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Dunkelgrüne Religion

Dunkelgrüne Religion ist weltweit auf dem Vormarsch! Das behauptet ein US-amerikanischer Bestseller, der vor kurzem auch in Deutsch erschienen ist. Professor Udo E. Simonis hat für uns das Buch gelesen.

Eine grüne, eine dunkelgrüne Religion – gibt es das überhaupt?

Dass monotheistische Religionen wie Judentum, Christentum und Islam grüner werden können und sollten, ist nicht das Hauptaugenmerk des Autors; Abraham, Jesus Christus, und Mohammed sind nicht Bezugspunkte, auch nicht Erneuerer wie Martin Luther oder Papst Franziskus mit der Laudatio si‘. Es geht dem Autor um etwas ganz Anderes. Er beschreibt es so:

Dunkelgrüne Religion ist wie ein Phantom

Sie hat keinen Namen und keine Institution, keinen heiligen Text, keine klare religiöse Hierarchie oder eine charismatische Figur, die für die Verbreitung des Glaubens und die Betreuung der Gläubigen verantwortlich wäre. Und doch, wenn man genau hinschaut und die richtige Linse benutzt, wird das Phantom sichtbar. Genau hingeschaut und die richtige Linse benutzt, bestärken den Autor darin, dass es diese Religion gibt: Es gibt sie in den Köpfen und Herzen von Individuen, die Organisationen gründen oder sich zu Gruppen hingezogen fühlen, in denen die Grundhaltungen und moralischen Überzeugungen dieser Religion Ausdruck finden. Sie hat viele charismatische Persönlichkeiten und auch bürokratische Mechanismen, die sie für die weltweite Verbreitung einsetzen und wird verstärkt und bekannt durch künstlerische Ausdrucksformen, durch Wissenschaft, Film und Literatur.

Der zentrale Punkt aber ist: Dunkelgrüne Religion ist eine Grundhaltung und Überzeugung, die die Natur als heilig, mit intrinsischem Wert ausgestattet und dem verehrenden Schutz würdig betrachtet – und die sich über die ganze Welt verbreitet hat. Die Wahrnehmung der Biosphäre als einen heiligen Super-Organismus und als Wertesystem, das in gefühlter Verwandtschaft und in Respekt für alle Lebewesen gründet, ist also konstitutiv für die dunkelgrüne Religion. 

Aber kann man diese Grundhaltung und Überzeugung eine Religion nennen? Das ist für den Autor eigentlich kein Thema. Über unendlich lange Zeit sei diskutiert worden, was eine Religion ausmache – ein Konsens wurde nicht erzielt. Und was ist mit dem Wort „dunkel“ gemeint? Der Autor will damit nicht nur betonen, wie tief das Ernstnehmen der Natur hierbei geht, sondern auch zum Ausdruck bringen, dass diese Religion auch eine Schattenseite haben könnte – unter Umständen radikale Formen annehmen und Gewaltbereitschaft verstärken könnte.

Bron Taylor ist Schöpfer des Begriffs „Dark Green Religion – Dunkelgrüne Religion“. Er erhebt keinen Anspruch auf diese Erfindung, fragt sich aber selbst, ob er einen anderen Begriff für seine Ideen und dieses Buch hätte wählen sollen. Für alternative Terminologie gibt es nämlich eine Reihe von Kandidaten, einer davon wäre „Pantheismus“. Diesen Begriff hält er aber für nicht angemessen, weil seine etymologischen Wurzen zu stark mit dem Gottesglauben und mit Theologie verbunden sind. Bessere Kandidaten seien Tiefenökologie, Paganismus und Naturreligion.

