Mitgefühl in der Wirtschaft
Gibt es das? Zu einem Forschungsbericht. Von Rupert Neudeck
Ein Titel, der so schräg klingt, dass man im ersten Moment meinen würde, die Autoren hätten sich vertan. Der Kontrapunkt in dem Titel-Begriffspaar ist nicht zu übersehen. Zumal das Titelbild noch einen draufsetzt und in das in überlebensgroßen Buchstaben gesetzte Wortungetüm: „Wirtschaft“ noch aus dem zweiten Teil des Titelwortes „S(chaft)“ den Dollar markiert. Der Titel erinnerte mich an die Hilfsorganisation, die plötzlich mitten in der Zeit der Hungersnot in Äthiopien entstand und sich tatsächlich zu nennen wagte: „Wirtschaft hilft Hungernden“. Aber es ist ein zur Hälfte Theologisches, zur anderen Hälfte sozial- und wirtschaftswissenschaftliches Seminar. Im April 2010 trafen sich in Zürich Denker und Forscher aus den Wirtschaftswissenschaften, der Neurowissenschaft, der Psychologie, der Philosophie, der Meditationspraxis und aus wirtschaftlichen Unternehmen mit dem Dalai Lama, der in einem so säkularen Buch immer als „Seine Heiligkeit“ apostrophiert wird.
Die Tagung hatte den Arbeitstitel „Altruismus und Mitgefühl in Wirtschaftssystemen“, Gastgeber war das „Mind and Life Institute“, dieses will die „Natur des Geistes und die Beschaffenheit der Wirklichkeit erforschen, um dadurch bessere Voraussetzungen für das allgemeine Wohlergehen zu schaffen“. Die Tagung ergab sich aus der Idee der Neurowissenschaftlerin Tania Singer. Die Professorin arbeitet seit 2006 an einem Programm der UNI Zürich, an dem Psychologen, Neuro- und Wirtschaftswissenschaftler die Grundlagen des menschlichen Sozialverhaltens untersuchen. Es ist ein gelungener Forschungsbericht insofern, als der Leser in jedem der vierzehn Kapitel sowohl den Vortrag des entsprechenden Experten wie auch die nachfolgende Debatte mitbekommt. Mit war nicht klar vor der Lektüre, dass der Dalai Lama mit seiner die ganze Welt erobernden freundlichen und immer offenen Haltung ein beliebter und gewünschter Gesprächspartner von Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern ist.
Das Buch ist auch zumindest im ersten Teil so zusammenzufassen, dass es den Aberglauben aufs Horn nimmt, nachdem wir Menschen nur egoistische und außerdem verschleierte eigennützige Triebe und Interessen haben. Sogenannte altruistische oder empathische Empfindungen und Aufwallungen sind nur umgedrehter Eigennutz. Dagegen wehrt sich die Garde der Wissenschaftler. Die Forschung, die sagte, dass wir altruistische Motive haben, sagt ja keineswegs, wir hätten keine eigensüchtigen Motive. Aber – so der Sozialpsychologe Dan Batson: “Wir sollten anerkennen, dass die altruistische Motivation …offenbar in unserer Natur liegt“. Der anwesende Buddhist Thopten Jnpa sagt dazu aus seinem buddhistischen Kontext: Die höchste Form des Altruismus werde im Erleuchtungsgeist Bodhichitta genannt. Für Bodhichitta seien zwei Dinge kennzeichnend. Das Streben nach vollem Erwachen zum Wohl aller Menschen. Damit eingehgehend strebe man zugleich die eigene Erleuchtung an. „Selbst hier wird also das Vorhandensein eines Eigeninteresses anerkannt“.
