Die Verschwörungstheorie von der „Sogwirkung“ der Rettungsschiffe
Mit ihrer „Willkommenskultur“ habe Kanzlerin Merkel im Jahr 2015 geradezu eine „Sogwirkung“ unter Flüchtlingen entfaltet und ihre Zahl in Deutschland schließlich auf über eine Million gesteigert – diese These verbreitet nicht nur die AFD, sie ist auch unter vielen konservativen Kreisen und unter Journalisten beliebt. In Wirklichkeit ist sie nichts als eine billige, ausländerfeindliche Verschwörungstheorie. Von Franz Alt
……………………………………………………………………………………………………………………..
- SPIEGEL ONLINE: 40 Jahre „Cap Anamur“ | „Nie mehr feige sein, nie mehr nur zuschauen“ – Aus ihrem Reihenhaus steuerten Rupert und Christel Neudeck eine globale humanitäre Feuerwehr. Seit 1979 retten die Helfer ertrinkende und verhungernde Flüchtlinge, bauen Schulen und Kliniken – „Rebellen der Nächstenliebe“ nennt sie Journalist Franz Alt.
……………………………………………………………………………………………………………………..
Dabei ist diese These gar nicht neu. Einen ähnlichen Vorwurf gab es schon bei der Rettung der Boatpeople durch das Schiff „Cap Anamur“ im Südchinesischen Meer vor 40 Jahren. Als Angela Merkel soeben wieder vorschlug, dass die EU-Staaten selber staatliche Rettungsschiffe organisieren sollten, war der Vorwurf der „Sogwirkung“ sofort wieder zu hören.
Niemand verlässt freiwillig seine Heimat
Dieser Vorwurf war damals so falsch wie heute. Kein Mensch flieht freiwillig. Kein Mensch verlässt freiwillig seine Heimat. Menschen fliehen vor Bürgerkriegen, vor Not, Elend, Hunger oder jetzt auch vor den Folgen des Klimawandels. Aber nicht, weil sie vielleicht von einem Rettungsboot gerettet werden.
1979 und 1980 flohen die Boatpeople aus Vietnam, weil sie sich den Verfolgungen und Unterdrückungen der kommunistischen Diktatur nicht länger aussetzen wollten. Als die Cap Anamur zur Rettung von Flüchtlingen startete, waren bereits eine Viertel Million Boatpeople ertrunken – so die damaligen UNO-Angaben. Cap Anamur und ein französisches Rettungsschiff konnten dann einige Zehntausend von ihnen retten.
Der Wissenschaftler Oliviero Angeli, Autor des Buches „Migration und Demokratie – ein Spannungsverhältnis“ und Migrationsforscher an der Technischen Universität Dresden hat die populäre These von der Sogwirkung“ von Rettungsschiffen untersucht und sie überzeugend widerlegt. Rettungsschiffe seien keine „Lockvögel für Flüchtlinge“. Die These von der „Sogwirkung“ sei ein „Märchen“ ebenso wie auch die von der AFD verbreitete Behauptung, Flüchtlinge wollten es sich bei uns nur bequem machen, sie seien „Sozialschmarotzer“.
Ähnliche Verschwörungstheorien verbreiteten zur Cap Anamur-Zeit der CSU-Politiker Edmund Stoiber oder auch der SPD-Ministerpräsident Holger Börner und heute tönt der italienische Innenminister Salvini ebenso, wenn er die deutsche Kapitänin Rackete attackiert. Seit 2014 haben wir Europäer 18.000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken lassen. Unser „Mare Nostrum“ ist ein Massengrab und eine Schande für Europa im 21. Jahrhundert.