Den Begriff „Tiefenökologie“ hat er aber nicht gewählt, weil er sehr eng mit der Philosophie von Arne Naess („The Shallow and the Deep“) und der Politik des radikalen Umweltschutzes verbunden ist. Der Begriff „Paganismus“ scheint ihm eher ungeeignet, weil er in vielen Kulturen noch immer negativ besetzt ist und viele der Praktizierenden des heutigen Paganismus polytheistisch sind und an nicht materielle göttliche Wesen glauben, was für die ihn interessierenden Phänomene nicht konstitutiv sei. Den Begriff „Naturreligion“ hat er nicht verwenden wollen, weil er seit dem Buch dazu von Catherine Albanese in einem breiteren Sinne verwendet wird, als er es für seine Studie vor Augen hatte.

Fazit: „Ich möchte meinem Blick vor allem auf jene richten, die die Natur in irgendeiner Weise als heilig betrachten“ (S. 300).

Das erste Kapitel des Buches enthält nach der Betrachtung der Geschichte der „Naturreligion“ eine erste Verehrung und eine Provokation. Jean-Jacques Rousseau’s religiöses Denken und seine politische Philosophie entfalteten eine große Wirkung auf die Wertschätzung der Naturreligion. Er lehnte die in Europa herrschenden Schriftreligionen und Orthodoxien ab zugunsten einer deistischen Naturreligion, in der die Existenz Gottes in der Natur erfahren werden kann. Für ihn wiesen die Naturreligion und die erkenntnistheoretische Ausrichtung auf die Natur einen Weg aus zerstörerischem Materialismus und der Entfremdung von der Natur, welche die europäische Kultur damals schon prägten. Rousseau ist für den Autor daher ein besonders wichtiger früher Vertreter dunkelgrüner Religion.

In einigen Fällen haben Rousseaus Angriffe zu Selbstkritik und Reformbemühungen innerhalb der in die Kritik geratenen Großreligionen geführt. Lange Zeit danach, in den 1960er Jahren war dieser Reformdruck so groß geworden, dass man innerhalb und außerhalb der Wissenschaft gelegentlich von „religiösem Umweltbewußtsein“ oder gar von der notwendigen  „Ökologisierung der Religion“ gesprochen hat.

Der bekannteste Kritiker der etablierten Religionen war Lynn White Jr.. In einem Aufsatz in Science 155 (1967) behauptete White, das Christentum trage die Hauptschuld an der heutigen ökologischen Krise. Im Einzelnen schrieb er: Das Christentum, nicht aber die Religionen Asiens, befürworte die dualistische Trennung von Mensch und Natur – und damit die Ausbeutung der Natur; das Christentum, als die am stärksten anthropozentrische Religion der Weltgeschichte sei hauptverantwortlich für die entsprechenden Haltungen, die zur heutigen ökologischen Krise geführt hätten. White glaubte aber auch, dass Franz von Assisi‘s spiritueller Biozentrismus ein Gegenmittel des verhängnisvollen Anthropozentrismus des Westens darstellen könne.

Taylor fasst die Antworten von Angehörigen der christlichen Religion (und einigen in Judentum und Islam) auf diese Fundamentalkritik in vier Formen zusammen: apologetisch, mit der Behauptung, die eigene Tradition sei in Wirklichkeit umweltfreundlich; bekennend, indem man die Schuld (zumindest teilweise) zugab. Diese beiden Reaktionen sind Teil des „Ergrünens“ des Christentums, die man seit den späten 1960er Jahren beobachten kann. Die dritte Reaktion war Gleichgültigkeit, indem die Kritikpunkte und ökologischen Warnungen als unwichtig bezeichnet wurden. Als vierte Reaktion ließ sich echte Feindseligkeit ausmachen, die Meinung nämlich, diese Sichtweisen stünden im Widerspruch zur christlichen Lehre. Der Autor ist der Meinung, diese vier Reaktionsweisen fänden sich gleichermaßen bei Laien und bei Wissenschaftlern.

