Spiel mit dem Schicksal
Die Tagebücher eines grossen Weltbeobachters. Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Die Tagebücher von Tiziano Terziani. Von Rupert Neudeck
Er war 24 Jahre Reporter für Südostasien beim Spiegel, ehe er sich dort verabschiedete und sich dem Leben eines Mystikers oder Sufis zuwandte. Oder auch eines Menschen, der wieder mal nach der Natur leben wollte und sich deshalb zurückzog, sich der Kunst des Meditierens bediente, nachts aufwachte und eine Kerze anzündete.
Das Buch besteht lange nach dem Tod des Reporters, der für eine große Gemeinde zu einem Guru wurde, aus Tagebucheintragungen. Es verdankt sich der Tatsache einer Entdeckung. Terziano war einer der ersten Journalisten, die auf einem Computer arbeiteten. Es wurden plötzlich 147 Dateien in dem Ordner „Tagebuch auf dem Laptop von Tiziano Terziani gefunden. Diese Tagebucheintragungen umfassen die Zeit von 1988 bis 2003. Wir erfahren über sie sehr viel über das erste Land, in dem sich Terziano als besonders bunter Vogel aufgehalten hat, nämlich in dem Rotchina kurz nach dem Tod von Mao Tse Tung, also einem knochenharten diktatorischen Regime.
Er kam nach China in chinesischer Kleidung, gab sich einen chinesischen Namen (Deng Tiannuo) und machte sich wie immer bei einem autoritären Regime verdächtig. Er wurde richtig brutal festgenommen, man unterstellte ihm, wie das solche Regime können. den nicht angemeldeten Besitz von Kunstwerken. Es bedurfte der ganzen Überzeugungskraft italienischer Diplomatie bis hin zum Staatspräsidenten Pertini, dass Terziano da herauskam. Er hatte sich diesem China mit einem geradezu überdimensionalen journalistischen Ethos genähert. Er wollte selbst bei seiner Verhaftung das Land nicht verlassen, das er ja erst vier Jahre hatte durchreisen können. Er bedauerte es, dass das nun nach der Intervention von Pertini ganz vorbei war. „Endlich hatte sich für mich ein kleines Fenster auf das wahre China aufgetan und ich wollte, dass es nicht zu schnell wieder geschlossen würde“.
Er schreibt noch während dieser dramatischen Tage, dass er das war, was man auf Chinesisch sagt: „die Kröte, die vom Grund des Brunnens aus in den Himmel schaut“ und es können mir Fehleinschätzungen unterlaufen….Die Frage ist nur, ob die chinesischen Freunde sich einig sind, die Geschichte mit ihm zu Ende zu bringen. Die Geschichte dieser tyrannischen Festnahme berichtet Terziani noch ausführlich. Lao Liu soll ihm den Bescheid vortragen: „Wir haben Dich gerufen, um dir das Ergebnis deines Problems mitzuteilen. Entscheidung über die Behandlung von Deng Tiannuo, der illegal chinesische Nationalgüter gekauft hat. Deng Tiannuo, 46 Jahre, in der Volksrepublik China tätig als Korrespondent der Bundesrepublik Deutschland für das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL wurde am 1. Februar 1984 an der Zollstation Gingbei festgehalten, während er versuchte, eine Buddha Statue zu schmuggeln. Aus diesem Grunde wurde er am 8. Februar vom Büro für öffentliche Sicherheit in Peking einbestellt, und sein Haus wurde durchsucht. Wir haben in seinem Haus 57 Kunstgegenstände gefunden, die chinesische Kulturgegenstände sind.
Nach der Identifikation wurden 24 dieser Gegenstände als wertvoll eingestuft und ihr Gesamtwert auf 20.000 Yuan geschätzt. Es wurde dann verfügt, dass diese 24 illegal erworbenen (wovon natürlich kein Wort stimmt) Gegenstände beschlagnahmt wurden sowie auch die Buddha Statue. Es gab für den Korrespondenten ein Bußgeld von 2.000 Yuan. Und es wurde beschlossen: Deng Tiannuo ist nicht geeignet, in China zu leben.“
Das ist die eine große erste Geschichte. Der Korrespondent wurde dann vom SPIEGEL in die verschiedenen Nachbarländer geschickt. Aber es wird über diese Notizen nichts deutlich, was darauf schließen lässt, dass es damals eine bessere Lösung hätte geben können. Er war auch ein ganz besonderer Journalist, wie man diesen Tagebüchern entnehmen kann. Er konnte nur in Ländern arbeiten, in denen er auch zu Menschen und Teilen der Kultur einen Zugang fand. Deshalb waren die Jahre in Japan fast verloren. Denn er konnte in dem Inselreich nicht Fuß fassen.
