kennt im Umkreis von 30 Kilometern jedes Adlernest. Dort hat er seine junge Adlerfrau als Küken geholt und einen Monat trainiert bevor er erstmals mit ihr auf die Jagd ging.

Unser Adlerjäger hat schon 23 Jahre mit Adlern gejagt so wie schon sein Vater und Großvater und deren Vorfahren. Einer seiner fünf Söhne will die Adlerjagd fortführen. Die „Dreijährige“ ist sein dritter Adler. Im Alter von zehn Jahren wird er sie freilassen. Adler werden bis zu 25 Jahre alt. Sie bekommen Jahr für Jahr andere Namen. Die Einjährigen heißen „Balapan“, die Zweijährigen „Ternek“, die Dreijährigen wie gesagt „Tasttulek“, die Vierjährigen „Ana“ usw.  und ab dem zehnten Lebensjahr heißen sie nur noch „Kar“. Die Jagd, so erklärt uns Sailuunkhaan, findet auf dem Rücken eines Pferdes statt. „Das Pferd muss unbedingt auf den Adler abgerichtet  und an ihn gewöhnt sein, weil der natürliche Fluchtinstinkt des Tieres es normalerweise nicht erlaubt, mit dem Adler zu kooperieren. Nomaden haben von Natur aus ein inniges Verhältnis zu ihren Tieren. Unser Jäger erzählt uns, dass er viel mit seinem Adler rede. „Du musst sein Freund werden. Der Adler ist Mitglied der Familie. Mensch, Pferd und Adler müssen eine Einheit bilden.“

5.000 Jahre alte Steinzeichnungen im Hohen Altai, in der Mitte Zentralasiens, zeugen von der langen Tradition der Adlerjagd. Früher war das Jagdglück Voraussetzung zum Überleben, heute eher Hobby und allenfalls ein Zubrot. „Schon am Hof unseres großen Tischingis Khan vor 800 Jahren wurde gejagt“, sagt uns Sailuukhan. „Ich bin sicher, dass es auch in 100 Jahren noch Adlerjäger geben wird. Unsere uralte Tradition wird weiterleben. Wir Adlerjäger sind so sehr damit verbunden, dass wir vor jeder Jagdsaison von unserem Adler und von der Jagd träumen.“

Milch, Käse, Quark, Fleisch – alles haben die mongolischen Nomaden von ihren Tieren. Allein mit der Wolle seiner Schafe verdient Sailuukhan etwa fünf Millionen Turik im Jahr, das sind circa 3.000 Euro. Das ist ein gutes, ausreichendes Nomadeneinkommen in der Mongolei.  Sein ältester Sohn studiert Ökologie, eine seiner Töchter Medizin. Die Jurte, das Nomadenzelt, wird mit dem getrockneten Dung seiner Tiere geheizt. Das Licht kommt – wie bei den meisten Nomadenzelten heute – von einer modernen Solaranlage. Nirgendwo auf der Welt gibt es pro Kopf der Bevölkerung so viele Tiere wie in der Mongolei. Etwa eine Million Nomaden haben 41 Millionen Tiere: Weiße Schafherden, schwarze Yaks, braunbunte Pferde, rotbraune Kamele. So bunt wie seine Herden so farbenprächtig ist das Innere seiner Jurte mit ihren Teppichen und Wandbehängen, voll von Tiermotiven.

Mit Raubvögeln auf Jagd zu gehen, ist für mongolische Nomaden der Inbegriff von Freiheit und Abenteuer. Für Nomaden haben Tiere selbstverständlich eine Seele und eine eigene Sprache. Nomaden sprechen ständig mit ihren Tieren. Mitte Juni dieses Jahres sind wir mit Sailuukhan verabredet. Er wohnt mit seiner Familie und seinen Tieren zurzeit etwa zehn Kilometer von der nordwestlichen Kreisstadt Sagsay entfernt. Wir werden in der Jurte empfangen und mit reichlich Buttertee, frischem Gebäck und viel Fleisch bewirtet. Hammelfleisch, Rinderfleisch, Pferdefleisch. Das Nomadenland ist kein Paradies für Vegetarier. Nach dem Essen werden Geschichten von Adlern und Adlerjägern erzählt.

Die Sprache der Tiere ist für Nomaden schon immer eine Selbstverständlichkeit. Jäger locken Fuchs und Vögel, Adler und Wolf mit Tönen an. In dem Film „Das weinende Kamel“ wird die Kamel-Mutter durch Musik zu Tränen gerührt und schließlich dazu gebracht, ihr zuvor abgelehntes Junge anzunehmen und säugen zu lassen. Nomadisches Leben schließt Tiere und Pflanzen, Wasser, Erde und Luft, aber auch Berge, Bäche und Bäume wie selbstverständlich mit ein. Das Pferd, das sie reiten und die Yakkuh, die sie melken, sind ihre unmittelbaren Nachbarn. Bei Nomaden lachen und weinen die Tiere, sie empfinden Schmerz und sie träumen auch wie selbstverständlich. Ihre Kamele haben eine ganz zarte Seele.

Umweltschutz ist in der Mongolei ein ganz großes Thema. Bei der Energiewende ist Deutschland das große Vorbild. Die Mongolen lehnen Atomkraftwerke ab und wollen sich in 30 Jahren zu 100% mit erneuerbaren Energien versorgen. Kein Problem: Hier scheint die Sonne satt an 300 Tagen im Jahr und an neun von zehn Tagen bläst starker Wind – schließlich sind wir im „Land der zornigen Winde“.

Heimat heißt für Mongolen nicht Vaterland, sondern Mutterland. Wenn die Menschen im Hohen Altai-Gebirge von Heimat sprechen, dann sagen sie Erde, Wasser, Luft und Wind. Als der auch in Deutschland populäre mongolische Schriftsteller Galsan Tschinag nach Leipzig zum Studium kam, nahm er einen Stein und Erde aus dem Altai mit.

