Vom Wachstumsfetisch zum „Post-Wachstum“
James Gustave Speth und Familie verbrachten 25 Jahre in Washington DC. Es waren – wie Gus betont – gute Jahre; jeder Morgen begann mit der Lektüre der „Washington Post“. Diese Zeitung war damals ein zuverlässiger und fortschrittlicher Begleiter. Aber in jüngster Zeit hat deren Redaktion eine Reihe von Leitartikeln veröffentlicht, welche die Abneigung gegen das Thema zum Ausdruck bringen, das Umweltschützer und Klimaschützer empfehlen: „Degrowth“. Von Udo E. Simonis
Der jüngste Leitartikel der „Washington Post“, der mich zu diesem Text motiviert hat, lautet: „Ein Ende des Wachstums wird den Planeten nicht retten“. Die Redaktion der Zeitung ist offensichtlich bestrebt, dafür zu plädieren, dass Wachstum an sich gut ist und dass die USA weiterhin das Wirtschaftswachstum verteidigen müssten – Eilmeldung! Und welcher Prügelknabe wäre besser geeignet, auf dessen Rücken man seine Sache vertreten will, als die „Degrowth“-Bewegung.
Degrowth hat in Europa inzwischen viele politisch aktive Befürworter. In den USA sind die Befürworter aber so weit von politischer Relevanz entfernt, dass ihre Stimme nicht gehört wird. Dennoch kann die „Washington Post“ nicht widerstehen: „‚Degrowth‘ – der Markenname für Neo-Malthusianismus – ignoriert, wie Einfallsreichtum und Innovation die Menschheit immer wieder in die Lage versetzt haben, ökologische Zwänge zu überwinden.“
In vorangehenden Leitartikeln benutzte man sogar verächtliche Worte gegen Wachstumskritiker wie Naomi Klein, Greta Thunberg und Papst Franziskus – und man diffamierte angesehene Ökonomie-Professoren wie Herman E. Daly und Paul Ehrlich. Daraus kann man schließen, dass es der Zeitung nicht wirklich um die (kleine) Degrowth-Bewegung geht, sondern um diejenigen, die mit der wachstumsfreundlichen Orthodoxie punkten.
In mehreren Büchern und zahlreichen Artikeln habe ich mich den Kritikern des Wirtschaftswachstums angeschlossen. Daher fühle ich mich auch berufen, jetzt zu antworten. Für mich ist es die Ansicht, dass das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) kein wichtiges nationales politisches Ziel mehr sein sollte. Das mag für viele wie Ketzerei klingen; in den USA gibt es nämlich kaum noch etwas, das treuer befolgt wird als das „Evangelium des Wirtschaftswachstums“.
Um besser zu verstehen, womit Wachstumskritiker konfrontiert sind, möchte ich aus J. R. McNeills Buch „Blue Planet“ zitieren. Darin schreibt er, dass der Wachstumsfetisch im 20. Jahrhundert seinen Einfluss auf Vorstellungen und Institutionen auf diese Weise gefestigt hat: „Soziale, moralische und ökologische Missstände wurden im Interesse des Wirtschaftswachstums aufrechterhalten. Man hatte den Glauben, dass nur mehr Wachstum solche Übel lösen könne. Wirtschaftswachstum wurde zur unverzichtbaren Ideologie des Staates. Die Priorität des Wirtschaftswachstums wurde zur wichtigsten Idee des 20. Jahrhunderts“.
Im Folgenden möchte ich fünf Gründe bzw. Punkte benennen, warum nicht nur die „Washington Post“, sondern viele andere Medien und Institutionen noch einmal über diese „wichtigste Idee“ nachdenken sollten. Fünf Gründe sind viel, aber sie sind kurz – und wichtig.
Erster Grund: Der dominierende Wachstumsmaßstab, das Bruttoinlandsprodukt, ist höchst fehlerhaft: Das BIP ist ein kumulatives Maß aller Aktivitäten in der formellen Wirtschaft – für gute und schlechte Dinge, Kosten und Nutzen, bloße Marktaktivität, Geldwechsel, Geschäftigkeit in der Wirtschaft. Und je größer es wird, desto größer sind der private Gewinn und die staatlichen Einnahmen. Selbst der Schöpfer der zugrundeliegenden Formalismen, Prof. Simon Kuznets, warnte in den 1930er Jahren vor den Konsequenzen unklarer Anwendung des Konzepts: „Unterschiede zwischen Quantität und Qualität des Wachstums müssen im Auge behalten werden. Ziele für „mehr“ Wachstum sollten mehr Wachstum von „was“ und „für was“ festlegen.“
Auch wenn das BIP immer noch auf hohem Podest steht, muss seine anhaltende Dominanz in Frage gestellt werden. Was wir brauchen, ist ein „Dashboard“, ein Schaltbrett alternativer Indikatoren. Das sollte Folgendes umfassen: (1) Messungen des echten wirtschaftlichen Fortschritts, die das BIP korrigieren und anpassen, damit wir nachhaltiges wirtschaftliches und ökologisches Wohlergehen messen können, (2) Indikatoren für objektives soziales Wohlergehen, wie den Status von Gesundheit, Bildung und Sicherheit, (3 ) Indizes für die Umweltbedingungen und Ökologische Trends, (4) Indikatoren für demokratische Leistungen und (5) Maße für subjektives Wohlbefinden, wie Lebenszufriedenheit, Glück und Vertrauen.
