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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben

Unter Wert in der Zeitgeschichte behandelt: Das Leben von Michail Gorbatschow. Von Rupert Neudeck

„Glasnost brachte die ökologischen Probleme an die Oberfläche. Man kann nicht sagen, dass das bis dahin ein vollkommen verbotenes Thema war. Auch unter Stalin wurde über die Reduzierung der Waldflächen und über die Bedeutung der in diesem Zusammenhang geschaffenen Waldschutzzonen geschrieben“.

Unter Chruschtschow wäre es zu Protesten gegen Versumpfung und Bodenversalzung gekommen. Unter Breschnew wurden von Zeit zu Zeit Hinweise auf die drängendsten ökologischen Probleme veröffentlicht als da waren – der Baikalsee, der Aralsee, der Ladogasee, das Kaspische Meer und das Asowsche Meer.

Wenn man das und vieles andere zur ökologischen Situation der Welt und auch zu den Abrüstungsbemühungen in den Memoiren von Gorbatschows liest, wird einem fast wehmütig zu mute.

Was alles die Welt und besonders Russland an diesem großartigen Politiker gehabt hat, ist bisher national und international nicht annähernd bekannt gemacht und gewürdigt worden. Dieses dicke Erinnerungs-Buch gibt uns einen guten Blick hinter die Kulissen der Welt am Vorabend der Perestrojka und der Epoche, in der Gorbatschow die Welt versuchte vom Abgrund der Testversuche an A-Waffen, der Rüstungsexplosionen und der Atombomben wegzubringen.

Die Öffentlichkeit erfuhr erst unter ihm als Generalsekretär, dass in den meisten Städten, genauer in allen Industriezonen der Sowjetunion die Schadstoffe in der Luft die zulässige Norm stark überstiegen. Eine Welle der Empörung ging durch das russische Land, als bekannt wurde, dass dadurch das Erbgut der Bewohner gefährdet sei.

Eine große Probe auf die von Gorbatschow mühselig eingeleitete Phase annähernd demokratischer Öffentlichkeit war das Reaktorunglück in Tschernobyl. Auch da erscheint mir das Memoiren Buch sehr eindrucksvoll, was alles damals in der Gesellschaft und der Welt in Unordnung und Aufruhr geriet. Das Buch gibt glaubwürdig Auskunft: Tschernobyl – schreibt Gorbatschow – legte gravierende Probleme in dem wichtigen Wirtschaftszweig des mittleren Maschinenbaus offen, der große, darunter auch militärische Aufträge – z.B. für Atomwaffen – ausführte. Er beschreibt die „unheimlich leichtfertige Einstellung der verantwortlichen Personen“.

Die Haltung des fast Vatikan-Ähnlichen Apparates bestand darin zu sagen: „Keine Panik, das hat es bei Industriereaktoren schon gegeben, aber alles hat sich eingerenkt. Um die Strahlung nicht an sich herankommen zu lassen, muss man nur ordentlich einen heben, etwas dazu essen und eine Runde schlafen“.

Mir kam das Bild der in sich auch stark verkrusteten katholischen Kirche bei der Lektüre dauernd vor Augen. Wenn man in dem Buch den Begriff Kader durch Klerus oder Prälaten ersetzt, hat man die Situation der Kirche unter dem bemühten Papst Franziskus. Immer wieder berichtet er von Hindernissen, Hemmnissen, Warnsignalen. Immer wieder lag es an der Haltung der Parteikader, die die praktische Arbeit vor Ort behinderten. Sie waren – wie er immer wieder schreibt – ein Bremsklotz.

Und ähnlich wie bei einer Konklave Situation sagt er sich: Ohne das Nomenklaturprinzip in der Kaderpolitik zu überwinden und eine Demokratisierung von Partei und Gesellschaft herbeizuführen, war die Situation hinsichtlich der Kader nicht zu ändern. Immer wieder kam er bei dem verknöcherten Apparat an ein Ende, während die Bevölkerung überall für die Perestrojka war und ihm das auch zu verstehen gab.

