Von Gut und Böse
Lebenslang hat sich C. G. Jung mit der Frage beschäftigt, was das Gute und was das Böse sei. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass beides nicht zu definieren ist, aber der Mensch sich diesen Realitäten immer wieder stellen muss. In diesem Klassiker – nach Jahrzehnten endlich wieder lieferbar – hat Franz Alt die wichtigsten Zitate C. G. Jungs zum Thema Gut und Böse versammelt. Dabei geht es sowohl um die Ursachen des Bösen, um die Dunkelheit Gottes, Moral und Unmoral, die Auswirkungen beider Kräfte auf die Gesellschaft wie auch darum, dass der Mensch sich mit seinen eigenen Schattenseiten auseinandersetzen muss.
Eine Schatzkiste voller Einsichten und Weisheiten, die Mut machen, sich mit diesem hochaktuellen Thema auseinanderzusetzen und eigene Standpunkte zu finden.
Vorwort: Selbsterkenntnis über C. G. Jung
Mich überrascht, mit wie viel Unwissenheit Carl Gustav Jung häufig vorgeworfen wird, er verharmlose das Böse. Die Textauswahl »Von Gut und Böse« soll mithelfen, diesen vor allem von Theologen geäußerten Vorwurf zu widerlegen. Das würde zugleich – und vor allem – ein Stück praktischer Lebenshilfe für Leserinnen und Leser bedeuten. Meine eigene Erfahrung ist: In Lebenskrisen lindern das traditionelle Christentum und die überlieferte Theologie manchmal meine Ängste, aber wirklich heilsam ist erst die Tiefenpsychologie. Würde sie ein zentrales Problem unseres Lebens wie die Existenz des Bösen ausklammern, so wären Hilfe, wirkliche Heilung und Wandlung durch die Jung‘sche Therapie tatsächlich unmöglich.
1957 schrieb C. G. Jung an einen englischen Geistlichen: »Natürlich bin ich nicht imstande – niemand ist es – zu definieren, was das Böse an sich sei« (Briefe III, S. 103). Wenn es um Gut und Böse geht, ist Jung bescheidener als die meisten Theologen, die seit Jahrhunderten schamlos laut vorgeben zu wissen, was gut und böse, Himmel und Hölle, Sünde und Moral sei. Diese Moralisiererei ist einer der wesentlichen Gründeder aktuellen Krise der christlichen Kirchen. Denn der wunderbare junge Mann aus Nazaret brachte eine Frohbotschaft und keine Drohbotschaft.
Im erwähnten Brief schreibt Jung auch: »So verstehe ich unter ›Sünde‹ einen Verstoß gegen unseren Moralkodex, unter dem ›Bösen‹ den schwarzen, ewig wirkenden Feind in der menschlichen Natur und unter ›Sündenfall‹ den Ungehorsam des Urmenschen gegenüber Gottes Gebot und sein Abweichen vom Gesetz. Diese Begriffe bezeichnen einfache und erkennbare psychische Situationen, die sich in jedem Menschenleben ständig wiederholen. ›Sündenfall‹ z.B. entspricht der Erfahrung, dass jeder Mensch seit allem Anfang vom vorgeschriebenen Weg abweicht. Immer wieder führen mich böse Kräfte in Versuchung, und ich bin sogar von ihnen besessen (wie Paulus); Sünde mischt sich nolens volens in mein tägliches Brot. Das kommt übrigens allerorten und in allen erdenklichen Formen zum Ausdruck.«
Das Böse – als Polarität zum Guten, nicht nur als Mangel an Gutem – ist für C. G. Jung eine Realität.Erzeigt uns einen realistischen dritten Weg aus unseren heutigen spalterischen gesellschaftlichen Bipolaritäten, der auch ein Ausweg aus unserer privaten und politischen Sackgasse sein kann: Jede und jeder kann durch mehr Selbsterkenntnis über das Gute und das Böse in sich ihren oder seinen Teil zur Rettung der Welt beitragen. „Die Bewusstwerdung ist tatsächlich eine Versöhnung von Gegensätzen und bildet damit ein höheres Drittes“, schreibt Jung in einem anderen Brief (Briefe II, S.491).
In jedem Guten steckt auch der Keim des Bösen und in jedem Bösen auch der Keim des Guten. Jede Krise hat auch ihre Chance.Das ist C. G. Jungs unendlich wichtige Botschaft am Ende des Atomzeitalters. Gorbatschows Glasnost und Perestroika haben gezeigt, dass er damit recht hatte.
