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Michail Chodorkowski – Meine Mitgefangenen

Jeder kann in Rußland ins Gefängnis kommen. Zu einem ersten Buch von Michail Chodorkowski. Von Rupert Neudeck

Dieses schmale Bändchen enthält alles über das Russland von heute, das Russland von Putin, das Problem von Georgien und der Ukraine. Und wer wie ich noch daran gezweifelt hat, dass diesem Menschen und Unternehmer Michail Borrissow Chodorkowski Unrecht geschehen ist, dem wird dieser Zweifel total ausgeräumt durch die Lektüre des Buches. Als Chodorkowski am 25. Oktober 2003 in Nowosibirsk verhaftet, nach Moskau gebracht, dann wegen angeblicher Steuerhinterziehung und schweren Betrugs verurteilt wird, ahnte er auch nicht, dass er zehn Jahre in verschiedenen unwirtlichen Gefängnissen im Riesenraum des russischen Territoriums sitzen würde.

Chodorkowski hat in zwanzig kleinen Miniaturen Mitgefangene und Mitinsassen des merkwürdigen Moskauer Unrechtssystems porträtiert – auf eine lakonische Art, die ihm auch literarische Ehren einbringen kann, obwohl diesen ernsthaften Texten so gar nichts Erfundenes beiwohnt. Das, was er da geschrieben hat, und was wir jetzt als deutsche Übersetzung in der Hand halten, sei der Versuch, „einen Einblick in die Welt zu gewähren, zu der die meisten normalen Menschen keinen Zugang haben“. Es sei eine total rückständige Welt. Alle in Russland, die Solschenizyn und Schalamow gelesen haben aber auch alle die, die von diesen beiden nichts gehört haben, „haben mit der Muttermilch die Lebensweisheit aufgesogen, die jedem Russen tief ins Unterbewusstsein verankert ist: „Vor Armut und Gefängnis ist keiner gefeit“.

Es sei eine innere Disziplin gewesen, die ihn dazu angeleitet hat, umfangreiche Korrespondent zu führen und eben in der kurzen Pressekonferenz am 22. Dezember 2013 im Berliner Mauermuseum zu erklären, dass er seine vorzeitige Freilassung nutzen werde, sich für Gefangene in russischen Gefängnissen einzusetzen. Mit diesem Büchlein löst er das Versprechen schon ein.

Z.B. Artjom, groß, hager. Er war Bauingenieur von Beruf, musste in einer guten Stelle die Qualität der Bauarbeiten kontrollieren, acht Monate lief alles bestens. Dann ging der Chef in den Urlaub, der Stellvertreter erkrankte. Da bekam er heraus, dass das Baumaterial für das bewilligte Geld nicht bestellt war. Er rief den Chef an, der war verschwunden. Nervös geworden, meldete er sich bei der Polizei, „dort jagte man ihm zum Teufel“. Dann meldeten sich die Investoren. Nicht nur die Chefs seien verschwunden, auch die acht Millionen Dollar-. Der Ermittler der Polizei, der seine Anzeige nicht annehmen wollte, verlangte eine Million, stellte ihm Gefängnis in Aussicht, wenn er die Mio nicht bekommen sollte. Artjom, bekam acht Jahre. Chodorkowski: Dieser Mann kann ihm leidtun.

„Doch hier hat jeder zweite so eine Geschichte. Er rannte überall herum, um zu sagen, dass er nicht schuldig sei. Doch in Alltagsfragen wird jedem in der Zelle geholfen, aber in Seelenleiden – das muss jeder durch“. Chodorkowski schildert sehr bewegt, wie er das glucksende Röcheln in der Toilette hört und sofort hingeht und sieht einen aus einem zerrissenen Bettlaken gedrehten Strick und an ihm Artjom. Er macht dann mit anderen Wiederbelebungsversuche, sie drückten auf den Brustkorb, Artjom schaffte es zu überleben. Man sah am nächsten Morgen die Striemen am Hals. Da musste Artjom seine Sachen packen. Für Selbstmörder hat die Anstaltsleitung nicht viel übrig. Sie schaden der Statistik. Der Autor: „Können wir friedlich weiterleben und so tun, als würde uns das Schicksal anderer nichts angehen? Wie lange kann ein Land bestehen, in dem Gleichgültigkeit zur Norm geworden ist?“

Das System, in dem diese Gefangenen schon vorher nicht zurechtkommen, ist grausam. „Der Mensch als solcher bedeutet für unseren Staat weniger als nichts. Er ist nur eine Ziffer in der Bilanz.“ Man habe ihn immer wieder gefragt, wie oft am Tag, in der Woche er die Möglichkeit hatte, einen Computer zu benutzen. Die Antwort: „Keinmal in den mehr als zehn Jahren“. Einige Führer der Opposition hätten sich gewundert über seine Informiertheit. „Sie wunderten sich allerdings nur so lange, bis sie selbst für zehn Tage in Arrest kamen, das reichte völlig, um alles zu begreifen“.