© C.H.Beck / März 2019

Das zweite Kapitel gilt der Dunkelgrünen Religion, ihren Typen und Beispielen. Seit der Publikation von Rachel Carsons „Silent Spring“ (Stummer Frühling) im Jahre 1962 sind die Nachrichten zur globalen Umweltkrise alarmierender und zunehmend apokalyptisch geworden. Zugleich wurde naturbezogene Religion wiederbelebt, neu erfunden, weiterverbreitet und ökologisch eingefärbt. Einen großen Teil dieser religiösen Kreativität könne man als dunkelgrün bezeichnen, denn er speist sich aus einem tiefen Gefühl der Verbundenheit mit der Natur, dass die Erde als heilig betrachtet und ihre lebendigen Systeme als miteinander vernetzt sieht. „Allgemein gesprochen ist dunkelgrüne Religion „tiefenökologisch“, „biozentrisch“ oder „ökozentrisch“, wobei allen Arten und Gattungen ein intrinsischer und unveräußerlicher Wert zuerkannt wird, und zwar unabhängig von ihrem Nutzen für den Menschen“ (S. 19).

Taylor will zeigen, dass man dunkelgrüne Religion am besten erkennen und verstehen kann, wenn man vier Haupttypen unterscheidet und anhand von konkreten Beispielen diskutiert: Der erste Typ besteht aus zwei Formen des „Animismus“, eine mit übernatürlichem Bezug, die andere naturalistisch. Der zweite Typ besteht – unter Rückgriff auf den Namen der griechischen Erdgöttin Gaia – als „Gaia-Religion“, eine Kurzfassung für holistisch ausgerichtete Weltanschauungen; wie beim Animismus ist eine Form der Gaia-Religion spirituell oder übernatürlich ausgerichtet, die andere naturalistisch.

Den Rest des Kapitels widmet er einschlägigen Beispielen nach diesem Schema. Für den Bereich des spirituellen Animismus und der Gaia-Spiritualität stellt er drei Denker und Aktivisten vor, deren spiritueller Weg eine Begegnung mit dem Buddhismus beinhaltete: Gary Snyder, Joanna Macy und John Seed. Snyders Lösung ist, verkürzt gesagt, die „bioregionale Wiederbewohnung“, womit das gründliche Studium des lokalen Wissens sowie der an den spezifischen Orten lebenden Pflanzen und Tiere gemeint ist. Durch eine „Rückkehr aufs Land“ können Menschen ihre affektive Verbindung zur Erde wiedergewinnen. Macy und Seed waren Pioniere des Rituals, sie versuchten die von ihnen entwickelten rituellen Prozesse weltweit zu verbreiten, von denen sie glaubten, die Menschen wieder mit der Erde verbinden zu können.

Für den Bereich des naturalistischen Animismus und des Gaia-Naturalismus stellt Taylor einen Ethologen und eine Primatenforscherin vor: Marc Bekoff und Jane Goodall. Bekoff ist der Meinung, dass Tiere ein reiches Gefühlsleben haben und mit Menschen auf vielfältige Weise kommunizieren können. Er geht zudem davon aus, dass Tiere über so etwas wie Moral verfügen und ist davon überzeugt, dass die Kommunikation mit Tieren über ihre Augen verläuft. Für Goodall entstand eines der intensivsten Erlebnisse von Kommunikation zwischen den Arten durch den Augenkontakt mit einem Schimpansen, den sie David Greybeard nannte. Bekoff und Goodall waren eng befreundet und arbeiteten auch zusammen. Beide erzählen gern die Geschichte vom Schimpansen Jojo, eine Geschichte, die nach Meinung von Taylor alles hat, um eine neue, „heilige Erzählung“ der Verbindung zwischen Mensch und Tier zu werden. Mit hunderten von Vorträgen pro Jahr und nach Ernennung zur Friedensbotschafterin der Vereinten Nationen ist Jane Goodall heute eine der wichtigsten Vermittlerinnen für Animismus weltweit.

