Madame Zhou und der Fahrradfriseur: Auf den Spuren des chinesischen Wunders
Scherzer sammelt Fakten, notiert die Klagen über ein Bildungssystem, das sich die Armen nicht leisten können und findet Skurrilitäten wie jene, dass es in Peking den „Fahrradfahrern streng verboten ist, mit Licht zu fahren, um die Autos nicht zu blenden.“
Mit den großen, weit aufgerissenen Augen eines Kindes geht der Schriftsteller Landolf Scherzer durch die Welt und schaut und schreibt auf und schaut und schreibt auf. Allerdings sind es die Augen eines gebrannten Kindes, mit denen der Autor sich in seinem jüngsten Buch auf die Spuren des chinesischen Wunders begibt. Denn Scherzer hatte sich in der DDR-Zeit der sozialen Gerechtigkeit verschrieben, damals so weit, dass er sich zuweilen mit dem Staat anlegte, heute weit genug, um in der DDR rückblickend beides zu erkennen: Repression und sozialen Fortschritt zugleich. Solche Erkenntnisse helfen ihm, in der sozialistisch apostrophierten Volksrepublik China beharrlich Fragen zu stellen, zu sichten und daraus einen China-Führer der besonderen Art zu weben: „Madame Zhou und der Fahrradfriseur“.
In China trifft Scherzer auf ein Netzwerk – da er aus dem Osten kommt, müsste es sprachgebräuchlich diffamierend `Seilschaft´ heißen – von Ehemaligen: Ehemalige Mitarbeiter der DDR-Botschaft in Peking, einen ehemaligen DDR-Militärattaché und sogar einen ehemaligen Maoisten aus der alten Bundesrepublik. Es ist ein Netzwerk von Deutschen, das ihm die Möglichkeit verschafft, vom Unternehmer über den taoistischen Abt bis zu den Wanderarbeitern einen ordentlichen Querschnitt chinesischen Lebens zu erheben, von dem er nicht behauptet, er habe die komplette chinesische Wirklichkeit erfasst. Und doch zeichnet Scherzer ein Bild, dass einem Abbild sehr nahe kommt. Denn fraglos erhärten seine Recherchen das Zitat eines chinesischen Unternehmers über die mehr als 150 Millionen mobilen Arbeiterinnen und Arbeiter: „Sie sind die Quelle, aus der das chinesische ökonomische Wunder gespeist wird.“
Hinter den kolossalen Bildern aus China, die von den Deutschen konsumiert werden – den immer höheren Häusern, den immer häufigeren Nobel-Autos auf Chinas Straßen, den imponierenden Dollar-Reserven – stecken eben diese vielen rechtlosen Arbeiter. Von den Hungerbedingungen der Dörfer in die Städte getrieben, arbeiten sie zehn und mehr Stunden am Tag. Für sie gilt kein Gesundheits- oder Bildungswesen im `sozialistischen´ China, ihre Kinder, rund 50 Millionen an der Zahl, sind den Großeltern oder sich selbst überlassen, und wo sie nachts schlafen ist dem Staat egal. Es ist genau der Arbeiter-Typus, den sich der Kapitalismus auch für Europa oder die USA wünscht: Enorm flexibel, jede Menge Werte schaffend und nicht in der Gewerkschaft: „Weshalb streiken“, fragt Meister Wang aus der Thüringer Wurstfabrik in Peking, „es gibt so viele andere Chinesen, die brauchen alle Arbeit.“
Auch die rund zehn Millionen Prostituierten gehen ihrer Arbeit in den großen chinesischen Städten nach und man fragt anlässlich dieser Zahl unwillkürlich, wo der Ethos der vorgeblich kommunistischen Partei geblieben ist. „Jetzt wird auch in China alles für Geld gemacht“, erzählt ein Maler dem Autor, „Das haben wir vom Westen übernommen.“ Mit Scherzer erfahren wir von den vielen Abtreibungen in China, um sicherzustellen, dass das Kind nur ja ein Junge wird, aber wir lesen auch die trotzige Kampfansage eines Mädchens, dass von den 30 Millionen Männern Überschuss berichtet, den es in einigen Jahren geben wird: „Dann werden alle, die keine Frau abbekommen haben, um uns kämpfen müssen.“
Immer wieder zitiert er Meinungen und Wünsche der Schüler einer deutschen Schule in Peking: Vom Wunsch eines Schülers eine Chinesin zu heiraten, weil die „deutschen Frauen auch immer eigenständiger und eigensinniger“ werden bis zur Meinung des komischen deutschen Nachwuchs-Rassisten, der gern in China lebt, weil es dort „keine Türken“ gibt und man deshalb im Dunklen sicher über die Straße gehen kann. Scherzers Sicht auf China gibt nicht vor, objektive Wahrheiten zu verkünden. Aber seine bunten Kaleidoskop-Splitter vermitteln trotzdem jede Menge Erkenntnisse. Nur einmal ist er eindeutig auf einen seiner Befragten reingefallen: Der ehemalige Maoist und heutige Millionär Uwe Kräuter aus Heidelberg bindet ihm das Märchen auf, seine Studentensekte sei eine Nachfolgeorganisation der verbotenen West-KPD gewesen. Aber das muss man Scherzer nachsehen: Die alte Bundesrepublik hat der Autor damals nicht bereist.
Quelle
RATIONALGALERIE | Ulli Gellermann 2012