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CO2 als Maß aller Dinge

Die unheimliche Macht von Zahlen in der globalen Umweltpolitik

Der Klimawandel ist real, von globaler Reichweite und Bedeutung. Doch diese Bedrohung wird seltsamerweise fast ausschließlich als ein Problem zu hoher CO2-Emissionen wahrgenommen. Diese Publikation macht deutlich, dass die Art und Weise, wie wir ein Problem beschreiben, weitgehend festlegt, welche Schritte und Maßnahmen wir zur Lösung dieses Problems in Erwägung ziehen.

Am Beispiel des metrischen Denkens in der Klimapolitik lässt sich erkennen, wie zwar sehr viel neues Wissen hervorgebracht wird, gleichzeitig aber auch etliches verloren geht. Die Autor/innen berichtigen dafür die berühmte Formel, wonach man nur managen kann, was in Zahlen aufbereitet ist.

Inhaltsverzeichnis: 

  • Vorwort von Wolfgang Sachs (siehe unten) | Einleitung
  • 1. Kalorien und Temperatur
  • 2. Wie und warum wir CO2 berechnen
  • 3. Wie und warum wir das Wirtschaftswachstum berechnen
  • 4. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
  • 5. Dekarbonisierung?
  • 6. Metrische Denkart, Kapitalismus und Epistemizid
  • Schlussbemerkungen
……………………………………………………………………………………………………………………………………………………

Vorwort 

Diese Schrift ist ein Warnruf. Aber wovor wird gewarnt? Dass der vorherrschende Diskurs zur Eindämmung der Klimakatastrophe uns in die Irre leitet. Dass manche Lösungen das Verhängnis noch verschlimmern könnten. Dass der Denkstil, den man uns zur Bewältigung vorschlägt, die Welt unwirtlicher machen könnte. Um es mit einem klimatischen Vergleich zu sagen: Uns droht, vom Regen in die Traufe zu geraten.      

Gewöhnlich werden Klimaverhandlungen wegen Problemverschleppung und Problemverwirrung an den Pranger gestellt. Jedoch ist es auch höchste Zeit, nach ihren unbeabsichtigten Wirkungen auf unser Denken zu fragen. So interessieren sich die Autor/innen dieses Essays kaum für eine Kritik der ersten Ordnung, die schon von zahlreichen Kommentaren und Konferenzbeobachter/innen zur Genüge vorgebracht werden. Vielmehr geht es ihnen um eine Kritik der zweiten Ordnung, denn sie fragen: Was machen die Strategien zur Bewältigung des Klimawandels mit uns, mit unserem Verhältnis zur Natur und zur Gesellschaft? Strategien sind mehr oder weniger effektiv, aber welche Konsequenzen haben sie für unsere Weltsicht und unser Selbstverständnis? Diese Fragerichtung ist reflexiv, sie fragt nach der Welterzeugung bestimmter Reformen, die wir unternehmen. Und dies geschieht viel zu selten in der Umweltpolitik, die ja längst globale Innenpolitik geworden ist.       

Weltweit wird an der Klimapolitik herumgedoktert. Spätestens auf dem «Erdgipfel » von Rio de Janeiro 1992 wurde der Königsweg annonciert: Klimapolitik heißt, CO2-Emissionen zu reduzieren, also an der Output-Seite anzusetzen. Dementsprechend wurden in der Folgezeit Autos wie Haushaltsgeräte, Kraftwerke und Industrien effizienter gemacht. Dabei hätte es schon damals andere Wege gegeben. Zum Beispiel hätte man an der Input-Seite ansetzen und Schürf- wie Förderrechte von fossilen Brennstoffen limitieren oder Bergbau- und Ölunternehmen regulieren können. Eine Geschichte der Umweltpolitik als Geschichte vergessener Alternativen ist noch nicht geschrieben. Und da hätte auch ein zweiter Irrweg der globalen Klimapolitik einen prominenten Platz verdient: die Verrechenbarkeit der Emissionen, die aus der Verbrennung von fossilen Rohstoffen stammen, mit den Emissionen, die aus Land, Pflanzen und Tieren, also biologischen Prozessen stammen. Erst durch diese Verrechenbarkeit werden Reisfelder wie Kühe als Emissionsquellen und Tropenwälder wie Moore als Emissionssenken wahrgenommen – Rechnungseinheit: CO2-Äquivalente. Das waren Entscheidungen, die als Wissenschaft getarnt daherkamen, aber enorme politische Konsequenzen haben. Und ein dritter Fehlgang: der Handel mit Emissionszertifikaten. «Flexibilisierung» war das Stichwort im Kyoto-Protokoll 1997, mit dem sich die Industriestaaten bis heute teilweise von den absoluten Reduktionspflichten innerhalb ihre Grenzen davonstehlen, indem sie außerhalb ihrer Grenzen für eine relative Senkung von Emissionen sorgen. Damit war der globale Klimaschutz nicht nur verwässert worden, sondern endgültig in der Komplexitätsfalle gelandet. Und zugleich wurde der Weg bereitet für die schleichende Umdeutung der Wirklichkeit: das carbon-zentrierte Weltbild.        

