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Bigi Alt

© Bigi Alt

„Wir brauchen mehr Achtsamkeit“

Treffen unter Freunden: Für HÖRZU führte der Publizist Franz Alt mit dem Dalai Lama ein Gespräch über brisante Fragen unsere Zeit und seine Vision für das 21. Jahrhundert.

Die Welt hört auf seine Worte: Der Dalai Lama findet Antwort auf bedeutende Fragen unseres Lebens. Publizist Franz Alt traf das geistige Oberhaupt der Tibeter in Frankfurt. Für die beiden war es bereits die 29. Begegnung seit 1982 – doch jede ist etwas Besonderes. Alt: „Auch wenn die Themen ernst sind, ich kenne niemanden, der so herzhaft lachen kann wie der Dalai Lama.“

Hörzu: In vielen Vorträge verwenden Sie das Wort Achtsamkeit. Warum ist es in unserer Zeit so wichtig?

Dalai Lama: Materiellen Werten wird heute zu viel Bedeutung beigemessen. Sie können uns aber nicht den psychischen Stress nehmen, die Ängste, Wut, Frustration. Um diese Belastungen zu überwinden, brauchen wir eine tiefere Ebene des Denkens. Das verstehe ich als Achtsamkeit. Tiefgründiges Denken und Fühlen sind wichtig.

Welchen Einfluss hat unser Denken auf unsere Gesundheit?

Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Seelenfrieden für unsere Gesundheit sehr, sehr wichtig ist. Zorn, Hass und Angst fressen unser Immunsystem auf. Ich sage stets: Es gibt sieben Milliarden Menschen, und alle haben das gleiche Potenzial, alle sind mental, emotional, physisch gleich. 

Deshalb haben alle die Möglichkeit, ihre Intelligenz angemessen einzusetzen. Es geht immer um die Klarheit des Geistes. Wir sollten analysieren: Was ist gut für unsere Gesundheit, was schädlich? Dann gilt es, zu handeln: Dies ist schädlich? Also meiden wir es. Ähnliches gilt für unsere Emotionen: Manche sind gut, auch für Gesundheit und Seelenfrieden. Andere sind sehr destruktiv. 

In diesen Wochen jährt sich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum 100. Mal. Glauben Sie, dass die Menschheit aus dieser Urkatastrophe des 20 Jahrhunderts gelernt hat?

Ich glaube, dass die Menschen, besonders die Europäer, wissen, was Krieg bedeutet. Viele Ältere erinnern sich noch sehr genau daran, wie zerstörerisch das war. Ganz ähnlich ist es in Japan. Ich hatte die Gelegenheit, einige Länder zu besuchen und mit den Menschen zu sprechen. Die meisten lehnen Gewalt ab, überall ist der Wunsch nach Frieden sehr ausgeprägt. 

Wie kann das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert des Friedens werden?

Wir müssen uns weltweit anstrengen, Gewalt zu stoppen. Wann immer wirtschaftliche Konflikte entstehen, muss allen klar werden: Das einzig Richtige und Hilfreiche ist der Dialog. Auch im Fall von religiösen Differenzen. Wir müssen lernen, dass wir alle Brüder und Schwestern sind. Das letzte Jahrhundert war das Jahrhundert der Gewalt. Das 21. sollte das des Dialogs werden. 

Wenn wir an morgen denken: Was ist wichtig für die junge Generation?

Ich glaube, dass wir beide, lieber Freund, wie alle Menschen des 20. Jahrhunderts viele Probleme geschaffen haben. Jetzt muss die Generation des 21. Jahrhunderts diese Probleme lösen. Auf friedliche Weise, im Dialog. Das 21. Jahrhundert ist erst 14 Jahre alt, die restlichen Jahre liegen noch vor uns. Es gibt also Möglichkeiten, die Welt zu verbessern, ein Umdenken zu bewirken. Weg von der Gewalt. Wir sollten immer sofort überlegen, wie wir Probleme im Dialog lösen können. Auf Familien- und Gemeindeebene, aber auch auf nationaler, internationaler, globaler Ebene. Ich denke, dass wir dies hauptsächlich durch Bildung erreichen können. Gewalt ist eine Methode von gestern. Medienvertreter, aber auch Lehrer und Eltern spielen dabei eine sehr wichtige Rolle. 

In Ihrer Heimat Tibet, die um Autonomie von China ringt, herrscht nach wie vor viel Gewalt. Wie ist es dort derzeit um die Menschenrechte bestellt?

Schlecht. Sehr schlecht. Unter den chinesischen Funktionären gibt es noch viele Betonköpfe. Sie glauben, durch Gewalt und Unterdrückung alle Probleme lösen zu können. Ich habe noch nie erlebt, dass der Einsatz von Gewalt, irgendwelche Konflikte geklärt hat, nirgendwo auf dieser Welt. Allerdings gibt es Anzeigen dafür, dass ein Umdenken einsetzt: bei der chinesischen Öffentlichkeit und auch bei einigen politischen Führern. Momentan jedoch leiden die Menschen in Tibet sehr. Deshalb die Selbstverbrennungen. 

Innerhalb der letzten drei Jahre haben sich mehr als 100 Tibeter durch Selbstverbrennung umgebracht.

Das ist traurig, zutiefst traurig. Diese Aktionen sind dramatisch. Das ist ein sehr heikles politisches Thema. Ich habe mich 2011 aus der polititschen Verantwortung zurückgezogen. Wenn ich mich äußere, drehen mir die politischen Hardliner in China  das Wort im Mund um. Deshalb schweige ich lieber. Und wenn ich spreche, dann sind das Gebete, nur Gebete. 

Sind Sie optimistisch, wenn Sie an das Verhältnis von China und Tibet denken Ja. Und warum?

Weil ich eine ganz neue Entwicklung sehe: Die buddhistische Bevölkerung in China zählt mehr als 400 Millionen Menschen. Viele zeigen ein ernsthaftes Interesse am Buddhismus und folgen seinen Lehren. Dementsprechend schätzen viele unser Wissen. In den vergangenen Jahren haben ich viele Chinesen getroffen, die sich ernsthaft besorgt über Tibet zeigten und mit uns solidarisch waren. Auch kommunistische Führer sprechen  zunehmend positiv über den Buddhismus. Das ist wirklich neu. 

Gibt es etwas, das alle Religionen eint?

Die Liebe! Keine Frage. Menschen glauben an Gott, den Schöpfer, sie praktizieren Liebe. Viele christliche Brüder und Schwestern widmen ihr Leben der Hilfe Anderer, besonders der Armen. All dies ist das Ergebnis der Lehre der Liebe. 

Sehen Sie für sich eine Chance auf Rückkehr nach Tibet?

Aber ja, lieber Freund. Dinge ändern sich.

Aber Sie sind schon 78 Jahre alt.

Wenn ich dieses Jahr sterben sollte, dann werde ich Tibet nicht mehr sehen. Aber wenn ich noch fünf, zehn, 15 oder 20 Jahre auf der Welt bin, dann ganz bestimmt.

Downloads:
„Wir brauchen mehr Achtsamkeit“ – HÖRZU-PDF – Download

Für HÖRZU sprach der Publizist Franz Alt mit dem Dalai Lama über brisante Fragen unserer Zeit und seine ganz persönliche Vision für das 21. Jahrhundert
FLIEGE-Magazin: „Für ein Jahrhundert des Dialogs“

Bigi Alt
Quelle

Franz Alt 2014 | Erstveröffentlichung HÖRZU Nr. 29 / 2014

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