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Zahl der Umweltchemikalien wird unbeherrschbar

Die Menge künstlicher Chemikalien erreicht ein Ausmaß, das die Erde langfristig unbewohnbar machen könnte, warnen Wissenschaftler.

Das größte Problem ist Plastik, zusammen mit hunderttausenden zugelassenen künstlichen Chemikalien wie Pestiziden, Antibiotika, Hilfs- und Werkstoffen. Ohne Chemikalien wäre die Menschheit nicht da, wo sie ist, in jeder Hinsicht.

Ausweichen kann man ihnen nirgendwo mehr, nicht einmal in der Tiefsee. Es sind zu viele und sie sind überall, schließt ein Forscherteam, das eine Studie zu künstlichen Substanzen in «Environmental Science and Technology» veröffentlicht hat. Zahl und Menge künstlicher Substanzen sind für die Menschheit unbeherrschbar geworden.

Manche sind harmlos, einige giftig, aber ohne sie geht es nicht

Etwa 350’000 zugelassene Chemikalien gibt es, bis 2050 wird sich ihre Zahl schätzungsweise verdreifachen, seit 1950 hat sie sich bereits verfünfzigfacht. Jedes Jahr werden mehr neue Stoffe erfunden, als jemals getestet werden können.

Einige sind harmlos wie Aromastoffe. Andere sind giftig wie das Pestizid DDT und zerfallen nach einiger Zeit in andere schädliche Chemikalien. Manche sind quasi unzerstörbar, wie die Fluorchemikalie PFOA. Auf manche kann die Menschheit nicht verzichten.

Laut den Forschenden gibt es Hinweise darauf, dass die schiere Menge der Chemikalien in der Welt den Rahmen dessen sprengt, was der Planet auf Dauer verkraften kann. Oder mit anderen Worten: Die Belastung der Erde mit Umweltchemikalien könnte die Menschheit auslöschen. 

Die Grenze für Künstliches ist vermutlich überschritten

Die Forschenden des Stockholm Resilence Center (SRC) beziehen sich damit auf das Konzept der neun Planetaren Grenzen. Diese wurden 2009 von einer Wissenschaftlergruppe als Zustände definiert, die das Potenzial haben, das Leben auf der Erde ernsthaft zu gefährden.

Zu den Bruchstellen der natürlichen Welt gehören die Klimakrise, die Versauerung der Ozeane, die Ozonkonzentration in der Stratosphäre, der globale Süßwasserverbrauch, der Grad der Landnutzung, die Stickstoff- und Phosphorkreisläufe der Erde, die globale Biodiversität, der Grad der Luftverschmutzung und die Belastung mit Umweltchemikalien.

Die Planetaren Grenzen sind als Hebel anerkannt, die das globale Gleichgewicht so aus dem Ruder bringen können, dass es zumindest große Umwälzungen zur Folge hat. Die einzelnen Punkte sind dabei nicht getrennt zu betrachten, sie beeinflussen sich gegenseitig.

Für sieben von ihnen hatten Forschende bisher Grenzwerte festgelegt. Das Limit für die noch verkraftbare Belastung an Umweltchemikalien war bislang nicht genau bekannt. Vermutlich, so schließt das internationale Team, hat die Menschheit sie bereits überschritten. Festzulegen, wie viel künstliche Chemie zu viel ist, ist dabei nicht einfach. Im Unterschied zum CO2-Gehalt der Luft oder dem Nitrateintrag gibt es bei menschengemachten Stoffen keinen vorindustriellen Referenzwert.

Komplexe Risikoabschätzung

Es ist zwar schon lange bekannt, dass Umweltchemikalien schädlich sind. Nicht nur auf individueller Ebene, wo sie Fruchtbarkeitsstörungen, Asthma, Krebs, Diabetes und andere Krankheiten auslösen können, sondern auch für das System an sich. Wie sich vorhandene und zukünftige Substanzen zur Ökologie verhalten und inwieweit sie sich gegenseitig beeinflussen, ist aber schwer zu sagen. Wie schädlich beispielsweise Mikroplastik für Mensch und Tier ist, ist nicht abschließend erfasst, es gibt aber Hinweise darauf, dass es menschlichen Zellen schadet.  

Das Team um die Umweltchemikerin Linn Persson, die sich seit fast zehn Jahren mit den Planetaren Grenzen chemischer Umweltverschmutzung beschäftigt, schließt daraus, dass sowohl Anzahl und Menge wie auch Wirkungen synthetischer Stoffe unser Fassungsvermögen übersteigen. Die Menschheit könne die Gesamtheit künstlicher Chemikalien weder wirklich erfassen und prüfen noch messen oder kontrollieren. Das Risiko, dass sich ein Stoff oder eine Kombination aus mehreren als begrenzend für das Leben auf der Erde herausstellt, ist hoch.

Mehr als Schadensbegrenzung ist nicht drin

Zhanyun Wang, der an der ETH Zürich forscht und an der Studie beteiligt war, verdeutlicht gegenüber der «Zeit»: «Unter den 350’000 [zugelassenen] Stoffen sind 50’000 als vertraulich und noch einmal 75’000 als ‚komplexe Gemische‘ eingetragen. Bei diesem riesigen Teil der chemischen Verbindungen weiss praktisch niemand, was das genau für Stoffe sind, und bei denen, von denen wir es wissen, haben wir keine Ahnung, wie viel davon produziert wird.»

Die Forschenden raten dringend, jetzt zu handeln, da der Zuwachs umweltfremder Stoffe auf dem Planeten noch länger anhalten dürfte. Was gar nicht so einfach ist – ohne Chemie können wir nämlich nach aktuellem Stand der Dinge auch nicht leben. Mehr als Schadensbegrenzung ist also momentan nicht drin.


Quelle

Der Bericht wurde von der Redaktion „INFOsperber.ch“ (Daniela Gschweng) 2022 verfasst – der Artikel darf nicht ohne Genehmigung weiterverbreitet werden! 

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