„Erde ist immer Mutter und Erde ist immer Vater. Ehrfurcht habe ich vor jedem Flecken Erde und vor jedem Tupfen Himmel“, schreibt er. Das immer noch praktizierte Geistheilen und der Geisterglaube der Schamanen beinhalten Lobpreisungen an Mutter Erde und Vater Himmel, an die Geschwister Tiere und Pflanzen. Die nomadisch-schamanische Spiritualität erinnert uns an den Sonnengesang des Heiligen Franziskus.  Dieselbe Spiritualität finden wir auch im Vater Unser, wenn wir beten und bitten: „Unser Vater, der Du bist im Himmel.“ In der Mongolei sind der 1.300 Jahre alte tibetische Buddhismus und uralter Schamanismus eine einzigartige spirituelle Synthese eingegangen.

Der Altai ist geprägt von der Vielfältigkeit und Vielartigkeit seiner Landschaft: Hellblauer Himmel und dunkelblaue Flüsse, blendendes Weiß der Gletscher, aber auch Wolken, Schafherdenund Jurten leuchten weiß. In den vier Sommermonaten kommen noch das Grün der Bergwiesen und Weiden, rötliche Felsen, grünlich schimmernde Steine und Blumen in fast allen Farben dazu. Altai kommt von ala, bunt und von dag, Berg: bunte Berge. Aber an einigen Juni-Tagen ist der Himmel auch grauschwer, gewitterschwanger und regenvoll. Im Jurtenzelt erzeugt der Regen Geprassel und Geraschel wie eine tausendfüßige Herde. Doch am nächsten Morgen hat der Regen den Himmel rein gewaschen.

14 Tage fahren wir 1.200 Kilometer auf 1.800 bis 2.400 Metern Höhe durch steinige, staubende Steppe im Altai. Mit einem 25 Jahre alten russischen Jeep auf Feldwegen von Schlagloch zu Schlagloch. Wegen heftiger Überschwemmungen müssen wir ständig reissende Flüsse durchqueren. Eine Tour voller Lücken und Tücken, voller Rattern und Knattern. Doch wir werden belohnt: Grüne Wälder und Felder, 4.000 Meter hohe Schneeberge und weite Seen, Felswände und Schluchten ziehen langsam an uns vorbei. Die Zauberwelt aus Steppen, Bergen und Himmel empfinden wir als Wunderwerk der Schöpfung. Wir fahren durch das am dünnsten besiedelte Land der Welt;  viereinhalb mal so groß wie Deutschland, aber nur 2.7 Millionen Einwohner. Ein Zwergstaat mit riesigem Territorium, eingezwängt zwischen Russland und China und gesegnet mit Naturschätzen: Gold- und Silberminen, seltenen Erden, Öl- und Gasvorkommen, Kupfer und Kohle. Fast alles noch unerschlossen.

Schamanisch-buddhistische Nomaden,  so erfahren wir,  haben weniger Angst vor dem Tod als wir christlichen Abendländer. Wenn über 60-jährige sterben, dann sprechen sie nicht vom Tod, sondern vom Hinübergehen, ja sogar vom Hinüberleben. Und beim Beerdigen eines Menschen wird gebetet: „Mutter Erde, hier kommt ein Kind zurück, nimm es jetzt wieder zu dir.“ Der Körper geht zur Erde, der Geist zum Himmel zurück und die Seele wohnt im Zwischenreich.  Steine sind Freunde und Gewässer Geschwister. Nomaden glauben, sie hätten unendlich viel Zeit, Europäer meinen, sie hätten nie genug Zeit. Aber auch wir kommen vom Nomadenleben.

Der westliche Ich-Kult fällt allen gebildeten Nomaden im Westen unangenehm auf. Die 13 Mongolenvölker sprechen viel mehr vom Wir. Sie leben friedlich miteinander: Buddhisten, Moslems, Christen. Vielleicht gelingt es eines Tages auch, Abendländisches und Nomadenländisches zu integrieren, moderne Hochreligion und traditionelles, geistergläubiges Schamanentum zu versöhnen. Vielleicht lernen wir doch noch, dass der ganze Planet unsere Heimat ist und alle Menschen Geschwister sind. Europa und Asien sind ohnehin  e i n  Kontinent. Wir alle sind Eurasier.

Nomadenland und Abendland, so meditiere ich beim langen Rückflug von Ulan Bator nach Berlin, könnten viel voneinander lernen. Das Beachten der Naturgesetze wie es die Nomaden noch tun ist im Zeichen der ökologischen Krise allen Kulturen heiligste Pflicht. In allen Kulturen aller Zeiten und aller Religionen, vor allem aber bei Nomaden-Völkern,  gilt diese Erkenntnis: Gott hat uns die Zeit gegeben, von Eile hat er nichts gesagt. Und ein mongolisches Sprichwort sagt: „In der Eile sind Fehler“.

Download:
HÖRZU 14/2013 „Auf der Jagd mit dem Adler“
Exklusiv für HÖRZU beschreibt Franz Alt seine abenteuerliche Reise ins Altai-Gebirge der Mongolei zu den Nomaden

Bigi Alt | Seit 5000 Jahren bereits reiten Nomaden im Altai-Gebirge zur AdlerjagdBigi Alt | Franz Alt mit der Adlerdame Tasttulek und seinem Gastgeber Sailuukhaan
Quelle

Franz Alt | Erstveröffentlichung HÖRZU 14/2013
Franz Alt (Text) und Bigi Alt (Fotos) bei den letzten
Adlerjägern

Diese Meldung teilen

‹ Zurück zur Übersicht

Das könnte Sie auch interessieren