So heißt es in einer Eintragung vom 10. Juli 1985, Tokio Joggen am Morgen. „Ich habe den Eindruck, auf einem Erdflecken gelandet zu sein, wo ich kein einziges Mal, keine einzige Stunde glücklich sein werde, ich habe das Gefühl, ich verblöde dabei“. Das ist ja eine nicht selten gehörte Distanz zu Japan. Ich besinne mich, dass der große Philosoph Josef Pieper auch ziemlich enttäuscht von einer Vortragsreise in Japan zurückkam mit der Bemerkung: Die haben alle keine Fragen. Es gibt viele Japaner, denen ihr Unglücklich sein nicht bewusst ist. Es gibt dann auch solche bizarren Urteile: dies Japan sei das einzige Land, wo der Kommunismus funktioniert. „Die Polizei kontrolliert alles. Es gibt das, was alle für soziale Gerechtigkeit halten“.
Und – noch einmal ganz anders herum gewendet: Er stellt bei einem Abendessen die Frage: Wenn ein Marsmensch auf die Erde käme und in dem Land leben möchte, das den größten Einfluss auf die Zukunft der Welt hat, wohin müsste er sich dann wenden? Antworten die Tischnachbarn, die alle Bankiers und Geschäftsleute sind. „Nach Japan“. Er trifft den niederländischen Botschafter Dries van Agt, der ihm einen Lobgesang singt darüber, wie einzigartig die Wirtschaft läuft und wie die Leute mehr arbeiten und nicht so viel zum Skifahren weg sind. Terziano aber besteht darauf, dass das die Tragödie der Japaner ist, ein Land voller Geld und es weiß nicht, was es damit anfangen soll. Keine Fantasie in all dem. Es gibt die „übliche stumpfsinnige Effizienz der Japaner.
Wie soll man ein solches Buch von weit über 500 engbedruckten Seiten zusammenfassen? Der Autor hatte ein Charisma, wohl auch ein prophetisches Charisma, denn er spürte den Verlust an Natur und Kultur, an Schönheit und Ethik in unserer Welt. Es sind wunderbare kleine kulturkritische Beobachtungen, die aber nicht im Gewand des Traktats daherkommen, sondern immer als beobachtete Zeugnisse. Um es an einer Eintragung festzumachen: Terziani ist wieder aus seiner Welt in seine alte mitteleuropäische gekommen. In Wien hat man ihn ins Sacher verpflanzt. Er hat dort schlecht geschlafen. Die Betten sind zu perfekt, die Decken zu warm, die Kissen zu weich. „Ich gehe joggen in einer verlassenen Stadt voller Gespenster hinter den Büschen“. In den Zug einzusteigen sei wie ein Flugzeug zu nehmen: „automatisch sich öffnende Türen, elegantes Design, Klimaanlage, der Speisewagen mit Tischtüchern aus gestärktem Leinen, und draußen vor den Fenster ein unversehrtes sauberes Österreich.“ Bis Bologna, schreibt Terziani nichts Auffälliges außer der Tatsache, dass man in diesem supermodernen österreichischen Zug die Fenster nicht öffnen kann und dass er, wenn die Klimaanlage ausfällt, ein Feuerofen wird.
1993 ist das Jahr, in dem er es möglich macht, auch als Weltreporter des Spiegel, kein Flugzeug zu besteigen. Ein Bruder im Geiste von Carl Amery. Er ist unterwegs durch die Weltmeere bis nach Malakka an Bord des MS Trieste. Er steigt dort aus, spürt, wie er schreibt, den Hauch der Geschichte, sieht Malakka wie die Portugiesen es 1511 vor sich sahen. „Jetzt strebt alles zum Himmel. Freilich nicht Kirchen und Kirchtürme, sondern Einkaufszentren.“ Er gibt in den gut geschriebenen Beobachtungen seiner Lebensumwelt in Südostasien wie in Europa, aber auch in der Sowjetunion, die er ganz mit dem Zug bereist, fundamentale zeitkritische Erkenntnisse in kürzester Prägnanz. So am 1. November 1993 in Bangkok, wo er auch lange mit und ohne Familie gelebt hat. „Wir leben in einer Zeit, da die Ästhetik schon am Ende ist. Die Ethik geht ihrem Ende zu“.