Schön zu lesen sind auch die Passagen über den „Deuter von Wölfen und Bergen“, Aldo Leopold (1887-1948), den viele für den bedeutendsten Ökologen und Umweltethiker des 20. Jahrhunderts halten. Das Kapitel endet mit der Charakterisierung des britischen Umweltwissenschaftlers James Lovelock, dem wir es verdanken, dass die griechische Erdgöttin Gaia zu neuem Leben erwachte. Lovelock übernahm ihren Namen für seine Theorie, der zufolge die Biosphäre als ein selbst regulierender Organismus funktioniert, der die Bedingungen instand hält, die für das Leben der Arten und Organismen notwendig sind, aus denen er besteht.

Mit diesem Kapitel will Taylor uns – wie er sagt – eine Linse anbieten, mit der man die verschiedenen Typen dunkelgrüner Religion erkennen und näher untersuchen kann. Der allgemeine Impuls, die Natur als heilig anzusehen, als wertvoll in ihrer Ganzheit und in ihren Teilen, zugleich aber auch als gefährdet und schutzbedürftig, zieht sich quer durch alle Beispiele hindurch – und spiegelt sich, wenn auch in unterschiedlicher Weise in den ausgewählten persönlichen Porträts. 

In den folgenden Kapiteln widmet sich Bron Taylor den historischen Ursprüngen, den bisweilen überraschenden Manifestationen des Themas und dem wachsenden globalen Einfluss der Dunkelgrünen Religion.

Das dritte Kapitel über „Dunkelgrüne Religion in Nordamerika“ ist eine Anklage an die Invasoren und zugleich eine Hommage an große Denker und Gestalter. Als Europäer in Kontakt mit Nordamerika kamen, waren es die religiösen Narrative der Immigranten, die deren Verhältnis mit dem Land und seinen Ureinwohnern massiv beeinflussten. Die indigenen Kulturen hatten radikal andere Wahrnehmungen der natürlichen Welt und ebenso andere ethische Haltungen, als die in Europa üblichen. Im Gegensatz dazu lieferten das Christentum im Allgemeinen und der Puritanismus im Besonderen eine Kosmologie und Theologie, die die Tendenz unter den europäischen Siedlern verstärkte, Land nicht als etwas Heiliges und Ehrwürdiges zu betrachten, sondern als eine Ressource, die sowohl für materielle als auch für geistliche Zwecke ausgebeutet werden konnte. Taylor hält zwar fest, dass für einige der ersten Siedler die Natur nicht nur ein materielles Erbe war, sondern auch ein geistliches Geschenk Gottes; die Sicht der Masse der Siedler aber war das nicht – und so begann der blutige Kampf gegen die indigene Bevölkerung, ihre Vertreibung und Ghettoisierung.

Die meisten historischen Rekonstruktionen legen nahe, dass grundlegend positive Haltungen zur Natur sich in Nordamerika erst wieder einstellten, als dies in Europa der Fall war, beginnend mit den Schriften und Aktivtäten von Rousseau, Edmund Burke und Immanuel Kant. Der Autor geht einigen bedeutsamen Persönlichkeiten nach – von der Mitte des 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert – die für die Entstehung und Konsolidierung dunkelgrüner Religion in Nordamerika maßgebend waren: Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau und John Muir, die dafür sorgten, dass naturbezogene Spiritualitäten einen festen Platz im amerikanischen Leben bekamen. In diesem Buch bewertet der Autor ihre Beiträge noch einmal neu – ein Beispiel für vertiefende Betrachtung komplexer Situationen. Mich interessierte dabei besonders seine Auseinandersetzung mit Thoreau.