Zu keiner Zeit war die Möglichkeit der bewussten Teilhabe des einzelnen Menschen am großen Ganzen der Menschheit so groß wie heute. Das hat zum Beispiel Greta Thunberg sehr eindrücklich bewiesen. Voraussetzung für den Übergang vom Atomzeitalter in ein neues Zeitalter der Ökologie wäredas realistische Erkennen des Bösen und des Guten in uns. Dabei ist Carl Gustav Jung ein wichtiger Helfer – ein Helfer zu mehr Selbsterkenntnis und Bewusstwerdung. Der Beginn einer solchen Erkenntnis können Sätze sein wie dieser: „Jetzt stellen wir uns alle mal vor, der andere könnte vielleicht auch Recht haben.“ Gesagt hat ihn der CDU-Politiker Volker Bouffier, als er seine erfolgreiche schwarz-grüne Koalition in Hessen gründete. Zuvor waren sich die Grünen und die Schwarzen in Hessen überhaupt nicht „grün“.
In Zeiten von Kriegen in vielen Gebieten der Welt, wie wir sieheute erleben, ist charakteristisch, dass wir mit einer schamlosen Naivität über die „Gegner“ – viele sagen auch „Feinde“ – urteilen. „Wir“ und die „anderen“ stehen sich gegenüber. Alles, was anders ist, ist uns auch heute noch oft fremd, wir stempeln es als falsch und damit böse ab, schrieb C. G. Jung in einem Aufsatz über die Träume. Dabei fällt es leicht, die eigenen Fehler auszublenden und in ein Schwarzweiß-Denken zu verfallen:Man wirft dem Gegner einfach die eigenen, nicht eingestandenen Fehler vor, während „wir“ natürlich die „Guten“ sind.Kriegszeiten sind Hochzeiten des Schwarzweiß-Denkens. Und weil wir unsere Angst noch immer dadurch bearbeiten wollen, dass wir dem „anderen“ immer mehr Angst machen, setzen wir auf Wettrüsten bis zur Gefahr eines Atomkriegs und verdrängen den „Feindin uns“ nur allzu gerne. Unsere nicht eingestandenen eigenen Fehler sind ein Teil des aktuellen Problems. Das haben Realpolitiker wie Helmut Kohl, Helmut Schmidt, Michail Gorbatschow und Henry Kissinger so gesehen und kritisiert.Die Fehler, die wir glasklar beim „anderen“ erkennen, weisen oft auf unsere eigenen Defizite hin. Die Hinweise darauf finden wir in fast jeder Nachrichtensendung.Das ist die Psychologie jedes Krieges. Und diese Unbewusstheit ist die Ur-Sünde, das Böse schlechthin.
Diese Erkenntnis ist der Kern des vorliegenden C. G. Jung-Buches. Und zugleich ist es ein zentrales und aktuelles Problem unserer Zeit, in der gesellschaftliche Spaltungen und Bipolaritäten den Diskurs bestimmen. Die Exklusivität unserer eigenen Überzeugung, absolut und fundamentalistisch, ist die vielleicht größte und gefährlichste Krankheit unserer Tage. Das macht das vorliegendeBuch sehr deutlich und zugleich verheutigt es die die Gedanken C. G. Jungs. Bipolares Denken ist spalterisch und gefährlich für eine wirklich pluralistische, tolerante und demokratische Gesellschaft. Jung zeigt jedoch auchHeilungschancen auf.
Unbestreitbar ist, dass es in der Welt unendlich viel Böses, aber auch unendlich viel Gutes gibt. Wichtig ist, dass wir lernfähig bleiben und nicht vergessen, unsere Welt in gleicher Weisevon der anderen Seite her zu betrachten: nicht nur von außen, sondern auch von innen. Denn für C. G. Jung ist die Seele „die einzige Großmacht“, die er anerkennt und der er zutraut, diese Perspektive einzunehmen und ihn und uns aus der Bipolarität in die Einheit zu führen und zu heilen.
- C.G. JUNG / Franz Alt „Von Gut und Böse“ – Weisheiten und Einsichten / Edition C.G. JUNG / Patmos Verlag 2024 | Leseprobe
- C.G. JUNG | Franz Alt „Die heilende Kraft in uns“ – Weisheiten und Einsichten | Patmos Verlag 2023 | Leseprobe
C.G. Jung
C.G. Jung, 1875–1961, war einer der größten Psychoanalytiker des 20. Jahrhunderts. Ursprünglich ein Schüler und Mitarbeiter Sigmund Freuds, wandte sich Jung im Laufe seiner eigenen Forschungen und therapeutischen Tätigkeit mehr und mehr von den Theorien seines Lehrers ab. 1912 kam es zum Bruch mit Freud, der die Psychoanalyse begründet hatte. Jung entwickelte seine eigene »Analytische Psychologie«. Sein Ziel war es, den ganzen Menschen in den Blick zu nehmen, und so beschäftigte er sich vor allem auch mit den unbewussten, nicht-rationalen und transpersonalen Aspekten der Psyche.