Stirbt die Artenvielfalt? Warum braucht das Leben Vielfalt statt Einfalt? 5/8
Der Begriff Biodiversität wird meist mit Artenvielfalt übersetzt.
Dabei geht es jedoch nicht nur um den ungeheuren Reichtum von bis zu 80 Millionen Tier- und Pflanzenarten, sondern auch um den Schutz und um die nachhaltige Nutzung von Lebensräumen und Genen von Tieren und Pflanzen.
Die Hauptziele des Artenschutzes:
- Bis 2010 soll das Artensterben weltweit drastisch reduziert werden.
- Es geht um den Erhalt des Artenreichtums in den Zeiten des Klimawandels.
- Ein weltweites Netz von Schutzgebieten zu Lande und auf dem Wasser soll eingerichtet werden.
- Es geht um den Schutz der Wälder und um den Zugang zu genetischen Ressourcen.
- Und es geht um die zentrale Frage: Wer soll das alles bezahlen?
Menschen sind die größten Feinde von Vögeln. In Italien werden jedes Jahr Millionen Singvögel kaltblütig für die menschlichen Gaumen abgeschossen.
Der Mensch sorgt aber auch dafür, dass wichtige Rast- und Überwinterungsplätze für Zugvögel verschwinden. Mit dem Klimawandel werden sich die Flugrouten von etwa 50 Milliarden Zugvögeln verändern. An den Flugwegen gelegene Sümpfe und Auen können austrocknen. Außerdem verschieben sich die Jahreszeiten. Schon heute kommen manche Vogelarten zu spät aus dem Winterquartier zurück und dann sind die besten Brutplätze bereits besetzt. Deshalb können zum Beispiel Grau-Kraniche gegen Ende des 21. Jahrhunderts verschwunden sein.
Auch Meerestiere sind gefährdet. Vor 200 Jahren gab es noch etwa mehrere hundert Millionen Wale, über 80 Arten. 250.000 Blauwale, so schätzen die Meeresbiologen, hat es einmal gegeben. Heute sind es noch zwischen 1.000 und 5.000 Tiere.
Allein in der Jagdsaison 1930/31 fielen den Walfängern etwa 70.0000 Großwale zum Opfer, darunter 30.000 Blauwale. Trotz des Jagdverbots seit 1966 geht die Zahl der Wale weiter zurück.
Auch der Weiße Hai, der Kabeljau und der Thunfisch leben heute in arger Bedrängnis. Die Folgen auch für uns Menschen erahnen wir nicht einmal. Deshalb muss die Bonner Konferenz großzügige Schutzgebiete einfordern. Und zwar weltweit. Und außerdem sind Fangverbote für einzelne Fischarten unausweichlich.
Den Blauwalen hat freilich selbst ein Fangverbot wenig genutzt. Andere Tierarten – etwa Krabbenfresser – besetzen deren Nischen, seitdem die Meeresriesen beinahe ausgerottet sind. Hinzu kommt, dass durch den Klimawandel und das Schmelzen des Gletschereises das Hauptnahrungsmittel für den Blauwal, das Phytoplankton, immer mehr verschwindet. Und damit haben die Blauwale zu wenig Krill, was in den kalten Polargewässern ihr Kraftfutter war. In der Natur hängt eben fast alles mit allem zusammen.
Blauwale sind die größten Tiere, die jemals auf der Erde lebten. Sie sind 33 Meter lang und bis zu 190 Tonnen schwer. Ihr Energiebedarf beträgt 1,5 Millionen Kalorien pro Tag, das sind etwa 2.700 Tafeln Schokolade.
Dagegen überrascht uns in den letzten Jahrzehnten ein anderer Meeresbewohner: die Suppenschildkröte. Sie sind bis zu fünf Zentnern schwer. Noch vor 50 Jahren schien das Tier der Ausrottung nicht mehr entkommen zu können. Doch heute gibt es wieder mehrere zehn Millionen Schildkröten.
Wichtige Brutbestände wurden geschützt und die Jagd auf die Schildkröten ist verboten. Das Beispiel zeigt, welche mutigen Beschlüsse in Bonn gefasst werden müssen, damit die Vielfalt des Lebens und damit das Leben erhalten bleibt.
Die Artenvielfalt ist zunächst einmal ein Wert an sich. Jede Art in der Schöpfung macht Sinn und hat Bedeutung, auch wenn wir vieles noch nicht verstehen. Darüber hinaus gefährdet aber das Artensterben auch die Medizinforschung. Eine neue Studie des UN-Umweltprogramms warnt:
- Der vom Aussterben bedrohte Weiße Hai ist kaum krebsanfällig und bietet der Medizin einmalige Chancen für die Krebsforschung.
- Bären bauen im Winterschlaf Knochenmasse auf – das ist eine Forschungshilfe für Knochenschwundforscher.
- Der Magenbrüterfrosch ist bereits ausgestorben. Seine Kaulquappen wuchsen im Magen der Mutter. Die Erforschung hätte bei der Behandlung von Magengeschwüren helfen können. Aber allein in Deutschland sind 40 % aller Tierarten vom Aussterben bedroht.
Das Artensterben hat auch katastrophale Folgen für die Welternährung. Mit 10 Pflanzenarten und fünf Landtierarten werden zur Zeit 70 % der weltweiten Nahrungsmittelversorgung organisiert. Diese Artenarmut bei der Ernährung kam zustande, weil in den letzten 150 Jahren eine hoch technologisierte Agrarindustrie die Rolle der Vieh- und Pflanzenzüchter übernommen hat – mit dramatischen Folgen für die Vielfalt des Lebens in der Landwirtschaft.