Wenn man Thoreau als Vertreter dunkelgrüner Religion beschreiben will, kann man bei ihm Belege sowohl für naturalistischen Animismus als auch für Gaia- Naturalismus finden. Er fühlte sich der Natur im Allgemeinen verpflichtet sowie der ungezähmten Natur im Besonderen, nicht aber der Stadt und dem, was er als Banalitäten und Übel der menschlichen Gesellschaften ansah. Thoreau wurde nur 44 Jahre alt, aber das Interesse an Thoreaus Leben und Lehre brachte eine enorme „religiöse Produktivität“ hervor, wie sie charismatische Persönlichkeiten häufig umgibt. Unzählige Bücher und Aufsätze sind Thoreaus Werk und den entsprechenden Kommentaren gewidmet, was den intensiven Bemühungen christlicher Bibelwissenschaftler und Theologen um das Verständnis der heiligen Texte der christlichen Tradition ähnelt.

Bron Taylor ehrt Thoreau auf ganz besondere Art und Weise: So wie man im Westen die Geschichte in Perioden vor und nach der Geburt Christi einteilt („n.Chr.“), könne man an eine Zeiteinteilung vor und nach Henry David Thoreau denken („n.HDT“). Dies ist durchaus ernst gemeint, wie man daraus schließen kann, dass Taylor in einem umfangreichen Anhang (S. 305-329) kommentierte Auszüge aus dem Gesamtwerk von Thoreau präsentiert, darunter aus „Walden, or Life in the Woods“, „The Maine Woods“ und „Cap Cod“. Diesen Anhang begründet Taylor damit, dass Thoreau der wichtigste Erneuerer des Umweltschutzdenkens in Amerika sei, weil seine Religiostät noch immer nicht richtig verstanden werde, und weil er den Leserinnen und Lesern die Möglichkeit bieten will, die Interpretation von Thoreau durch Sichtung der Originalpassagen selbst zu überprüfen.

Die breitangelegten Ausführungen zu John Muir begründet Taylor damit, dass Muir und sein Werk heute besser bekannt seien, als die vieler anderer bioregionaler Personen und Bewegungen, dass er das Modell des „Nationalparks“ entwickelte und im Jahr 1892 den „Sierra Club“ gründete, der sich zu einer der weltweit einflussreichsten Umweltschutzorganisationen entwickelte. „Niemand spielte eine größere Rolle am Beginn der Ära des Umweltaktivismus als John Muir“ (S. 51).

Emerson, Thoreau und Muir gelten Bron Taylor als Prototypen für die Formen dunkelgrüner Religion, die ihnen folgten; dass es ihrer Aktivitäten wegen aber auch vieler Autoren und zahlreicher Studien brauchte, um alle ihre Manifestationen auszuloten.

Fünf dieser Manifestationen werden in den weiteren Kapiteln des Buches näher betrachtet. Sie sind so detailliert und umfangreich, dass sie in dieser Rezension nur stichpunktartig behandelt werden können.

„Radikaler Umweltschutz“

„Radikaler Umweltschutz“ ist das erste Thema. Diskussionen über gewaltsame Taktiken sind nichts Neues im Umweltschutz. In den 1950er Jahren gab es in den USA mehrfach Widerstandskampagnen gegen Unternehmen, um die Zerstörung von Wildnisgebieten zu verhindern. Zwei Bücher von Edward Abbey trafen den Nerv vieler Naturliebhaber und führten zur Gründung der „Earth First“-Bewegung, der ersten radikalen Umweltorganisation, die sich dem zivilen Ungehorsam aber auch der Sabotage als Mittel des Widerstandes verschrieben hatte. Radikaler Umweltschutz ist allerdings weitgehend gefürchtet und wird bisweilen auch heftig kritisiert. Bei dieser Kritik kann man eine säkulare, eine ethische und eine religiöse Zielrichtung unterscheiden. In der dunkelgrünen Religion finden sich unterschiedliche Meiningen zu der Frage, was im Hinblick auf Rechtsbruch und Gewalt erlaubt und zu rechtfertigen ist. Der Kern dunkelgrüner Religion ist aber immer die Überzeugung, dass alles in der Biosphäre miteinander zusammenhängt, einen intrinsischen Wert hat – und als heilig betrachtet werden muss.