Die gute Nachricht: Indikatoren all dieser Typen wurden bereits entwickelt! Der erste Indikator entspricht zum Beispiel dem Bedürfnis der Gesellschaft nach einer monetarisierten Messgröße, welche die Defizite des BIP korrigiert. Eine solche Kennzahl könnte vierteljährlich mit dem unkorrigierten BIP verglichen werden. Die Ergebnisse von Länderstudien, die eine solche Messgröße bereits verwenden zeigen, dass viele Veränderungen im öffentlichen Wohlergehen letztendlich abflachen, während das BIP weiterhin wächst, ohne dass dadurch auch mehr Wohlstand entsteht.
Zweiter Punkt: Das BIP-Wachstum bringt nicht die behaupteten sozialen und wirtschaftlichen Vorteile. Seit 1980 hat sich zum Beispiel das reale BIP der USA verdreifacht und das BIP pro Kopf verdoppelt. Ein phänomenales Wachstum? Man könnte meinen, die USA wären ein Paradies. Doch in dieser Zeit erhöhten sich die realen Stundenlöhne der meisten US-Arbeiter kaum, während die Löhne an der Spitze weiter in die Höhe schossen und so die Ungleichheit im Lande vergrößerten.
In diesem Zeitraum fielen die USA vom Land Nr. 1 im „Human Development Index“ der Vereinten Nationen auf Platz 21 zurück. Es ist also unwahrscheinlich, dass das anhaltende Streben nach mehr BIP-Wachstum zu besseren Ergebnissen führt.
Der dritte Punkt ist ein großer: Der übergeordnete Zwang zum Wirtschaftswachstum verleiht den Unternehmen und den Reichen, die über das Kapital und die Technologie verfügen, enorme und übergeordnete Macht. Und ähnlich steht der Wachstumszwang im Widerspruch zu einer langen Liste öffentlicher Maßnahmen, die das nationale Wohlergehen verbessern würden – aber angeblich „das Wachstum verlangsamen“ und „der Wirtschaft schaden“.
Zu diesen Maßnahmen gehören unter anderem kürzere Arbeitswochen und mehr Urlaubstage; ein besserer Arbeitsschutz, einschließlich eines existenzsichernden Mindestlohns; Schutz des Gewerkschaftsrechts der Arbeitnehmer und großzügiger Elternurlaub; Anreize für innovative Unternehmen, für neue Eigentümerstrukturen und den Vorrang der Stakeholder anstelle des Vorrangs der Aktionäre; effektiver Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutz; mehr wirtschaftliche Gleichheit mit einer progressiven Besteuerung der Reichen und einer Einkommensunterstützung für die Armen; erhöhte Ausgaben für öffentliche Dienstleistungen; wirkungsvollere Initiativen zur drastischen Eindämmung der Treibhausgasemissionen auf nationaler und globaler Ebene. Zusammengenommen könnten diese Maßnahmen das BIP-Wachstum verlangsamen, aber die Lebensqualität der Menschen würde sich verbessern – und darauf sollte es ja wohl ankommen.
Vierter Punkt: Der Wachstumszwang verstärkt den Konsumismus. Der amerikanische Konsumismus ist definitiv pathologisch, aber unerlässlich, um das derzeitige System am Laufen zu halten. Die „New York Times“ veröffentlichte vor kurzem einen Artikel, der die Sache auf den Punkt brachte: „Warum Amerikaner weiterhin Geld ausgeben müssen – Haushalte nehmen einen endlosen Strom von Bedürfnissen wahr, und außerdem hängt die Wirtschaft davon ab.“
In meinem Buch „America the Possible“ diskutiere ich eine Reihe politischer Änderungen, welche die Konsumsucht eindämmen könnten. Hier möchte ich etwas anderes betonen: Die Sucht nach dem Besitz materieller Dinge hält davon ab, die wahren Quellen des Glücks und der Zufriedenheit zu suchen: wie enge Bindungen in der Familie und mit Freunden, Entwicklung von Fähigkeiten und Talenten, Hilfe für andere und Freiwilligenarbeit, Kontakt mit der Natur – und sogar Politik. Viele Menschen spüren aber, dass es eine große Fehlleitung der Lebensenergie gibt. Der Psychologe Martin Seligman sagte einmal: „Der Materialismus ist giftig für das Glück.“
Der fünfte Punkt – besonders wichtig und höchst aktuell: Die Wirtschaftstätigkeit und ihr Wachstum sind die Hauptursachen für die massive, anhaltende Umweltzerstörung. Die Wirtschaft verbraucht natürliche Ressourcen, sowohl erneuerbare wie nicht erneuerbare Ressourcen, besetzt das Land und setzt laufend Schadstoffe frei. Mit dem Wachstum der Wirtschaft nehmen auch die biologische Verarmung und die Schadstoffemissionen in großer Vielfalt zu, darunter besonders Treibhausgase.