Seit vor 12.000 Jahren die Menschheit mit Ackerbau und Viehzucht begonnen hat, haben Menschen durch Selektion und Züchtung neue Kulturarten und –sorten entwickelt, sie haben Haustierrassen gehalten und je nach Nutzen und Bedarf weitergezüchtet.
So entstand in den letzten 12.000 Jahren ein breites Spektrum an Kulturpflanzen und Haustierrassen, die an Umwelt und menschliche Ernährungsgewohnheiten angepasst waren. Unsere Ess- und Lebensmittelkultur ist über viele Jahrtausende gewachsen.
Aber seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts setzen wir im Glauben an den Fortschritt immer mehr Technik und Chemie ein, um unsere Lebensmittel „sicherer“ und haltbarer zu machen, immer schöner anzuschauen und immer billiger. Noch 1955 gab eine deutsche Familie 45 % ihres Einkommens für Lebensmittel aus, heute noch 11 %. 2008 geben wir im Schnitt in Deutschland mehr Geld aus fürs Auto als für Lebensmittel.
Diese sind heute auch tatsächlich sicherer, was Haltbarkeit und Übertragung von Krankheiten betrifft und sie können auch kreuz und quer durch die ganze Welt transportiert werden. Naturidentische Aromen und Geschmacksverstärker lassen sie auch noch ganz gut schmecken.
Aber, so fragt der Münchner Biobauer und Metzger Karl Ludwig Schweisfurth: „Wo ist denn das Leben in den Lebens-Mitteln geblieben? Es ist durch all das Erhitzen, Hocherhitzen, Ultrahocherhitzen, durch Raffinieren, Härten, Bleichen, durch all die vielen chemischen Substanzen, die Hilfs- und Zusatzstoffe – alles in Übereinstimmung mit den Gesetzen – langsam, unmerklich und leise, wie auf Katzenpfoten aus unseren Lebens-Mitteln verschwunden. Wir haben heute überwiegend tote Nahrungsmittel vor uns auf den Tellern.
Lebens-Mittel heißen in deutscher Sprache doch offensichtlich deshalb Lebens-Mittel, weil sie mit dem Leben zu tun haben, Leben vermitteln und lebensfördernd sein sollten, nicht nur satt machen und gut schmecken. Das haben wir vergessen, darüber müssen wir nachdenken! Geprägt vom naturwissenschaftlichen Denken haben wir gelernt, nur den materiellen Teil eines Lebens-Mittel zu betrachten. Wir wissen – fast – alles über die materielle Zusammensetzung über Eiweiße, Fette, Kohlenhydrate, über Vitamine und Enzyme, über Spurenelemente und Schadstoffe, soweit wir sie messen können, und haben für alles Höchst- und Mindestwerte festgelegt, kontrollieren dies auch sehr genau. Aber nach uralter Weisheit ist das Ganze eben mehr als die Summe seiner materiellen Teile. Was aber ist dieses MEHR, das das Leben ausmacht?
Viele Naturwissenschaftler – unter ihnen Albert Einstein und Werner Heisenberg, der Nobelpreisträger Erwin Schrödinger und der frühere Direktor am Max Planck Institut für Physik in München, Hans Peter Dürr, gehen davon aus, dass über der materiellen Ebene eine geistige existiert, die ordnend auf die Materie einwirkt. Nach dem heute noch vorherrschenden Wissenschaftsparadigma ist aber das „Geistige“ nicht messbar. Deshalb glauben viele nicht daran. Man kann den Geist aber auch durch Intuition und Meditation oder ganz einfach durch die Klarheit des Verstandes erkennen oder erahnen.“
Bis vor 150 Jahren war die Landwirtschaft an die Umwelt und natürliche Standortfaktoren eng gebunden. Doch heute gibt es chemischen Dünger, Pestizide, Fungizide und Medikamente und Treibhäuser, mit deren Hilfe eine optimale, aber künstliche Bedingung für Pflanzen geschaffen wird.
Weil diese künstliche und oft leblose Agrarwelt viel Geld kostet und die meisten Agrarbetriebe auf ertragreiche und gewinnbringende Zuchtsorten umsteigen und Monokulturen anbauen, werden traditionelle Tier- und Pflanzenarten an den Rand gedrängt. Zunehmende Naturkatastrophen, häufig bedingt durch den Klimawandel, bedrohen zusätzlich Tiere und Pflanzen. Die Folgen sind mehr und mehr Hungersnöte in vielen Entwicklungsländern.
In den Industriestaaten wird das Artensterben durch drei Mythen der chemisierten Landwirtschaftslobby verstärkt:
- Mythos Nr. 1: Ökolebensmittel sind zu teuer
- Mythos Nr. 2: Ökolandwirtschaft kann nicht alle ernähren
- Mythos Nr. 3: Gegen Hunger helfen nur Agrarchemie und Gentechnik!
Mit der Modernisierung der Landwirtschaft wurden höhere Produktivität von Pflanzen und Tieren immer wichtiger. In Indien werden 75 % des gesamten Reisanbaugebietes mit nur noch 10 Reissorten bebaut. Noch vor 60 Jahren wurden auf demselben Gebiet 30.000 Reissorten angepflanzt. Eine ähnliche Entwicklung fand bei den Haustierrassen statt. Über 50 % der 5.000 Holstein Friesian Bullen, die 1999 in 18 Ländern geboren wurden, stammten von nur fünf Zuchtbullen ab.
Die Artenvielfalt ist überlebenswichtig – auch und gerade für uns Menschen.
Teil 6: Artensterben heißt: Wir löschen die Daten der Natur
Quelle
Franz Alt
Erstveröffentlichung „tz“ München 2008