40 Jahre Cap Anamur – 40 Jahre Menschlichkeit
In diesen Tagen vor 40 Jahren lief erstmals die Cap Anamur zur Rettung der Boatpeople aus. Alles begann so: Im Mai 1979 besuchte uns Rupert Neudeck in der Report-Redaktion im damaligen Südwestfunk in Baden-Baden. Der Kollege war ein gefürchteter Fernsehkritiker für mehrere Zeitungen und für die Funkkorrespondenz. Er fragte uns: „Habt Ihr die Fernsehbilder der absaufenden Boatpeople im Südchinesischen Meer gesehen? Da können wir nicht länger einfach tatenlos zusehen. Ich habe mit dem UN-Flüchtlingskommissar gesprochen. Doch der sagt mir, seine Organisation sei nur für Flüchtlinge auf dem Land zuständig. Wenn aber keiner zuständig ist, müssen wir zuständig werden. Ich habe mit Heinrich Böll geredet, er unterstützt meine Idee, ein Rettungsboot zu chartern. Macht ihr mit?“
Die Verdammten der Meere
Boatpeople waren und sind bis heute die Verdammten der Meere. Wir Journalisten blickten uns damals etwas hilflos an. Ich fragte Neudeck, wie er denn ein Rettungsboot finanzieren wolle. Seine Antwort ist mir unvergesslich: „Keine Ahnung. Aber ich weiß, dass ich helfen muss. Vielleicht verpfände ich unsere Häuschen“. Mit Cap Anamur und später mit den Grünhelmen gründeten die Neudecks in ihrem Wohnzimmer in der Kupferstraße 7 in Troisdorf eine globale humanitäre Feuerwehr. Dieses Wohnzimmer wurde die Schaltstelle der kleinen, aber einer der erfolgreichsten humanitären Hilfsaktionen aller Zeiten in Deutschland. Dieses schlichte Wohnzimmer mit einem großen Tisch war die strategisch beste Position in Deutschland. Mit dem Auto waren die Neudecks in 15 Minuten in Bonn bei den Politikern, die sie brauchten und bei Beamten des Auswärtigen Amtes, die Visa und Pässe für die Cap Anamur-Mitarbeiter ausstellen mussten.
Sein Häuschen musste er dann doch nicht verpfänden. Denn in der nächsten Live-Sendung von REPORT erzählte ein aufgeregter Neudeck in seiner ersten Fernseh-Live-Sendung in drei Minuten, die wir ihm zugestanden, seine Idee eines Rettungsschiffs. Drei Tage später hatte er auf seinem Konto der Stadtsparkasse Köln 22 22 22 2 über 1,3 Millionen Mark. Das heißt: Neudeck rettete im Auftrag der deutschen Bürgergesellschaft 11.300 Menschen in äußerster Not. Diese Vietnamesen sind inzwischen vorbildlich in unsere Gesellschaft integriert, sie sind zum Teil auch Geschäftsleute, die für ihre deutschen Mitbürger Arbeitsplätze geschaffen haben.
„Danke Deutschland“
2014 feierten sie am Hamburger Hafen den 35. Jahrestag ihrer Rettung. Sie hatten mich dazu eingeladen. Ich sah viele Plakate mit nur zwei Worten: „Danke Deutschland“ . Wolfgang Schäuble hatte Tränen in den Augen als 3.000 Boatpeople sangen „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“. So innig hat nie eine deutsche Fußballmannschaft unsere Hymne gesungen. Der Schluss-Sprecher dieser Kundgebung sagte unter großem Beifall: „Auch wir Vietnamesen in Deutschland sind Fußballweltmeister“.
Diese Bürgergesellschaft ist ausländerfreundlicher und menschenfreundlicher als es die AFD-Lautsprecher in diesen Tagen vermuten lassen.
……………………………………………………………………………………………………………………..
- SPIEGEL ONLINE: 40 Jahre „Cap Anamur“ | „Nie mehr feige sein, nie mehr nur zuschauen“ – Aus ihrem Reihenhaus steuerten Rupert und Christel Neudeck eine globale humanitäre Feuerwehr. Seit 1979 retten die Helfer ertrinkende und verhungernde Flüchtlinge, bauen Schulen und Kliniken – „Rebellen der Nächstenliebe“ nennt sie Journalist Franz Alt.
……………………………………………………………………………………………………………………..