„Surfing als spirituelle Praxis“

„Surfing als spirituelle Praxis“, das nächste Thema, ist zunächst einmal eine Überraschung im Zusammenhang mit der zentralen Frage dieses Buches. Es scheint aber auch ein besonderes Hobby des Autors zu sein. Wie auch immer, die sich global entfaltende Surfing-Welt kann als eine Form der dunkelgrünen Religion charakterisiert werden, deren sakraler Mittelpunkt von sinnlichen Erfahrungen gebildet wird. Auf den „Wellen zu reiten“ ist eine ganz besondere Erfahrung; eine zunächst als ziemlich weltlich erscheinende Aktivität entpuppt sich so als in hohem Maße sakral.

Für Taylor ist vor allem die Beobachtung wichtig, dass die große und global weiter zunehmende Zahl der Surfer ein Gefühl für die Verbindung mit und die Zugehörigkeit zur „Mutter Ozean“ entwickelt haben. Das Gesamtergebnis ist eine Spiritualität, die sowohl animistische Dimensionen als auch Elemente der Gaia-Spiritualität aufweist. Das Surfen breitet sich noch immer weltweit aus, sodass man allen Anlass zu der Annahme haben kann, dass viele der Praktizierenden es auch weiterhin als religiöse Alternative für heutige Gesellschafften propagieren werden.

„Globalisierung mit Raubtieren und Filmen“

„Globalisierung mit Raubtieren und Filmen“ ist das nächste Thema. Seit den 1930er Jahren haben viele Disney-Filme eine meist sentimentale Sicht auf Tiere gezeigt, die das menschliche Einfühlen für nichtmenschliche Organismen und Verwandtschaftsgefühle mit ihnen verstärkte. In diesen Filmen haben Menschen oft tierische oder pflanzliche „Freunde“, mit denen sie kommunizieren; sie überschreiten Grenzen zu nichtmenschlichen Gesellschaften, und sie verändern sogar ihre Gestalt über Grenzen der Arten hinweg.

Der französische Meeresforscher Jacques -Yves Cousteau und der britische Naturforscher Sir David Attenborough lieferten dann die wichtigsten frühen Beispiele der Dokumentarfilme, die sich dem Anthropomorphismus der Disney-Filme widersetzten. Zu Attenboroughs wichtigsten Beiträgen zählt die Life-Trilogie, bestehend aus den Staffeln „Life on Earth“ (1979), „The Living Planet“ und „Trials of Life“ (1990). Hinzu kommen gut zwei Dutzend Dokumentarfilme, die er produzierte und andere, bei denen er als Sprecher mitwirkte – darunter „Planet Earth“ (2006), der erste in hoher Auflösung produzierte Naturfilm und die wohl stärkste künstlerische Darstellung der Erhabenheit der Natur in der Filmgeschichte bis heute.

In den bisher besprochenen Dokumentarfilmen ist die dunkelgrüne Religion subtil, und es erfordert entsprechende Linsen, um sie in ihrer ganzen Stärke zu erkennen. Der kanadische Dokumentarfilmer David Suzuki hat dagegen offen seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass Umweltschutz letztlich religiös sei. Zwei dokumentarische Produktionen und zwei Bücher zeigen Suzukis Sakralisierung der Natur und seine persönliche Verbindung zu den großen Figuren des dunkelgrünen Milieus besonders deutlich.     

In den verbleibenden Kapiteln des Buches begegnen wir zahlreichen Protagonisten dunkelgrüner Ideen, den Chancen der Umsetzung zukunftsfähiger Konzepte, aber auch den Niederlagen bei den Versuchen ihrer praktischen Umsetzung. Man begegnet großen Namen aus Kunst, Wissenschaft und Literatur, den Überlegungen zu einer terrapolitischen Erdreligion, den Erfolgen und Niederlagen der Vereinten Nationen bei der weltweiten Etablierung nachhaltiger Entwicklung. Wir werden erinnert an Paul Ehrlich, Ernst Haeckel, Carl Sagan, E.-O. Wilson, Rudolf Steiner und werden hingewiesen auf Joseph W. Krutch mit seinem literarischen Naturdiskurs, auf das „ökotopische Milieu“, auf Ernest Callenbach und sein Werk „Ecotopia“ (1975).