Der Autor bleibt auch in seinen mystischen Perioden urteilsstark, zumal er es ja nicht bis zum Mönchsein schafft und die stabilitas loci sich antut. Nein, er ist immer wieder mal, auch für italienische Zeitungen im Kampfgewühl der Konflikte. Immer wieder beobachtet er – gerade weil er dem Buddhismus so viel abgewinnen kann -, wie sich Tibet verändert. „Arme Tibeter“, ruft er nach einem Besuch im November 2000 in Dharamsala aus: Mittlerweile würden sie einer Emigrationskultur angehören. Tibet, das sei mittlerweile nur hier in Indien, aber nicht mehr in Tibet. „Und dieses Tibet hier ist eine Attraktion für Hollywoodschauspieler, gelangweilte europäische Prinzessinnen und ein paar Milliardäre“. Zwischendurch fragt man sich als Leser, ob das denn alles so stimmt, oder auch mal Ausfluss eines Terziani Vorurteils ist: dass in Indien alles schmutzig ist, alles stinkt, alles nach Pisse und Scheiße riecht. Terziani gewinnt einen Hassgegner in Italien, die Orianna Fallaci, die sich für Hass und Ressentiment entschieden habe, für die niedrigsten Instinkte und deren Gewalt. Er stellt sich – das wirkt nicht mal ironisch – mit Schrecken vor, sie würde mit diesem Hass-Aufwand wiedergeboren, z. B. „als palästinensisches Mädchen in einem Flüchtlingslager“. 2001 nach dem 11. September wird er Zeuge der fürchterlichen, völlig unverhältnismäßigen Bombardierungen der US-Luftwaffe auf Afghanistan. Das haben wir im behüteten Europa gar nicht mitbekommen, dass es nicht nur um die Vertreibung der Taliban ging, sondern um eine Hassorgie.
Terziani geht angewidert zum täglichen Briefing der Koalition und ergreift die Flucht. Eine Schande, die Angestellten lachen und bereiten Erklärungen vor, mit denen sie die Leute abspeisen. An der Wand sieht er ein Poster, ein Afghane mit einem Mehlsack, auf dem die Aufschrift „USA“ steht. „Eine Schande, noch nie haben ich einen solchen Hass auf die USA empfunden. In Vietnam hatte ich Mitleid mit den Marines, mit den Kämpfern“. Terziani ist sich ganz klar in seiner Einschätzung des Krieges und zitiert einen anerkannten italienischen Arzt, der schon lange hier arbeitet: „Die USA haben den Krieg ins Land gebracht, ohne ein Versprechen auf Frieden, aus purem Rachedurst haben sie den Krieg angefangen. Sie hätten verschiedene andere Versuche unternehmen können, die nicht den Einsatz von Gewalt bedeuten“. Der Krieg sei schmackhafter als der Frieden.
Aber es ist am Ende auch das Eingeständnis eines Scheiterns eines typisch egoistischen Europäers, der die Natur-Meditation und die selbstgewählte Einsamkeit vor das Zusammenleben mit dem Ehepartner Angela und den Kindern Folco und Saskia stellt. Das wird ihm unterwegs noch bewusster, er macht daraus aber keine Metanoia, keine Umkehr, sondern beharrt in der schönen Passivität, die sich darin berauscht, dass die Welt nicht zu ändern ist, nur der Einzelne vor und mit sich selbst.
Es ist kein Buch, das die einzelnen Teile kommentiert, was für den Leser ganz hilfreich wäre, denn er würde gern wissen, von wann bis wann lebte der Autor dort in Hongkong, Tokio, Bangkok, Indien usw. Er ist auf der Suche nach einem Glauben. „Ich suche die Religion“, schreibt er: „Ich suche etwas Verpflichtenderes als das Alltägliche, aber ich kann die sklavische Unterwerfung unter Regeln nicht akzeptieren, das Niederknien, die Anbetung in der Masse“.
Tiziano Terziani „Spiel mit dem Schicksal – Tagebücher eines außergewöhnlichen Lebens“
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