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C.H. Beck Verlag

© C.H. Beck Verlag

Black Earth

Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann. Ein blutiges und erschütterndes Kompendium. Zu Timothy Snyders Black Earth. Von Rupert Neudeck

Man fragt sich, was ist das ganz Besondere an diesem neuen großen dicken Buch von Timothy Snyder? Es ist einmal diese fast schon pedantische Rückschau in die unmittelbare Vorgeschichte des Holocaust und der Massenverbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands, die er mit immer neuen Details uns aufbereitet und die man so präzise und im Zusammenhang selten gelesen hat.

Das Buch lässt den Leser noch mal frösteln, denn die Art, in der Snyder das beschreibt ist alles andere als routiniert oder ausgenüchtert, es ist manchmal anrührend. Immer wieder der Blick auf diesen Wahnsinnstäter Adolf Hitler, auf seine Kumpane, die da noch kurz vor der geplanten Vernichtung der Juden und der Polen mit der oberen Klasse in einem Wald in Polen sich bei Jagdübungen verlustierten. Manchmal scheint es mir: wie gut, dass wir jetzt diesen Synder haben in diesen verworrenen Zeiten, er wirkt mir wie ein wiederauferstandener Lew Kopelew, den wir ja hier so lange bei uns in Deutschland hatten als denjenigen, der uns das, was in seinem Russland, damals noch Sowjetunion, geschah immer wieder authentisch erklärte. Diese Rolle übernimmt Snyder, soweit ein Buch eine so lebendige Person wie den Lew mit seinem Küchenkabinett in der Neuenhöfer Allee in  Köln überhaupt ersetzen kann.

Lange hat das nationalsozialistische Deutschland noch taktische Spiele gemacht, z.B. Polen versucht zu einer Haltung gegen die Sowjetunion zu animieren. NS-Deutschland verlangte Zugeständnisse im Territorium von Polen, und Polen sollte im Gegenzug drei Dinge erhalten: einen Krieg gegen die Sowjetunion, die Lösung der Judenfrage und Gebiete der Ukraine. Aber Polen hat sich die Ehre erhalten, darauf nicht eingegangen zu sein.

„Polen sind vollständig zu vernichten“, so zitiert der Autor noch Wochen in diesem unheilschwangeren Europa, als für Hitler die Zerstörung der Tschechei schon längst feststeht, machen sich vier sowjetische Heeresgruppen an die polnische Grenze auf. Drei Tage nach der verheerenden Rede Hitlers beschleunigt das sowjetische Regime die ethnische Säuberung in der Grenzregion zu Polen. Man bildet Troikas aus dem lokalen Parteiführer, dem Staatsanwalt und dem Leiter des NKWD. Mündlich wird klargemacht: „Polen sind vollständig zu vernichten“. Besonders klar war dem damaligen polnischen Außenminister Beck nach einer Unterredung mit Hitler, dass man die Vorschläge des Diktators ablehnen müsse. Beck war klar, dass es Hitler nicht um Danzig oder den Korridor ging. Beck zeigte auch kein Interesse an einem gemeinsamen Krieg mit der Sowjetunion. Snyder: „Hitlers Problem war, dass seine polnischen Gesprächspartner seine Außenpolitik durchschauten, zwar nicht völlig, aber doch besser als die deutsche Öffentlichkeit“.

Snyder sagte: Stalins Politik war nicht im eigentlichen rassistisch, aber ethnostrategisch. Es wird indirekt so deutlich, was diesem Russland alles noch bevorsteht an Aufarbeitung seiner eigenen Vergangenheit. Die Verbrechen, die Massendeportationen sind so massiv und es hat eigentlich kaum etwas begonnen und das wenige was unter Jelzin möglich war, ist unter Putin wieder gefährdet bzw. eingestellt. Denn Putin hat Großmachtsträume, die werden durch das Zugeständnis von Katastrophen der Vergangenheit nur geschmälert oder kleiner gemacht. Memorial, die große schöne Hoffnung, die damals auch mit Unterstützung aus Deutschland und vom russischen Exil auftrat, ist zu einer kümmerlichen kleinen Pflanze geworden.

Das Sensationelle an dem Buch, dass einem leicht anarchistisch verseuchten Menschen und Leser der Staat in einer ganz elementaren Rolle aufscheint als Macht, die allein in der Lage ist Schutz zu geben. Was uns ja heute wieder in Afrika deutlich wird. In zwei Ländern, die ihren Staat verloren haben, sind die Menschen ohne jeden Schutz. Snyder zitiert an dieser Stelle seine Gewährsfrau, die politische Philosophin Hannah Arendt, die schon aus den USA schrieb, dass man nur “mit staatenlosen Menschen machen kann, was man will“. Und, noch präziser: „Der erste entscheidende Schritt auf dem Wege zur totalen Herrschaft ist die Tötung der juristischen Person.“ Am einfachsten war das 1938 im Fall Österreichs und der Tschechoslowakei, in dem man ganze Rechtssysteme zerstörte. Grausig zu lesen, wie Katyn im April 1940 durchaus kein Betriebsunfall war, sondern ein von langer Hand vorbereitetes Verbrechen. „Im sowjetischen System war die Zahl der Henker sehr klein und es handelte sich stets um Offiziere. Sie befolgten klare schriftliche Befehle, die im Rahmen einer hierarchischen Kommandostruktur erteilt wurden. Das sowjetische System sei in seinen Mordkampagnen präziser und effizienter gewesen. Das deutsche System war effizienter darin, eine große Zahl an Mördern hervorzubringen“.