Man fragt sich wie es zu dieser Paarung der Wissenschaftler mit ausgewählten hochrangigen Buddhisten kommt. Die Antwort… Es gibt einen, der das eine wie das andere in Personalunion ist. Matthieu Ricard ist zunächst buddhistischer Mönch am Kloster Shechen in Kathmandu. Er hat parallel am Pariser Institut Pasteur Zellulargenetik studiert. Seit 1989 arbeitet er für den Dalai Lama als Französisch-Übersetzer. Er hat den Wert der täglichen Meditations-Exerzitien selbst gelebt und lebt sie weiter und kann deshalb die Probleme, die ein rein säkularer Beruf heute hat, gut verstehen, der nicht mehr den Rückzug in die Kloster-Stille und Meditation hat. Der Autor und Mönch thematisiert das nicht, das wäre für den Leser aber eine Ergänzung. Europa wird den Preis seiner Säkularisierung noch erkennen, wenn es keine von Nonnen-Ärzten und Pflegekräften aus den katholischen Orden mehr geführten Hospitäler haben wird. Der Moment wird bald kommen. Er wird auch dann eintreten, wenn die Hospitäler besitzrechtlich in kirchlicher Trägerschaft bleiben. Ricard schreibt: Wir sollten uns in die Situation einer Krankenschwester oder eines Krankenpflegers versetzen. „Wer in einem Pflegberuf arbeitet wird jeden Tag zusammen mit jedem Patienten leiden. Indem die betreffende Person empathisch darauf anspricht, leidet sie die ganze Zeit, und das führt mitunter zum Burn-out, zur kompletten Verausgabung im Sinne eines Mitgefühl-Erschöpfungs-Syndroms“.
Die Frage, die das Buch an mehreren Stellen sich stellt: Lässt sich Altruismus trainieren oder Mitgefühl? Das würde gehen, sagt der Wissenschaftler und Mönch, weil wir das Potential zur Veränderung in uns völlig unterschätzen. „Zu lesen, zu schreiben, Klavier zu spielen und vieles mehr beherrschen wir nicht bereits von Geburt an.“ Da brauchen wir 15 Jahre. Trotzdem haben wir die Vorstellung, menschliche Qualitäten wie Mitgefühl und Altruismus seien angeboren. Aber: „Wie jede andere Fertigkeit müssen auch selbstlose Liebe und Mitgefühl erst kultiviert werden“.
Es ist ein heimlicher Autoritätsrespekt vor seiner Heiligkeit, der den Leser etwas irritiert. So sagt und schreibt Ricard: „In Gegenwart Seiner Heiligkeit allzu viele Erläuterungen darüber abzugeben macht keinen Sinn“. Damit will er vielleicht sagen: Der Dalai Lama weiß das ja schon alles.
Joan Silk beschreibt die Fragen, wie verschiedene Tiere, etwa Menschenaffen und Bienen so etwas zeigen wie altruistische und prosoziale Verhaltensmuster. Sie macht das mit Fotos deutlich an der Fellpflege bei Primaten. Aber dieses Verhalten erstreckt sich erst einmal nur auf Verwandte und Partner, die sich ihrerseits altruistisch verhalten. Es gäbe aber jenen Altruismus, der unser evolutionäres Erbteil sei. Bestes Beispiel sei die Mutterliebe. Das sei eine von Natur gegebene Liebe, die nicht trainiert sein muss. Aber sie bleibe parteiisch, weil die an erster Stelle den eigenen Nachkommen gelte.
Ernst Fehr beschreibt, wie es auch in der Wirtschaftswissenschaft in letzter Zeit einen Wandel gegeben hat. Noch 1982 gab es den Nobelpreisträger Georg Stigler, der sagte: Wenn das Eigeninteresse und ethische Werte aufeinander treffen „wird vielfach das Eigeninteresse die Oberhand behalten“. Der Altruismus verschaffe uns allen eine Art Sozialversicherung. Altruisten helfen, wenn Hilfe benötigt wird. „Wenn es keinen Wohlfahrtsstaat gibt, bleibt nur Altruismus. Ja, der Wohlfahrtsstaat ist einerseits das Ergebnis altruistischer Bestrebungen“.
Ein zentrales Kapitel wird von dem Theologen John Dunne beigesteuert. Es geht um die Frage von Albert Camus, wie wir das Streben nach Glück mit unseren sozialen Verpflichtungen übereinstimmen lassen. Bei Primaten sei das Fürsorgesystem zwischen Eltern und Kindern besonders ausgeprägt. Im Buddhismus nutze man das natürliche Gefühl von Verbundenheit und Empathie. Alle empfindenden Wesen werden dabei einbezogen. Jeder Tibeter kenne die Redewendung: Ma Gyur sem chen tamche, das heißt etwa: „Alle empfindenden Wesen, unsere Mütter!“
Dabei wird auch der Buddhismus thematisch. Der behauptet, dass die angeborene Selbstbezogenheit unsere Wahrnehmung so stark beeinflusst, dass sie unser Streben nach Glück vereitele.
