Die arabische Welt im 20. Jahrhundert
Trauer über Arabien. Wohin geht die arabische Welt im 21. Jahrhundert? Von Rupert Neudeck
Das ist ein opus mirandum, welches der Doyen der Arabisten und Orientalisten, Udo Steinbach, vorlegt. Gerade auf Grund der ganz aussichtlosen Versuche, den Krieg in Syrien gegen die Zivilbevölkerung zu beenden, den Palästina-Konflikt zu lösen, den Irak wieder als Staat zu stabilisieren, Ägypten aus der militärischen ungesunden Diktatur-Sackgasse zu befreien, hat der Autor, wie er in einem Begleitbrief zur Buchpublikation schreibt, einen Schritt zurück gesetzt. Es ist ja immer gut, man tritt in der Aktualität (die sich manchmal zum Aktualitätsterrorismus entfaltet) einen Schritt zurück, um sich der historischen Grundlagen wieder bewusst zu werden, unter denen die Araber gelitten haben und leiden.
Wie abgehoben der wirkliche Experte Steinbach von den Lesebemühungen eines normalen Lesepublikums ist, zeigt ein Satz im Vorwort: „Der Zwang zu geraffter Darstellung ließ es auch geraten sein, die namentliche Erwähnung auf die wichtigsten Akteure zu begrenzen“. Das ist deshalb so abgehoben, weil der Autor natürlich in seinem Umfeld meint, er habe begrenzt. Der Leser sieht es ganz anders, zumal die Namen alle in ihrer prachtvollen arabischen Länge ausgeschrieben werden. Das Buch beginnt mit dem Weg ins 20. Jahrhundert und der umstürzenden Entwicklung für die arabische Welt und das Osmanische Weltreich durch den Ersten Weltkrieg und den europäischen Imperialismus.
Dann kommt eine ganze vollständige Kette der arabischen Länder in Einzeldarstellungen (SS 53 – 301). Das geht von den bekannten, dem Lesepublikum in Deutschland bekannten Ländern bis hin zu Staaten am Rande der arabischen Welt wie Mauretanien, Somalia, Komoren, Dschibuti. Der Autor ist über die aktuelle Entwicklung so verzweifelt wie wir alle. Nach einer sehr ausführlichen Darstellung der Entwicklung des Landes heraus aus den Fängen der französischen Kolonialmacht und hin zu den Fehlern der Anfangszeit und den falschen Kalkulationen, sowohl was die Stärke des israelischen Militärs in Bezug auf den Golan angeht wie auch was die Unmöglichkeit angeht, jetzt das Land aus der Abhängigkeit vom Iran und von Russland zu befreien, schreibt er lapidar am Schluss des Kapitels: „Inwiefern der syrische Staat je wieder durch zentralstaatliche Gewalt innerhalb der Grenzen des französischen Mandatsgebietes hergestellt werden kann, bleibt angesichts des nun ganz Syrien umfassenden Kriegsgeschehens (2015) offen“. Das klingt nüchtern, ist aber auch Ausdruck des Mitleidens über fünf Jahre mit dem Volk der Syrer, das eine Regierung brauchen würde, die diesen Namen verdienen würde, die jetzige hat ihn nicht verdient.
An manchen Stellen meint man den sonst immer zu heftigen intellektuellen Attacken aufgelegten Professor Steinbach resigniert oder irenisch zu erleben. So wenn er im gleichen Syrien- Kapitel das Ergebnis der katastrophalen Teilnahme an dem Sechs Tage Krieg beschreibt: „Das Ergebnis des Krieges war nicht nur eine vernichtende Niederlage der syrischen Armee, auch die Golan Höhen im Süden des Landes … gingen dauerhaft verloren“. Meint das Udo Steinbach ganz ernst? Er beschreibt die unbeugsame und nicht zu beschreibende Brutalität, mit der der Staatsgründer Hafiz al Assad, ein Alawit, in Hama am 2. Februar 1982 die Muslimbruderschaft mit Stumpf und Stil versuchte auszurotten. Man sprach von 20.000, manche auch von 40.000 Toten.
Die Länder-Monographien sind alle ohne jede subjektive Beifügung geschrieben. Der Autor, der diese Länder ja kennt, hat es nicht nötig seine Expertise dadurch zu untermauern. Die beiden Länder-Artikel zu Marokko und zu Tunesien sind aus einem Guss. Jedes Länderkapitel lässt der Autor durch ein statistisches Organigramm in dem Text einbauen. Es sind zwei Länder, die im Gesamt der betrüblichen anarchischen Masse der arabischen Welt herausragen durch eine staatliche Disziplin und durch eine gewisse Bereitschaft, unkonventionelle Dinge zu betreiben In Tunesien beschreibt er den Vater des Vaterlandes, der durch einen Mann nicht des gleichen Formats gestürzt wurde. Dieser General Zine Ben Ali Habib Bourguiba für senil und des Herrschens unfähig erklärte. Steinbach macht es deutlich Die wichtigen Herrschergestalten haben alle Ihre Promotionsurkunde in Frankreich abgeholt. Das zeugt manchmal für Heroismus, denn Habib Bourguiba war 1924 zum Studium in Paris, vorher war er auf das berühmte College Sardiki gegangen, wurde dann aber als Umstürzler ins französische Gefängnis gebracht, aus dem er erst 1943 entlassen wurde. 1952 wurde er noch mal verhaftet und eingelocht. Doch dann kam die Unabhängigkeit 1954, erst als behütete Autonomie, dann ganz. Bourguiba war der Vater des Vaterlandes bis 1987.
