Das Auto behält die Vorfahrt
Die Novelle der Straßenverkehrsordnung und des Straßenverkehrsgesetzes ist am Freitag im Bundestag beschlossen worden. Ein erster Schritt zu einer neuen, zeitgemäßen Verkehrspolitik, der aber nichts am „Grundgesetz der Straße“ ändert. Das Auto behält seine Dominanz. Eine Kolumne von Andreas Knie
In Berlin-Mitte ist jahrelang versucht worden, die dortige Invalidenstraße auf Tempo 30 herunterzuregulieren. Der öffentliche Raum ist sehr knapp, viele sind mit dem Fahrrad unterwegs, dazu kommt eine unübersichtliche Tramhaltestelle – und sehr viel Autoverkehr.
Doch die für Tempo 30 eingeholten Rechtsgutachten sprachen alle eine eindeutige Sprache: Es fehlte an einer ausreichenden Menge von Unfällen, die einen solchen Eingriff in das Straßenverkehrsrecht rechtssicher erlauben würde.
Dann änderte sich die Situation. Im September 2019 verlor ein SUV-Fahrer aufgrund eines epileptischen Anfalls die Kontrolle über sein Fahrzeug, raste in eine Fußgängergruppe und tötete vier Menschen. Wenige Wochen später wurde genau für diesen Straßenabschnitt die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf Tempo 30 reduziert.
Das Beispiel zeigt: Erst müssen Menschen sterben, dann kann reagiert werden. Kommunale Verkehrspolitik funktioniert nur mit einem Blutzoll!
Eine prospektive, vorausschauende und vorsorgende Verkehrspolitik, die Gefahren frühzeitig erkennt und eben dann schon einschreitet, bevor Menschen zu Schaden kommen, ist auf Basis der bisher bestehenden Straßenverkehrsordnung (StVO) nicht möglich.
Ungestörter Autoverkehr
Als der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg begann, seine weltberühmten Pop‑up-Radwege einzuführen, klagte die AfD erfolgreich vor dem Verwaltungsgericht. Der entsprechende Umbau des Kottbusser Dammes musste erstmal gestoppt werden.
Der Stadtbezirk hatte es verabsäumt, die bereits eingetretenen Unfälle mit Fahrradfahrenden minutiös zu dokumentieren. Erst als diese Liste des Grauens beigebracht wurde, konnte beim Oberverwaltungsgericht der Umbau durchgesetzt werden.
Dass dies kein haltbarer Zustand ist, dass wissen alle. Die Städteinitiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“ kämpft seit Jahren für die Einführung von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in städtischen Quartieren. Fast 1.000 Kommunen haben sich diesem Aufruf schon angeschlossen.
Solange die jetzige Verkehrsordnung gilt, folgt sie aber einem einzigen Prinzip: der Herstellung der Flüssigkeit und „Leichtigkeit des Verkehrs“, wie es in der Verordnung so schön heißt. In der Sprache der Richter bedeutet dies: Der Auto-Verkehr darf nicht unzumutbar gestört werden. Dies ist nur möglich, wenn es zu Unfällen gekommen ist. Keine Unfälle – keine Einschränkungen.
Das führte in der Vergangenheit vor allem dazu, dass die Schere bereits im Kopf der Planerinnen und Planer ansetzte. Im Bewusstsein, dass man am Ende doch wieder vor Gericht endet, fängt man erst gar nicht an, über eine Änderung des fließenden und ruhenden Autoverkehrs nachzudenken.
Gesetz der Straße
Woher kommt diese Regelung eigentlich, warum wird das alles so rigide durchgesetzt? Viele, die Auto fahren, kennen die StVO aus eigenem Erleben, weil sie falsch geparkt haben oder zu schnell gefahren sind und die Bußen immer mit Verweisen auf die geltenden StVO-Paragrafen ausgesprochen werden.
Aber erst langsam kommt in den Fokus der Aufmerksamkeit: Die StVO ist das Grundgesetz der Straße und regelt den Verkehr nach einem alles bestimmenden Kernelement: Der fließende und ruhende Autoverkehr darf nicht gestört werden. Das hat als oberstes Prinzip der Verkehrspolitik zu gelten.
Damit sind aber auch allen anderen Maßnahmen – etwa mehr und breitere Fahrradwege oder auch eine Vorrangschaltung für Busse und Bahnen – sehr enge Grenzen gesetzt. Die Gründe dafür liegen wie bei so vielen verkehrspolitischen Regeln weit zurück in der Vergangenheit.
Die Nationalsozialisten hatten das Auto in den Mittelpunkt ihrer Sozialpolitik gestellt. Wenige Wochen nach Machtantritt verkündete Adolf Hitler auf der Automobilausstellung 1933, dass in Deutschland jede Familie ein Auto haben sollte. Damals war das in Deutschland unvorstellbar, kostete doch schon ein kleines Fahrzeug das 30-Fache eines Arbeiterjahreslohnes.
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Quelle
Der Kommentar wurde von der Redaktion „klimareporter.de“ (Andreas Knie) 2023 verfasst – der Artikel darf nicht ohne Genehmigung (post@klimareporter.de) weiterverbreitet werden.