Es ist ein Arbeitsbuch, das zu sehr vielen Überlegungen und Diskussionen anregen kann. Der Dalai Lama, der etwas zu ehrwürdig immer als „Ihre Heiligkeit“ oder „Seine Heiligkeit“ angesprochen wird, wobei man den Ansprechenden vor sich mit einem Bückling und einer Verbeugung sieht, outet sich als Sohn Indiens. Die Idee der Ahimsa, der auf Mitgefühl basierenden Gewaltlosigkeit und die Vorstellung von religiöser Harmonie, diese beiden Dinge seien indisches Erbe. Und dann bekennt er: „Heutzutage bezeichne ich mich als Sohn Indiens. Meine Denkweise und meine Auffassungen, die mit diesen Werten verbunden sind, gehen auf die indische Nalanda Tradition zurück“ Und physisch habe sein Körper während der vergangen 51 Jahre im Exil von indischem Dal, Reis und Chapati gelebt. Er sei also ein wahrhaftiger Sohn Indiens. Der Dalai Lama achte traditionelle Kulturen, besteht aber darauf, dass jetzt das Kastensystem abgeschafft gehört und dass Gleichberechtigung nicht nur dekretiert, sondern durchgeführt wird. Auch die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau sei im Laufe der Moderne ein klares Postulat geworden. Es gäbe immer noch männliche Vorherrschaft. In der Debatte dieses Buches und des Seminars, das dem Buch zugrunde liegt, gehe es eben nicht nur um Klugheit, schon gar nicht akademische, obwohl die sehr wichtig sein kann. Es gehe um Warmherzigkeit. Und wenn es darum geht, sind „im Allgemeinen Frauen mitfühlender als Männer“. Wenn wir also viele Frauen in Führungspositionen bringen, haben wir vielleicht weniger Probleme.“
Das werden viele Zeitgenossen mit dem schönen Hinweis auf die eiserne Lady Margaret Thatcher bezweifeln und gröhlend darüber lachen. Aber der Dalai Lama meint das auch geschichtlich, tiefengeschichtlich. So wie die Weltreligionen tausende Jahre Zeit hatten, ihre Vorstellung von Frieden, Gewaltlosigkeit und Nächstenliebe durchzusetzen (und dabei erst mal gescheitert sind) so müssen wir jetzt sagen mit dem Dalai Lama: mit dem Übermass von „ich, ich, wir“ stehen wir Männer vielfach der Lösung von Problemen im Weg. Er sagte deshalb mit dieser unübertroffenen Klarheit: „Wir Männer sollten jetzt vielleicht besser von der Bühne abtreten“. Ein großes Hindernis für das menschliche Glück sei der Neid. Wenn der Neid zur menschlichen Natur gehöre, dann müssen wir ihn vermeiden können. Und: Die verschiedenen Religionen auf diesem Planeten hätten 2000 Jahre lang Zeit gehabt, zu koexistieren. Indien liefere ein großes Beispiel dafür. „Alle großen Überlieferungen der Welt existieren dort. Wir Menschen sind unterschiedlich. Deshalb brauchen wir verschiedene Religionen“.
