Mutter Teresa: Die „Heilige der Gosse“
Mutter Teresa wurde soeben von Papst Franziskus „Heilig“ gesprochen. Für die „Hörzu“ schrieb Franz Alt aus diesem Anlass diese Würdigung.
Ihr Schlüssel zur Erklärung der Welt war ein einziges Wort: Liebe
Und deshalb nannte Mutter Teresa den Orden, den sie gründete auch „Missionarinnen der Nächstenliebe“. Diesem Orden gehören jetzt, beinahe 20 Jahre nach ihrem Tod, 5.000 sozial engagierte Nonnen und Ordensbrüder aus allen Kontinenten an. Die Illustrierte „LIFE“ nahm ihre Heiligsprechung schon während ihrer Lebenszeit vorweg und nannte die Helferin der auf indischen Straßen und Slums Sterbenden die „Heilige der Gosse“.
2003 wurde sie von Papst Johannes Paul II selig gesprochen. Am 4. September 2016 wird Papst Franziskus sie in Rom heilig sprechen. Die junge Frau, 1910 in Albanien, im heutigen Skopje geboren, trat mit 18 Jahren in einen Orden ein. Dieser schickte sie als Lehrerin zehn Jahre später ins nordostindische Calcutta, schon damals die Hauptstadt der Armen in Indien. In der Millionenstadt war sie oft mit der Bahn unterwegs. Eines Tages fallen ihr die Todkranken auf den Straßen der Slums auf. Sie liegen in Pappkartons auf den Gehsteigen, unbeachtet inmitten vom Verkehr und heiligen Kühen, umgeben vom Lärm und Gestank. So wie es Günther Grass Jahrzehnte später in seinem Roman über das schmutzige, aber faszinierende Calcutta beschrieben hat. Die junge Ordensfrau aus Europa entdeckt plötzlich ihre Berufung und versteht: Das sind meine Brüder und Schwestern. Ihnen, den Ärmsten der Armen, will sie helfen – so wie es ihr großes Vorbild Jesus empfohlen hat.
Ihr war als riefe sie Jesus selbst: „Liebe mich in diesen Ärmsten“. Sie legt die Ordenskleidung der Loreto-Schwestern ab und kleidet sich nach diesem Ruf wie die armen indischen Frauen. Ihr Lebensmotto heißt künftig: „Dazu sind wir Menschen: zu lieben und geliebt zu werden“.
Mittelos und ganz allein beginnt sie ihre neue Arbeit mit den Armen, den Leprakranken und den Sterbenden. Fortan lebt sie als „Heilige der Gosse“ – für sie ein Ehrentitel. 1979 erhält sie den Friedensnobelpreis.
In jedem Menschen sieht sie ein Abbild Gottes. Jesu Lehre „Was ihr dem Geringsten meiner Geschwister tut, das tut ihr mir“, nimmt sie wörtlich ernst und folgt ihr so überzeugend, dass sich ihr blad viele Schülerinnen anschließen. 1950 gründet sie zusammen mit ihnen das „Missionarinnen der Nächstenliebe“. Die sterbenden Bettlerinnen und Bettler holt sie in ihr „Sterbehaus“ – damit sie „in Würde“ sterben können“. „In Würde“ – ebenfalls ein Schlüsselwort ihrer Arbeit. Dabei geht und kommt sie auch oft an ihre Grenzen. In ihrem Tagebuch verrät sie auch tiefe und schmerzhafte Glaubenszweifel. Nur ihre tief empfundene Berufung und ihre Gebete helfen ihr in Phasen der Verzweiflung und in Grenzsituationen. Sie ist nicht als Heilige geboren.
Sie gründet Lepra-Kolonien, eine Tuberkuloseklinik, ein Heim für ledige Mütter und Waisenhäuser für die vielen Straßenkinder in Indien. Ihre tausende Nachfolgerinnen und Nachfolger wirken heute in über 130 Ländern für Bedürftige.
Ihr Leben für die Schwachen macht Mutter Teresa weltbekannt. Sie wird von Präsident Reagan, vom Dalai Lama, von Helmut Kohl und in der UNO empfangen und bleibt immer bescheiden. Von einem Journalisten-Kollegen weiß ich, dass sie ihm ihr Erste-Klasse-Flug-Ticket verkaufte und zweite Klasse flog, um wieder etwas Geld für ihre Armen zu bekommen.
Natürlich ist sie auch umstritten. Ihre Ablehnung der Abtreibung und Geburtenkontrolle sowie der Scheidung nutzen Kritiker, um ihr „katholischen Fundamentalismus“ vorzuwerfen. Sie sei „ein Feigenblatt der Politik des Vatikan“ lese ich. Die Finanzierung ihrer Arbeit und die Herkunft ihrer Millionenspenden seien nicht immer transparent. Ärzte bemängeln, dass ihr Sterbehaus hygienische Mängel aufwies und Sterbende oft nicht mit Schmerzmitteln behandelt wurden. Und: Missionierung sei ihr wichtiger als humane Hilfe.
Dabei wird freilich übersehen, dass die „Missionarinnen der Nächstenliebe“ bis heute Menschen a l l e r Religionen und Konfessionen helfen und selbstverständlich auch Atheisten. Bei ihrer Hilfe ist ihnen Ethik wichtiger als Religion – wie es der Dalai Lama ausdrückt. Unter meinen indischen Freunden habe ich sowohl Kritiker wie auch Bewunderer und Unterstützer der Arbeit von Mutter Teresa getroffen.
Für uns Normalsterbliche ist es vielleicht tröstlich zu wissen, dass auch Heilige nicht immer heilig sind – auch Teilzeitheiligkeit wäre ja schon ein Fortschritt in der Menschheitsgeschichte.