Wie willkürlich das System ist, beschreibt der Autor am Fall von Alexej, der als Teenager mal was gestohlen hat, er war betrunken und hat jemandem ein Handy weggenommen. Dann lernte er mit 18 ein Mädchen kennen, die noch nicht volljährig war. Sie wohnten zusammen bei den Eltern des Mädchens und wollten heiraten. Da begann die Kampagne gegen Pädophilie. Im Ort war das bekannt, also meldete das ein Abschnittsbevollmächtigter und brachte die Sache ins Rollen. Alexej  musste für fünf Jahre ins Gefängnis. Das sei das Minimum dessen, was die Richterin verhängen konnte, „abgesehen davon, dass die Verurteilung als solche ungerecht war“. Nach zwei Jahren schrieb Alexej dem Mädchen. „Warte nicht mehr auf mich!“. Er hörte auf, ihre Briefe zu beantworten. Autor Chodorkowski  erbittert diese „Hoffnungslosigkeit, die Erbarmungslosigkeit unseres Systems“.

Nach einer gewissen Zeit, da er sich von einem gewöhnlichen Opfer in einen interessierten Beobachter verwandelt hatte, stellte ich fest, dass die meisten über Menschen im Gefängnis nichts wissen, schreibt er. Aber dabei befindet sich jeder 100. Bewohner unseres Landes, jeder zehnte Mann kommt einmal hinter Gitter. Und manchmal erscheine ihm das Gefängnis wie ein ins Groteske gesteigertes Modell unseres gesellschaftlichen Lebens jenseits der Mauern. Selbst in der Freiheit ist bei uns ein krimineller Erpresser nur schwer von einem Vertreter des Staates zu unterscheiden. Und es sei fraglich, ob es diesen Unterschied für einen normalen Menschen überhaupt gibt. Und er hat unterwegs Angst, sich auch allmählich in „schweigsame, wehrlose Sklaven zu verwandeln, die dann auf Kommando von oben zu jeder Gräueltat bereit sind!“

Genau so dramatisch wirkt diese Zeittafel der Wege von Chodorkowski. Er wurde im April 1996 der Chef von Jukos, dem damals zweitgrößten russischen Ölkonzern. 1997 vereinigen sich Jukos und Rosprom, zu einer Öl-Holding, deren Vorstandsvorsitzender Chodorkowski wird. Im Oktober 1999 gibt es zum ersten Mal eine Klage des Energieministeriums gegen Chodorkowski wegen Beleidigung. Er hatte erklärt, dass die Bildung eines Reservefonds für die Erdölexportquote Diebstahl fördere. Am 19. Februar 1003 gibt es einen heftigen Streit vor laufender TV-Kamera zwischen Chodorkowski und Putin auf einer Sitzung des russischen Präsidenten mit der Businesselite zum Thema Korruption. Bei den Wahlen unterstützt Chodorkowski mit seiner Stiftung Offenes Russland u.a.die liberale Partei Jabloko. Er wird am 25. Oktober inhaftiert, am 12. Juli 004 beginnt der Prozeß gegen Chodorkowski wegen schweren Betrugs.

Im Mai 2005 gibt es das Urteil gegen Chodorkowski und seinen Partner Lebedew: Neun Jahre Haft wegen Steuerhinterziehung. Am 25. Januar 2005 billigt das Europäische Parlament einen Bericht der ex Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, der herausbekommt, dass die Verhaftung der Jukos Manager dazu diene politische Gegner kaltzustellen. Im Oktober 2005 kommt Chodorkowski in das Straflager JaG 14/10 in Krasnokamensk, tausende Kilometer von der Familie in Sibirien entfernt. Im Februar 2007 zweiter Prozess gegen Chodorkowski wegen Geldwäsche und Diebstahls bei Jukos in Höhe von 20 Mio Euro. Ende Januar 2008 beginnt Chodorkowski einen Hungerstreik. Am 16. Dezember 2010 -. Kurz vor der Verkündung des Urteils im Prozess gegen Chodorkowski, sagt Putin: „Ein Dieb gehört ins Gefängnis!“

Am 22. Dezember 2013 wird Chodorkowski aus der Haft entlassen nach einem Gnadengesuch, das aber keine Anerkennung seiner Schuld bedeutet. Er reist nach Deutschland aus, Anfang 2014 zieht er zu seiner Familie in der schweiz. Am 9. März 2014 reist Chodorkowski in die Ukraine und redet auf dem Maidan in Kiew. Er erklärt sich mit der Ukraine solidarisch und kritisiert die russische Invasion auf der Krim als Fehler.

Einer Frau, die bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Buches ihm auf Russisch entgegenruft, aber in Lugansk führten die Faschisten Krieg gegen die eigene Bevölkerung, wie das Putin und Lawrow ja immer wieder sagen, entgegnet Chodorkowski: „Ich empfehle meinen Landsleuten, daran zu denken, was Ende der 1990er Jahre im Nordkaukasus passiert ist. Wer damals gegen den Staat aufgestanden sei, der Krieg gegen die Bevölkerung führte, habe heute jedes Recht, die Kiewer Regierung anzuklagen. Wer aber diesen Krieg für legitim hielt, sollte besser schweigen“.

Quelle

Rupert Neudeck 2014Grünhelme 2014


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