Dann kam die Herrschaft von Ben Ali, die sich immer heftiger zu einer Kleptokratie a la Mobutu im Kongo-Zaire auswuchs, zumal Ben Alis Frau sich an dieser Bereicherung schamlos beteiligte. Es kam in Tunesien, dieser Ruf wird dem Land nicht zu nehmen sein, zum Fanfarensignal und Aufbruch für die Dritte arabische Revolution. Steinbach macht in dem Buch überdeutlich, dass diese Rebellion noch lange nicht zu Ende ist, selbst wenn sie von Aktualitätsfritzen in den Medien immer schon totgeschrieben wird. Nein, die langwirkenden Folgen dieser drei Arabischen Revolutionen werden wir die nächsten Jahre noch erleben können. Mit dem 17. Dezember 2010 begann etwas, wozu Immanuel Kant gesagt hätte: „Das vergisst sich nicht!“ Die Selbstverbrennung des Strassenverkäufers Bouazizi wird als Fanal durch die Geschichte der arabischen Länder erhalten bleiben. Am 14. Januar 2011 floh und flog Hals über Kopf der nichtsnutzige Präsident Ben Ali aus dem Land nach Saudi Arabien. Es wird der französischen Regierung lange noch zur Schande gereichen, dass die damalige französische Außenministerin Alliot-Marie zwei Tage vor dem endgültigen Ende des Präsidenten diesem noch die „Unterstützung der bewährten französischen Sicherheitskräfte“ angeboten hat.
Marokko war ein ähnlicher Hort der Stabilität. Das Land war in den Stürmen des Nahost- und Israel Palästina Konflikts immer etwas anders aufgestellt. Es gibt bis heute eine jüdische Gemeinde von, wie Steinbach schreibt, 5.000 Juden im Lande. Der damalige König Hassan II. hatte auch den ehemaligen Premierminister Israels Itzhak Shamir einmal in Rabat zu Besuch. Das Land macht eine manchmal zu selbstbewußte Politik, obwohl die Einschätzung von Udo Steinbach gegenüber dem Konflikt mit dem von der UNO anerkannten Land, der Westsaharischen Republik anders einzuschätzen ist. Steinbach schreibt, das Problem der Westsahara sei ein Erbe der Kolonialzeit. Im 19. Jahrhundert hatten Frankreich und Spanien um die Westsahara als Kolonialmächte rivalisiert. 1884 bis 1937 hatte Spanien das Gebiet annektiert und es bis 1958 als eigenes Hoheitsgebiet verwaltet. Das Interesse Spaniens lag an den reichen Phosphatvorkommen bei Saqiya al Hamra. Ende der 1960er Jahre entwickelte sich ein sahrauisches Nationalgefühl. Steinbach macht uns nicht ganz klar, ob das nur eine Chimäre ist oder mehr. Wenn es mehr ist, ist das Verhalten Marokkos und Mauretaniens auf afrikanische Art imperialistisch. Aber es gab den Grünen Marsch durch die Sahara am 6. November 1975 unter Beteiligung von 350.000 Marokkanern und in Anwesenheit des marokkanischen Premierministers. Für diese Eroberung schloss sich Marokko auch aus der Afrikanischen Union aus.
Sehr gespannt ist der Leser auf die Ländermonographie zu Saudi Arabien Auch da hält sich Steinbach eher zurück. Er betont noch mal das Entsetzen in den USA, als man erfuhr, dass 15 der 19 Attentäter auf den World Trade Tower Bewohner Saudi Arabiens waren. Die schwierigste und gefährlichste Entscheidung des saudischen Königs betraf die Stationierung von ‚ungläubigen‘ US-Truppen in Saudi Arabien aus Anlass des Angriffs von Kuweit durch Saddam Hussein am 2. August 1990. Das war der Anlass einer weltweiten Bewegung namens al Qaida, die aber auch schon am Ende ist. Auf Dauer wird sich mit der digitalen Kommunikationsrevolution der alte patriarchale Untergrund in der Gesellschaft sich nicht halten können.