Danach geht es um die Verbindung zur Natur durch Deutungen in Museen, Zoos, Aquarien und Biosphärenreservaten und dann auch um die Verbindung mit der Natur bei den Vereinten Nationen (UN). Bron Taylor erinnert uns an den Brundtland-Report (1987) und das UNESCO-Programm „Man and the Biosphere“ (gestartet 1971). Dessen überdimensionales Buch „Man belongs to the Earth“ schlug einen dunkelgrünen Ton an, mit seinem Titel, aber auch mit dem Lobgesang auf Rachel Carson und Ernst Haeckel.

Taylor erinnert sich dann aber auch an die von ihm miterlebte schwere Niederlage beim Weltgipfel der UN in Johannesburg 2002. Maurice Strong, der Generalsekretär des Erdgipfels von Rio (1992) hatte die Schaffung einer „Earth  Charta“ vorgeschlagen; die Idee war, der Menschenrechtserklärung der UN nachzuahmen, so dass nach der Ratifizierung der Charta seitens der Staaten auch Privatpersonen und Organisationen freiwillig ihre Umweltschutzanstrengungen verstärken würden – oder dies auf öffentlichen Druck hin tun müssten.

Tabelle: „Earth Charta“

Die Leitlinien der Earth Charta sind in 16 Artikeln formuliert:

  1. Achtung haben vor der Erde und dem Leben in seiner ganzen Vielfalt.
  2. Für die Gemeinschaft des Lebens in Verständnis, Mitgefühl und Liebe sorgen.
  3. Gerechte, partizipatorische, nachhaltige und friedliche demokratische Gesellschaften aufbauen.
  4. Die Fülle und Schönheit der Erde für heutige und zukünftige Generationen sichern.
  5. Die Ganzheit der Ökosysteme der Erde schützen und wiederherstellen, vor allem die biologische Vielfalt und die natürlichen Prozesse, die das Leben erhalten.
  6. Schäden vermeiden, bevor sie entstehen, ist die beste Umweltpolitik. Bei begrenztem Wissen gilt es, das Vorsorgeprinzip anzuwenden.
  7. Produktion, Konsum und Reproduktion so gestalten, dass sie die Erneuerungskräfte der Erde, die Menschenrechte und das Gemeinwohl sichern.
  8. Das Studium ökologischer Nachhaltigkeit vorantreiben und den offenen Austausch der erworbenen Erkenntnisse und deren weltweite Anwendung fördern.
  9. Armut beseitigen als ethisches, soziales und ökologisches Gebot.
  10. Sicherstellen, dass wirtschaftliche Tätigkeiten und Einrichtungen auf allen Ebenen die gerechte und nachhaltige Entwicklung voranbringen.
  11. Die Gleichberechtigung der Geschlechter als Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung bejahen und den universellen Zugang zu Bildung, Gesundheitswesen und Wirtschaftsmöglichkeiten gewährleisten.
  12. Am Recht aller – ohne Ausnahme – auf eine natürliche und soziale Umwelt festhalten, welche Menschenwürde, körperliche Gesundheit und spirituelles Wohlergehen unterstützt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Rechten von indigenen Völkern und Minderheiten.
  13. Demokratische Einrichtungen auf allen Ebenen stärken, für Transparenz und Rechenschaftspflicht bei der Ausübung von Macht sorgen, einschließlich Mitbestimmung und rechtlichem Gehör.
  14. In die formale Bildung und in das lebenslange Lernen das Wissen, die Werte und Fähigkeiten integrieren, die für eine nachhaltige Lebensweise nötig sind.
  15. Alle Lebewesen rücksichtsvoll und mit Achtung behandeln.
  16. Eine Kultur der Toleranz, der Gewaltlosigkeit und des Friedens fördern.
  • Die Earth Charta kann von Privatpersonen und von Organisationen unterzeichnet werden.

