Gegen Putins Krieg sind auch die Mächtigen machtlos
Moral gegen Machtkalkül: UNChef Guterres und spirituelle Ikonen wie Papst und Dalai Lama können das Blutvergießen nicht beenden. Von BNN-Redakteur Alexei Makartsev
Er ist einer der ältesten Flüchtlinge der Welt. Ein spiritueller Anführer, dessen Worte für Millionen Menschen Gewicht haben. Seit seiner Flucht aus China 1959 lebt der Dalai Lama im indischen Exil in der schwindenden Hoffnung, noch zu Lebzeiten die Befreiung seiner Heimat von der chinesischen Herrschaft erleben zu können. Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, der Millionen Menschen aus ihrem teils verwüsteten Land treibt, will, geht dem 86-jährigen Friedensnobelpreisträger sehr nahe.
Er sei „tief erschüttert“, schrieb der Exil-Tibeter unserer Redaktion. Nicht nur, weil die russischen Kriegsverbrechen in Butscha und anderen Städten gegen das Grundprinzip der Gewaltlosigkeit verstießen.
Der Dalai Lama sieht durch Putins Feldzug im Nachbarland den ganzen Planeten in Gefahr: „Unsere Welt ist so stark voneinander abhängig geworden, dass ein gewaltsamer Konflikt zwischen zwei Ländern unweigerlich Auswirkungen auf den Rest der Welt hat.“ Sie leide an einem Mangel an Verbundenheit, weil sich heute zu wenige Menschen als „Brüder und Schwester“ sehen würden, bedauert der erklärte Pazifist.
„Echter Frieden entsteht durch Verständnis und Respekt für das Wohlergehen des Anderen.“ Dalai Lama, geistliches und weltliches Oberhaupt der Tibeter
Ohne die Präsidenten Putin und Selenskyj beim Namen zu nennen, richtet der Dalai Lama durch die BNN einen Appell an die beiden Kriegsparteien: „Probleme und Streitfragen lassen sich am besten im Dialog lösen. Echter Frieden entsteht durch gegenseitiges Verständnis und Respekt für das Wohlergehen des Anderen.“
Er bete für den Frieden und sei voller Hoffnung, schließt der tibetische Mönch. Doch dass seine Botschaft ein Ende des Blutvergießens näher bringen wird, ist sehr unwahrscheinlich.
Friedensbotschaften sind verhallt
Denn die Welt hat in den vergangenen Wochen beim Thema Ukraine die große Ohnmacht der Mächtigen erlebt. Andere Friedenspreisträger, berühmte Intellektuelle, aktive und frühere Präsidenten, einflussreiche Künstler und prominente Sportler haben sich zu Putins Krieg positioniert und ihn teils sehr scharf verurteilt.
Ihre Botschaften sind jedoch wirkungslos verhallt. Nicht nur im Kreml, sondern auch in der Breite der russischen Bevölkerung scheint die pazifistische Moral zurzeit gegen das zynische nationalistische Machtkalkül nicht ankommen zu können.
Als letzter hat es UN-Generalsekretär António Guterres erleben dürfen. Der Portugiese setzte sich in Moskau Kraft seines Amtes für Waffenruhe und besseren Schutz von ukrainischen Zivilisten ein. Doch Putin ließ alle Bitten von sich abprallen und schickte Guterres bei dessen anschließendem Besuch in der ukrainischen Hauptstadt Kiew noch drei Raketen hinterher, die nahe des Stadtzentrums explodierten: Ein klarer Affront gegen die größte Organisation der Welt mit 193 Mitgliedsstaaten, den die Bundesregierung als „menschenverachtend“ verurteilt hat.
„Möge der Heilige Geist unsere Herzen verwandeln und uns zu wahren Friedensstiftern machen.“ Papst Franziskus
Zuvor hatte bereits der Papst als Friedensstifter bei Russlands Führung auf Granit gebissen, als er in der Osternacht die „Nächte des Krieges“ mit „Spuren des Todes“ verurteilte und zu „Gesten des Friedens in dieser von den Schrecken des Krieges geprägten Zeit“ aufrief.
Vor wenigen Tagen versah Franziskus seinen orthodoxen Ostergruß an den Patriarchen von Moskau, Kyrill, mit einer weiteren kraftvollen Botschaft. „Lieber Bruder“, schrieb der Papst, „möge der Heilige Geist unsere Herzen verwandeln und uns zu wahren Friedensstiftern machen, vor allem für die vom Krieg zerrissene Ukraine.“
Offenbar hat jedoch das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, das sich gut mit dem Kreml versteht, ganz andere Prioritäten: Kyrill rechtfertigt den Krieg als „metaphysischen Kampf“ im Namen „des Rechts, sich auf der Seite des Lichts zu positionieren, auf Seiten der Wahrheit Gottes“. Die Gegner Russlands sind in seinen Augen alle „Kräfte des Bösen“.
Russischer Patriarch kritisiert „Kräfte des Bösen“
Vergeblich fordert der Weltkirchenrat von Kyrill, sich zumindest für eine Waffenpause in der Ukraine einzusetzen. Der Dachverband von 352 Kirchen aus mehr als 120 Ländern hörte aus Moskau zuletzt ein kühles „Njet“ als Antwort. Das Drama im Nachbarland sei Teil einer „großangelegten geopolitischen Strategie“ zur Schwächung Russlands, begründete Kyrill seine ablehnende Haltung.
Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) will den Angriffskrieg bei dem größten Christentreffen der Welt ab 31. August in Karlsruhe auf die Agenda nehmen. Er werde „höchstwahrscheinlich im Ausschuss für öffentliche Angelegenheiten auf der Vollversammlung und im Europa-Plenum diskutiert“, teilte ÖRK-Sprecherin Marianne Ejdersten mit.
Es ist nicht das erste Mal, dass gerade die großen Kirchen bei gewaltsamen Konflikten und humanitären Tragödien versagen, wenn es darum geht, den skrupellosen Kriegstreibern die Leviten zu lesen und das Leid der Zivilbevölkerung zu mindern. Im langjährigen Bürgerkrieg in Syrien, in den auch Russland verwickelt war, mussten die ohnmächtigen Glaubensgemeinschaften mit ansehen, wie der Diktator Baschar al-Assad schwerste Menschenrechtsverletzungen beging und Hunderttausende Menschen töten ließ.
Auch die lautesten Proteste verhinderten nicht, dass die Zahl der Christen in Syrien zwischen 2011 und 2021 um zwei Drittel zurückging. Bei dem verheerenden Bürgerkrieg im früheren Jugoslawien und bei dem blutigen Nordirland-Konflikt erwiesen sich die Mahner in Priestergewändern ebenfalls als wirkungslos. Im Zweiten Weltkrieg standen die evangelische und die katholische Kirche sogar teilweise hinter Hitlers Angriffskrieg.
Quelle
BNN Zeitgeschehen 2022 | Mit freundlicher Genehmigung vom Autor Alexei Makartsev