Dass 7 Millionen Arbeiter ohne alle Rechte und vor allem ohne jede Möglichkeit, sich als Vollbürger anzumelden, hier die Dreckarbeit für einen elitäre, im Ölgeld schwimmende Bevölkerung tut (29,9 Mio. Bevölkerung) , ist ein Sonderfall unter allen, geradezu eine nachgehpolte Form einer milderen, aber dennoch realen Apartheid. Dass ‚man‘, die UNO, die Weltgemeinschaft, Amnesty usw. sich dagegen noch nicht wirklich erhoben haben, ist für den Beobachter schleierhaft. Steinbach beendet das Saudi Kapitel ohne Prognose, aber mit Fragen: „Wird es zu tiefgreifenden Reformen kommen, die dem Tatbestand gesellschaftlicher und weltanschaulicher Pluralität im Lande entsprechen? Wird es gelingen, innerhalb der Familie Sa’ud zu einer Regelung der Nachfolge des Königs zu kommen, die die Stellung der Jüngeren stärkt?“ An einer anderen Stelle fügt er hinzu, dass die Großfamilie des Königshauses mittlerweile 6000 Mitglieder zu alimentieren hat. Das wäre auch die Zahl der Menschen, die im Fall eines Umsturzes irgendwo ein Exilland und Luxus-Unterkunft suchen müssen.
Überraschenderweise fügt der Autor vier Länderporträts von Staaten bei, die eigentlich (?) keine arabischen Staaten sind, die aber noch am Rande der arabischen Welt angesiedelt sind. Überraschenderweise sind das Mauretanien, ein Land, durch das die manchmal rassistische Trennung zwischen Schwarzafrikanern und Arabern auch heftig geht, noch überraschender Somalia, das in seiner bis heute nicht erkennbaren Identität sich manchmal dem arabischen Lager zugewandt fühlte, dann noch die Ferieninseln Komoren und das Bollwerk internationaler Militäreinsetze und Schiffspassagen Dschibuti.
Mauretanien ist das einzige Land, bei dem ich dem großen Experten vielleicht noch eine Information hinzufügen kann. Das Land, riesengroß mit kleiner Bevölkerung, 3,7 Mio. Menschen leben in diesem riesigen Flächenstaat in einigen Städten. Es hat einen Islam, der berückenderweise die Gesellschaft ganz auszeichnet: Der Staat leistet sich seit 40 Jahren eine römisch-katholische Diözese, die im ganzen Land als Ausländerkirche Schul-, Kindergarten- und Krankenhaus-arbeit macht und nirgendwo gefährdet ist. Dazu trägt auch die kluge Person des Bischofs bei, der auch noch ein Deutscher ist, Msgr. Martin Happe, der sich durch eine für geistliche Würdenträger außerordentliche pragmatische Klugheit in seinem Sprengel auszeichnet und für mich einer der besten Experten in Arabicis und Afrikanistik ist, war er doch vorher nach seiner Priesterweihe schon Apostolischer Administrator in Mopti Mali. Das Land hat die Beziehungen mit Israel wieder aufgenommen, nachdem die USA der Regierung sagte, damit könnten sie auch die Beziehungen zu den USA verbessern.
Bei Somalia haben wir damals in der großen Flüchtlingskrise unter Siad Barre erlebt, dass die Leute über die Arabisch-Zwangskurse eher gespottet haben, für die man bei den Behörden freie Zeit bekam.
In dem Schlusskapitel beklagt Steinbach die mangelnde Arabische Politik der Europäischen Union wie auch Deutschlands. Er beharrt darauf, dass die Reformen, auch wenn sie jetzt erst mal mit Waffen und drakonischen Polizeimaßnahmen unterdrückt wurden, weitergehen. Steinbach verweist auf seine Heldin Huda Scha’rawi und Ihre Mitstreiterinnen, die am Bahnhof in Kairo Ihre Schleier ablegten als symbolische Geste für das Streben nach Emanzipation und nach Beendigung der Diskriminierung. Andererseits habe sich auch unter dem Kopftuch ein „Feminismus“ entwickelt, der aus dem Bekenntnis zur Religion die umfängliche Verwirklichung von Menschen und Bürgerrechten für die Frauen fordert.
Für Deutschland sei der arabische Raum im 20. Jahrhundert nur ein politischer Seitenschauplatz gewesen, schreibt Steinbach am Schluss. Er erwähnt noch mal den bramabasierenden Kaiser Wilhelm II, der im Jahre 1898 zu einem Besuch in Palästina aufbrach. Auf dem Rückweg von Jerusalem kam es anlässlich des Besuchs des Kaisers am Grabe von Sultan Saladin in Damaskus zu dem berühmten Ausspruch: „Möge der Sultan und mögen die 300 Mio. Mohammedaner dessen versichert sein, dass zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein wird“. Zu Zeiten des Kalten Krieges haben die beiden deutschen Staaten sich Konkurrenz gemacht. Walter Ulbricht wurde von Gamal Abdel Nasser im Februar 1965 wie ein Staatsoberhaupt mit allen Ehren empfangen. Sehr klar sagt Steinbach, dass die Verbindung des Holocaust mit der Verpflichtung auf das Existenz – Recht Israels „zu einer Art Dogma führte, nach dem es unzulässig sei, die Politik Israels zu kritisieren.“ Dies habe die Politik Deutschlands immer wieder in einen Konflikt zwischen den Prinzipien deutscher (und internationaler) Politik und der Hinnahme einer Politik Israels geführt, die mit denen den Prinzipien unvereinbar war.