Bron Taylor erachtet die in Johannesburg zur Abstimmung gestellte „Earth Charta“ mit ihren 16 dezidierten Artikeln „als das bisher beeindruckendste internationale Beispiel für dunkelgrüne Religion“ (S. 237). Die Charta wurde aber nicht ratifiziert – unter andern auch wegen des Drucks seitens der römisch-katholischen Kirche. Dies läuft auf die Frage hinaus, wie wahrscheinlich es ist, dass eine dunkelgrüne Religion die schlimmsten Tendenzen des gegenwärtigen internationalen Systems mildern und eine Grundlage für eine nachhaltige planetarische Zukunft schaffen kann.

Dieser Frage widmet Taylor sich im letzten Kapitel des Buches. Er ist verhalten optimistisch, was die Wiederbelebung des Konzepts der „Earth Charta“ angeht und begründet dies durch intensive Rückbesinnung auf die historischen Quellen und Begründungen der 16 Artikel – und testet sie aus heutiger Sicht. Wenn diese Wiederbelebung aber an den derzeit noch höchst unterschiedlichen politischen Interessen scheitern sollte, dann könne die zunehmende Abhängigkeit aller Menschen von den Ökosystemen der Erde sie doch – irgendwann – in der gemeinsamen Sache vereinigen, der eskalierenden biokulturellen Verarmung Einhalt zu gebieten und die Funktionsfähigkeit der Ökosysteme zu sichern.

Bron Taylor schließt dieses gut zu lesende Kapitel inhaltlich mit diesem Satz: „Es sieht ganz danach aus, dass die dunkelgrüne Religion mit ihrer Betonung der ökologischen Interdependenzen und ihrem tiefen Sinn für den Wert der biologischen und kulturellen Vielfalt ein Gegengewicht zu den gegenwärtigen unheilvollen Trends bilden könnte. Für allzu großen Optimismus gib es indes keinen Grund …“ (S. 294).

Ein Ausblick: Nun also liegt der US-amerikanische Bestseller von Bron Taylor (2009) endlich auch in Deutsch vor, kongenial übersetzt und hier und da ergänzt von Kocku von Stuckrad. Deutsche Denker und Protagonisten aber sucht man in diesem Buch leider vergeblich, wenn man von den Klassikern wie Goethe, Haeckel und Kant absieht.

Es dürfte aber auch im deutschsprachigen Bereich viele Anhänger und Förderer der „Dunkelgrünen Religion“ geben. Da waren in jüngster Zeit zumindest viele in dieser Richtung unterwegs: Aktivisten wie Horst Stern und Hermann Scheer, Schriftsteller wie Carl Amery und Günter Grass, Theologen wie Günter Altner und Eugen Drewermann, Philosophen wie Hans Jonas und Klaus Meyer-Abich, Historiker wie Joachim Radkau und Verona Winiwarter, Filmer wie Andreas Kieling und Dirk Steffens, Unternehmer wie Georg Winter und Michael Otto, Politiker wie Erhard Eppler und Herbert Gruhl, um nur einige zu nennen. Es waren und sind zumeist Christen, aber sie waren und sind auch  „Tiefenökologen“.

Wenn das deutsche Buch von Bryon Taylor trotz seiner Länge viele Leser finden wird, wovon ich ausgehe, dann möge darunter auch ein potentieller Autor (eine Autorin) sein, der (die) sich der „Dunkelgrünen Religion“ im deutschsprachigen Bereich einmal systematisch widmet – das wäre der große dunkelgrüne Wunsch des Menschen.

Quelle

Dr. Dr. h.c. Udo E. Simonis 2021 ist Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) 

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