Der Ökonom Paul Ekins stellte einmal fest, dass „die Opferung der Umwelt zugunsten des Wirtschaftswachstums seit Beginn des Industrialismus zweifellos ein Merkmal der wirtschaftlichen Entwicklung war.“ In letzter Zeit wurde ernsthaft daran gearbeitet herauszufinden, ob Gesellschaften Zweierlei zugleich haben könnten: Weiteres Wachstum der Wirtschaft und Stop der Umweltzerstörung.
Diese herausfordernde Möglichkeit wird vielfach als „grünes Wachstum“ bezeichnet. Es ist ein animierender Vorschlag – und auf beiden Seiten gibt es qualifizierte Analysten. Einer der bekanntesten Analytiker ist der Ökonom Peter A.Victor. Sein neues Buch ist zum Thema „Escape from Overshoot“. Bei der Analyse der Vor- und Nachteile des Vorschlags kommt er zum Schluss, dass „die Aussichten für langfristiges grünes Wachstum entmutigend sind – und umso schlechter werden, je schneller die Wirtschaft wächst.“ Er sieht kurzfristig zwar potenzielle Vorteile grüner Wachstumspolitik, kommt jedoch zu einem ganz anderen Schluss: „Es können nicht immer mehr Waren und Dienstleistungen aus immer weniger produziert werden. Grünes Wachstum bietet keine plausible, ja nicht einmal eine mögliche, langfristige Lösung“.
Wem kommt das BIP-Wachstum zugute? Eine wachsende Wirtschaft kann sich positiv auf das Geschäftsergebnis großer wie kleiner Unternehmen auswirken. Auch die Staatseinnahmen steigen, wenn die Wirtschaft wächst. Den Finanzämtern ist es völlig egal, ob die Aktivitäten gesund oder schädlich sind. Andererseits gibt es Länder, besonders Entwicklungsländer, in denen ein höheres BIP-Wachstum einen großen positiven Unterschied machen könnte. Und man darf auch den nationalen Sicherheitskomplex nicht vergessen; wir sollten diese Angelegenheiten nicht einfach wegwünschen. Wir müssen aber Wege finden, die realen Probleme sinnvoll anzugehen, unter anderem, indem man allseits nach innovativen Ideen und Innovationen sucht.
Die meisten Gesellschaften tendieren aber weiterhin dazu, Wachstum als „reines Gut“ zu betrachten. Der nicht endende Drang, die gesamte Wirtschaft wachsen zu lassen, hat zu einer rücksichtslosen internationalen Suche nach Energien und anderen Ressourcen geführt, hat uns durch den zunehmenden industriellen Metabolismus an den Rand des ökologischen Ruins gebracht, hat uns von dringend benötigter Politik und sozialer Entwicklung abgehalten. Das erfüllt nicht die tiefen menschlichen Bedürfnisse. Es ist Zeit für „etwas Besseres“.
Für mich ist das etwas Bessere der Übergang vom Wachstumsfetischismus zum „Post-Wachstum“, bei dem die Gesellschaft politische Interventionen darauf konzentriert, jene Aktivitäten zu steigern, die den Menschen, dem Ort und dem Planeten zugutekommen – jene Aktivitäten aber zu reduzieren und einzustellen, die das Gegenteil bewirken, weil man sich keine ernsten Gedanken um das belastende BIP-Wachstum gemacht hat.
Source
James Gustave Speth war lange Jahre Dekan der Yale School of the Environment. In den 1990er Jahren leitete er das United Nations Development Programme (UNDP). Er war Gründer und Präsident des World Resources Institute (WRI) und Vorsitzender von Präsident Carter’s Council on Environmental Quality. Er erhielt viele Preise, u.a. den „Blue Planet Prize“. Er ist Autor von zahlreichen Büchern, darunter „America the Possible“ und „The Bridge at the Edge of the World“.
Dr. Dr. h.c. Udo E. Simonis 2024 ist Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB)). Er hat den Text von Dr. Speth ins Deutsche übersetzt.