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Talkshows: Einseitig und verzerrend

Untersuchung und Bewertung von über 200 politischen Talkshows der öffentlich-rechtlichen Medien. Ein Bericht von Marco Bülow

Warum man einzelne Medien auch kritisieren darf

Die etablierten Medien sind stark unter Druck. Journalistinnen und Journalisten haben gerade in Deutschland eine wichtige demokratische und politische Verantwortung. Dies gilt umso mehr für das Fernsehen, weil die Printmedien an Boden verlieren und immer mehr Menschen sich sehr einseitig über wenig recherchierte Meldungen in den sozialen Medien informieren.

Gerade um einer überzogenen Pauschalverurteilung entgegentreten zu können und der größer geworden Verantwortung gerecht zu werden, müsste eine kritische Diskussion von den Medienmachern selbst erwünscht sein. Dies sollte natürlich auch für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gelten.

Viele Bürgerinnen und Bürger haben den Eindruck, dass die sogenannten politischen „Talkshows“, die fast täglich über den Bildschirm flimmern, ihnen tatsächlich einen Einblick in die aktuelle Politik, der wichtigsten Themen und der Meinung der Politiker vermitteln. Ich nehme allerdings immer mehr war, dass diese Talkshows eher ein Zerrbild der Realität darstellen und mit dazu beitragen, dass bestimmte Themen überproportional behandelt und andere kaum beachtet werden. Weil ich mich aber gerade in der Zeit der gefühlten Fakten und gezielten Fehlinterpretationen nicht auf mein Gefühl verlassen wollte, habe ich mir das genauer angeschaut.

Politische Bewertung

Leider kam ich zu dem Ergebnis, dass meine Befürchtungen sogar noch übertroffen worden sind. Teilweise musste ich meine Einschätzungen aber auch differenzieren und revidieren. Eine Tatsache ist und bleibt für mich dabei völlig inakzeptabel: Das krasse Missverhältnis bei den Themen. So wichtig einige Themen sicher waren und sind, niemand kann rechtfertigen, dass in 1,5 Jahren jede vierte Sendung speziell das Thema Flüchtlinge behandelt und sich fast jede zweite Sendung generell mit dem Themenkomplex Flüchtlinge, Islam, Terror/IS, Populismus/Extremismus befasst hat. In nur sechs von 204 Sendungen wurde über Armut und Ungleichheit diskutiert. Wichtigen Themen wie NSU, Rassismus und rechte Gewalt wurde zum Beispiel jeweils nur eine Sendung gewidmet. Klimawandel kam sogar gar nicht vor. Das ist nicht nur bedenklich, sondern prägt die öffentliche Debatte sehr einseitig. Die Themenauswahl spiegelt absolut nicht die tatsächlichen Probleme in unserer Gesellschaft wider und stellt damit ein Zerrbild der Wirklichkeit dar. Hieraus ergeben sich meines Erachtens folgende Fragen als Grundlage für eine notwenige Diskussion:

  • Warum gibt es dieses unglaubliche Missverhältnis der Themen?
  • Wie sind die Entscheidungswege bei der Themenauswahl?
  • Haben die Attacken und populistischen Angriffe gerade auf die Medien mit dazu geführt, dass die Themenauswahl so einseitig wurde? Bekommt, wer besonders laut schreit am Ende am meisten Aufmerksamkeit?
  • Warum fallen Themen weg, die keine starke Lobby haben, die aber so viele Menschen betreffen und die ganz sicher ebenso kontrovers sind? Wann wurde mal über die Situation von Langzeitarbeitslosen gesprochen? Wieso diskutieren wir so wenig, warum Menschen sich immer mehr abgehängt fühlen? Warum wird nicht darüber geredet, wie die Demokratie gestärkt werden kann und Menschen besser mitgenommen werden können?

Wir sollten nicht in erster Linie über die Themen debattieren, die uns Menschen vorgeben, die sich besonders laut und rücksichtslos äußern. Natürlich darf man unbequeme Themen nicht ausklammern und sollte sich auch keiner Diskussion verweigern, nur weil ein Populist mit am Tisch sitzt – auch das gehört zur Meinungsfreiheit und muss eine Demokratie ertragen. Dennoch kann man in Anbetracht der Fakten ganz sicher nicht mehr von Ausgewogenheit reden.

Nicht nur die Wahlen in den USA haben gezeigt, wie wichtig die Themen Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit für die Menschen sind. Wir brauchen daher in unserer Gesellschaft, in der Politik und auch in den Medien eine stärkere Debatte über die sozialen Perspektiven der Menschen – was sie bewegt und was sie von der Politik erwarten. Auch Themen wie Demokratie, Transparenz und Lobbyismus dürfen nicht nur Teil der politischen Satire oder von Recherchemagazinen sein.

Ich werde mich weiter dafür engagieren, vor allem soziale Themen mehr in den Fokus der politischen Diskussion zu rücken. Es geht mir aber auch um eine kritische, differenzierte Debatte sowohl über den Wert und die Notwendigkeit von Pressefreiheit, den wichtigen Beitrag etablierter Medien, aber auch über zu einseitige Themensetzung. Ich werde sowohl die Abgeordneten als auch die Verantwortlichen der untersuchten Sender und Sendungen über meine Ergebnisse informieren und meine politischen Bewertungen deutlich machen. Ich bin gespannt wie offen und konstruktiv diese Kritik behandelt wird und werde selbstverständlich darüber berichten.

statista: „Meisteingeladene Gäste in den Talkshows von ARD und ZDF nach der Anzahl der Einladungen im Jahr 2016“

marco-buelow.demarco-buelow.de | * Um Flüchtlinge ging es in jeder 4. Sendung. Betrachtet man den gesamten Themenkomplex Flüchtlinge, Islam, Terror/IS, Populismus/Extremismus, dann wurde fast jede zweite Talkshow (94 von 214) mit einem dieser Themen bestritten. *Armut und Ungleichheit wurden insgesamt in 6 Sendungen behandelt. * Den Themen NSU, Rassismus und rechte Gewalt wurden jeweils nur eine Sendung gewidmet. * Trotz der Klimakonferenz von Paris kam das Thema Klimaschutz nicht einmal vor.marco-buelow.de | Frauen sind in Talkshows deutlich unterrepräsentiert. 72,7 Prozent der Gäste waren Männer, nur 27,3 Prozent Frauen.marco-buelow.de | In 204 Sendungen waren 387 Politiker zu Gast. Auftritte nach Sendungen (in Prozent): CDU/CSU: 78,4% | SPD: 41,7% | Grüne: 26,5% | Linke: 22,01% | AfD: 11,3% |FDP: 9,8%. Die AfD stellt nicht so häufig einen Mitdiskutanten, wie viele dies wahrscheinlich angenommen hätten. Allerdings werden sie überwiegend zu Themen eingeladen, bei denen sie deutliche Kritik üben können und in der Offensive sind. Die Vertreter aller anderen Parteien sollen dagegen zu allen Themen Stellung beziehen. Die SPD ist im medialen Vergleich deutlich unterrepräsentiert, Politiker der Union waren fast doppelt so häufig zu Gast.
Quelle

Marco Bülow 2017

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