Vor diesem Hintergrund machen uns die Autor/innen auf einen Schlüsselbegriff aufmerksam, der von der Naturwissenschaft zur Politik- wie Alltagssprache eingewandert ist. Vor ein paar Jahren hätte «carbon» noch erklärt werden müssen, heute ist der Begriff in aller Munde. Keine Klimaverhandlungen ohne «carbon accounting», kein Öko-Konsum ohne «carbon footprint», keine Klimabelastung ohne «carbon off-setting ». Dieses Jahr hat die «Dekarbonisierung» sogar die Weihen des G7-Gipfels auf Schloss Elmau in Deutschland erhalten. Zweifelsohne handeln die Akteure klimabewusst, aber sie legen sich üblicherweise nicht Rechenschaft darüber ab, was es heißt, wenn aus öko-radikalen Reformvorschlägen plötzlich weltpolitische Entwürfe werden. Tastend gibt der hier vorliegende Text darauf eine Antwort. Was bedeutet es, dass «carbon» zur Rechnungseinheit der Gesellschaft wird? Was heißt das für die Bewältigung der Naturkrise? Fördert oder hindert das einen Politik- und Mentalitätswandel?      

Skepsis ist angebracht, und das nicht unbegründet. Denn moderne Gesellschaften haben so ihre Erfahrungen mit Zahlen gemacht. Exemplarisch ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP): Die Berechnung der Wirtschaftsleistung im BIP (Englisch: GDP) war zur Zeit des Zweiten Weltkriegs sicherlich eine Innovation, doch in den folgenden Jahrzehnten wurde daraus eine statistische Gewohnheit mit Trophäencharakter und schließlich eine Frustration, aus der es fast kein Entrinnen gibt. Das BIP spielt sich als «Alleinherrscher» auf, es taucht die Geldwirtschaft ins grelle Licht und verdunkelt die nicht-ökonomischen Werte. So ist das BIP der Inbegriff für die monströse Schieflage unseres Wirtschaftssystems. Droht eine ähnliche Verlaufslinie – von der Innovation über die Gewohnheit zur Frustration –, wenn man «carbon» zum negativen Wohlstandsmaß für alle Gesellschaften macht?        Quantifizierung erleuchtet, doch zugleich verblendet sie. Wie das Fernlicht beim Auto: Im Lichtkegel sieht man die Straße gestochen scharf, daneben aber tritt die schwarze Nacht umso stärker hervor. Die Welt in Kohlenstoffeinheiten zu sehen, hat einen ähnlichen Scheinwerfereffekt. Wenn man dazu übergeht, alle Nationen und die Wirtschaftstätigkeiten in Kohlenstoffeinheiten zu berechnen und zu vergleichen, wird man blind für andere Erfordernisse in Ökologie und Gesellschaft. Geblendet von Zahlen, sieht man nicht die Vielfalt der Natur, der Kultur und der Lebensstile. Das gleicht einem erkenntnistheoretischen Mord – einem «Epistemizid». Mehr noch: Wenn die Kohlenstoffeinheiten zu Paketen verpackt und auf sogenannten Kohlenstoff-Märkten verkauft werden, kommen Normen wie Respekt vor der Natur, soziale Kooperation und individuelles Ehrgefühl unter die Räder.     

Die Autor/innen laden die Leserinnen und Leser ein, einen gut gemeinten Trend in der Klimapolitik gegen den Strich zu bürsten. Dafür demontieren sie die berühmte Formel, wonach man nur managen kann, was in Zahlen aufbereitet ist («If you can’t measure it, you can’t manage it»). Die herkömmliche Wirtschaftswissenschaft folgt diesem Ideal – unter der zusätzlichen Annahme, dass, was nicht zählbar ist, nicht existiert. Es besteht die Gefahr, dass «carbon accounting» eine weitere Runde der Geschichte der Quantifizierung ist. Und das führt uns eher tiefer in das «stählerne Gehäuse» (Max Weber) der Moderne.        

Berlin, im Oktober 2015 | Wolfgang Sachs

Heinrich-Böll-Stiftung
Quelle

Heinrich-Böll-Stiftung 2016

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