Im Buddhismus gäbe es keine Vorstellung von einem Schöpfer, wie in den abrahamitischen Religionen Man beugt sich Gott. Nachdem man sich Gott vollständig unterworfen hat, habe man anerkannt, dass alle Kreaturen seine Geschöpfe sind. man hat damit allen Grund, Respekt und Liebe zu entwickeln. Ein ihm befreundete Moslem, sagt der Dalai Lama in dem Schlußkapitel, in dem die Forscher noch mal alles aus ihm und seiner Weisheit herausquetschen, habe ihm gesagt: „Ein echter Praktizierender des Islam muss alle Geschöpfe lieben, weil alle Geschöpfe von Allah erschaffen wurden“. Der Dalai Lama hat aber die Kraft, auch die Menschen guten Willens einzubinden, die keine Religion anerkennen, sogar solche, die gegen Religion sind. „Falls sie tatsächlich das Gefühl haben – Religion sei schlecht – in Ordnung. Werden sie einfach ein liebenswürdigerer Mensch, weil ihr Glück mit dem Glück der anderen im Zusammenhang steht.“
Die Ergebnisse der Wissenschaften stehen einem glücklichen Zusammenleben der Menschheit nicht im Wege. Ein Festhalten an absoluten Begriffen wird uns nicht zum Mitgefühl bringen, sondern nur das Eingeständnis, dass der britische Theologe John Dunne formuliert, in dem er den christlichen Mystiker Meister Eckhart zitiert. Meister Eckart sagte: „Wer Gott als seinen Gott liebt und Gott als seinen Gott anbetet, und sich damit genügen lässt, der ist für mich ein ungläubiger Mensch“.
Die Wirtschaft und das eigennützige Verhalten ist Thema eines Seminars mit dem Dalai Lama mit Ernst Fehr. „Eigennütziges Verhalten führt zu einem Mangel an öffentlichen Gütern und ist der Kern des Problems. Die wichtigen öffentlichen Güter sind die demokratischen Freiheiten jedes Bürgers. Gegen Diktaturen zu kämpfen, sei für den Einzelnen sehr aufwändig. Andere öffentliche Güter sind der Kampf gegen die Erderwärmung, der Schutz der Meere vor Überfischung und die Versorgung mit sauberer Luft. Und dann gibt es das Problem der Trittbrettfahrer: Wer zu einem öffentlichen Gut nicht den geringsten Beitrag leistet, zieht daraus Gewinn. Das schaffe einen Anreiz für Trittbrettfahrer. Wer zu dem öffentlichen Gut etwas beisteuert, trägt die Kosten und verschafft den anderen Vorteile. „Einen Beitrag zu den öffentlichen Gütern zu leisten wäre demnach eine altruistische Handlung. Ich trage Kosten, die anderen Menschen einen Nutzen bringen“. Eigensüchtige Menschen sind alle Trittbrettfahrer. „Sollen doch die anderen produzieren, sie wollen konsumieren“.
Das Buch setzt darauf, dass wir uns nicht nur in der Rolle des gutmütigen Beobachters verstehen, sondern uns mitverantwortlich fühlen auch für die Wirtschaft, die sehr schnell aus dem Ruder laufen kann. Die Autorin Antoinette Hunziker-Ebneter plädiert als Leiterin eines großen Unternehmens der Form Futura Invest AG, dass man bei seiner Betriebsführung eine Analyse macht, wieviel Treibhausgase unser Unternehmen freisetzt, wie es mit den Ressourcen umgeht, ob es Produkte für unterversorgte Menschen anbietet und wie ernst es bei der Arbeit und Produktion die Menschenrechte nimmt. Und dieses ihr Unternehmen konnte belegen, dass bei Ernstnehmen der Nachhaltigkeits- und Finanzanalyse herausbekommen kann, dass man auf solchen Märkten genauso viel verdienen kann wie bei einer Investition in herkömmliche Modelle.
Sie beschreibt ihr persönliches Ziel: Heute würden in Europa nur 3 Prozent aller Güter auf nachhaltige Weise investiert. In den USA sind es 10 Prozent. Ihr persönliches Ziel wäre es mitzuerleben, wie wir 25 Prozent erreichen. Und sie möchte, dass die Leute in der Führungsspitze der Unternehmen soziale und ökologische Faktoren nicht mehr ignorieren. Das Schlußwort bei all diesen Forschungsvorträgen und Seminaren hat der Dalai Lama. Der menschliche Altruismus gehe weit über das hinaus, was wir im Tierreich vorfinden. Wir verstehen die Gesellschaft nicht, wenn wir uns nicht klarmachen, dass der Mensch über die Befähigung zu Altruismus verfügt. Ohne diese Erkenntnis verstehen wir weder die Organisationen, die Politik, das Familienleben, die Märkte.
„Wenn wir wollen, dass unsere Welt besser wird, dann müssen wir unsere altruistische Natur anerkennen“.