Immer wieder war es ihm um die Abrüstung und den Abbau der Rüstungsproduktion zu tun. Es ging um die Erhaltung des Friedens. „Wir wollen eine Einstellung, nicht die Fortführung des Wettrüstens und schlagen daher vor, die Atomarsenale einzufrieren und die weitere Aufstellung von Raketen zu stoppen. Wir wollen eine effektive und umfassende Reduktion der Waffenarsenale, nicht eine Entwicklung immer neuer Waffensysteme“.

Wäre es in der Welt und in Russland mit Gorbatschow weitergegangen und nicht mit dem Säufer Boris Jelzin, wäre uns auf der Welt einiges erspart geblieben. In diesem Buch beschreibt er immer wieder die nicht nur außenpolitischen, sondern auch die innenpolitischen Gründe. Die außenpolitischen waren nicht minder wichtig, insbesondere die atomare Bedrohung mit ihren unvorstellbaren Folgen für unser Land und die ganze Welt. Er zitierte Einstein, der als Erster von der Notwendigkeit eines neuen Denkens im Zeitalter der Atomwaffen gesprochen hat. Die Menschheit habe aufgehört, unsterblich zu sein. „Wir müssen den Erhalt des Lebens auf dieser Erde in den Vordergrund stellen“.

Das Buch ist so spannend zu lesen, weil hier jemand beschreibt, wie er sich selbst aus der Zwangsjacke der Nomenklatur und der verknöcherten Ideologie heraus befreit. Gorbatschow wirkt wie das personifizierte Beispiel der Kant-Definition von Aufklärung: Aufklärung ist „der Ausgang d es Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Der Beleg dafür.

Gorbatschow spricht gerade nach dem August 1991 Putsch und dem Scheitern seiner eigenen Regierung sensationeller weise von eigenen Fehlern. Das ist bei einem monolithischen Block, den die Diktatur der Partei darstellt, verboten. So schreibt er gegen Schluss: Im Kampf für die Perestrojka haben er und seine Mitstreiter eine Reihe von Fehlern gemacht. „Vieles hätte man früher, schneller und härter anpacken können und müssen“. Noch 1990/91 hätte man den Zusammenbruch des Konsummarktes verhindern können.

Es ist auch ein Buch, in dem ein Mächtiger beschreibt, wie sehr ihm seine eigene kluge Frau geholfen hat und wie stark er mit ihr verbunden war, wie heftig er unter dem vorzeitigen Tod der eigenen Frau und der damaligen First Lady Raissa gelitten hat. Der erste Teil beschreibt Gorbatschows „Universitäten“.

Der zweite Teil dekuvriert freimütig den Apparat der KPdSU, der zu einer greisenhaften und beweglosen Maske erstarrt war. Beispiellos, wie sich ein kranker Mann wie Leonid Breschnew immer noch (18 Jahre Amtszeit!) im Krankenbett an der Macht hielt und alles den Bedürfnissen eines kranken Mannes angepasst wurde. Der dritte Teil beschreibt den Aufstieg und Niedergang des nächst Nelson Mandela eindrucksvollsten und weitsichtigsten Politikers der Neuzeit. Was er immer schon vorausgesehen hat: Die Welt geht bei Fortgang der Rüstungs- und Atomwaffen-Konkurrenz vor die Hunde. Diese Aufgabe hat bisher niemand wahrgenommen. Und er wurde der erste, der die Aufgaben einer ökologischen Zukunftsordnung ohne jede ideologische Brille begriffen und beschrieben hat.

Das Buch liest sich gut. Der Autor hat Witz und Charme. Als Beispiel erzählt er, dass er bei der Anti-Alkohol-Kampagne zum „Mineralsekretär“ mutierte. Und er zitiert einen Witz gab, den er mit Behagen erzählt. In der Warteschlange nach Wodka, die wegen der Verknappung des scharfen Zeugs immer länger wird, sagt ein zorniger Mann: „Ich gehe jetzt in den Kreml und bringe ihn um“.

Er geht nach einer Stunde kommt er zurück, die Schlange ist noch immer sehr weit bis zur Theke. „Na hast du ihn umgebracht?“ „Nein, die Schlange ist da noch länger!“

Das sei ein Witz, der für ihn selbst nicht besonders lustig war, aber „die Russen lieben ihn“.

Quelle

Rupert Neudeck 2013Grünhelme 2013

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