So beschreibt der Autor in einer unglaublich präzisen Anstrengung die Entwicklung dieser planetarischen Wahnsinnsidee Hitlers, durch den Sieg über Sowjetrussland den Planeten Judenfrei zu machen. Das gelingt mit dem Feldzug schlecht, also muss man sich mit der Vernichtung der Juden beeilen. Bis Ende 1941 seien eine Million Menschen einfach abgeknallt und in Massengräber verscharrt worden. Das war die erste Massenvernichtungsmodalität. Die zweite wurde  vorgenommen mit Kohlenmonoxid, Menschen wurden in Wagen eingesperrt und erstickten.

Jedenfalls wurde im Dezember 1941 deutlich, dass das mit einem Blitzsieg nicht klappen kann. Der Autor zitiert den Generalstabsoffizier Hellmuth Stieff, der später zum militärischen Widerstand gegen Hitler gehören sollte, der am 7. Dezember seine Frau schreibt: Er und seine Männer kämpften „um unser eigenes nacktes Leben, täglich und stündlich, gegen einen auf ALLEN Gebieten vielfach überlegenen Gegner“. Spezialisten wurden damals nach Belzec, Sobibor und Treblinka geschickt, „wo sie mit Verfahren experimentierten, bei denen Kohlenmonoxid in einem geschlossenen System erzeugt wurde“. Aber das reichte nicht. Auschwitz wurde dann zu einer Todesfabrik. Der Stoff, mit dem da getötet wurde, war Blausäure, die unter der Markenbezeichnung Zyklon B verkauft wurde. Mit Zyklon B sollten eine Million Juden umgebracht werden in Auschwitz. Nur angedeutet wird in dem Buch, wie schwach das Mitleid in diesen Jahren ausgeprägt war, obwohl es unter der Asche und Bettdecke noch schlummert. Nicht ohne Grund musste einer der übelsten Verbrecher, Hans Frank, seine Beamten bitten, „sich gegen alle Mitleidserwägungen zu wappnen. Wir müssen die Juden vernichten, wo immer wir sie treffen und wo es irgend möglich ist, um das Gesamtgefüge des Reiches aufrechtzuerhalten.

Snyder geht durch alle von der Wehrmacht eroberten Gebiete und beschreibt die Gräueltaten, die nicht nur von der SS, sondern gleichermaßen auch von der Wehrmacht betrieben wurden. Als man in Weißrussland in Mogiljow jüdische Säuglinge erschoss, dann um, wie ein deutscher Soldat in seinem Brief an seine Frau erklärte, etwas Schlimmeres zu verhüten. „Bei den ersten Wagen hat mir etwas die Hand gezittert, als ich geschossen habe, aber man sich gewöhnt sich das an. Beim 10. Wagen zielte ich schon ruhig und schoss sicher auf die vielen Frauen, Kinder, Säuglinge. Eingedenk dessen, dass ich auch zwei Säuglinge dabei habe, mit denen es diese Horden genauso machen würden. Der Tod, den wir ihnen gaben, war ein schöner kurzer Tod, gemessen an den höllischen Qualen von Abertausenden in den Kerkern der GPU. Säuglinge flogen in großen Bogen durch die Luft und wir knallten schon beim Fliegen ab, bevor sie in die Grube flogen!“

Das Buch hat einen ganz weiten Horizont und Raum, wie er immer wieder fast metaphysisch in dem Kapitel „Die wenigen Aufrechten“ die unglaublichen Verwicklungen bei den Menschen in Osteuropa beschreibt, die bei dem Hin und Her der Heereszüge zweifach und dreifach Kollaborateure waren, weil sie sich nicht anders zu helfen wussten. Die meisten Juden wurden abgewiesen und starben elendiglich. Aber: „Als die Welt draußen nur noch Bedrohungen und keine Versprechen mehr zu bieten hatte, retteten Menschen Juden oft deshalb, weil sie sich vorstellen konnten, dass auch ihr eigenes Leben ganz anders hätte verlaufen können. Die Gefahr für die eigene Person wurde aufgewogen durch eine Vision von Liebe, von Ehe, von Kindern, von etwas, das den Krieg überdauerte und eine friedlichere Zukunft versprach.“ Das hat  schon sprachlich eine Nähe zu einem Menschheitspostulat, dass man sich verwundert, diesen Ton in dem Buch zu lesen und zu erfahren. Ich hätte das Kapitel die wenigen Aufrechten so als Schluss belassen, denn es ist wirkliche eine bewegende Apotheose nach so viel menschlicher Gemeinheit und furchtbarem Grauen, dass man diese Schlußgeschichten von der geheimnisvollen nie perfekten aber doch durchgeführten Rettung gern nachklingen lassen würde. Snyder beschreibt Oswald Rufeisen aus dem Südwesten Polens. Seine Familie war in die polnische Gesellschaft integriert, sein Vater diente acht Jahre in der Polnischen Armee. Antisemitismus erlebte er nie. Trotzdem verschaffte Rufeisen die zionistische Idee ein „Gefühl der Zugehörigkeit“. Als die Wehrmacht 1939 Polen überfiel, zog er wie hunderttausende polnische Juden nach Osten, im Hinterkopf hatte er den Gedanken, nach Palästina zu kommen. Er versuchte einen Ostseehafen zu erreichen, schaffte es bis Lettland, aber wurde vom NKWD nach Litauen zurückgeschickt. Rufeisen wurde Schuster in Wilna, wo zu den rd 100.000 Juden noch viele Flüchtlinge kamen. Rufeisen wohnte dann bei einer weißrussischen Familie. Er konnte so gut Deutsch dass er bei der weißrussischen und der deutschen Polizei als Dolmetscher agierte. Er gab sich als Pole mit deutschem Vater aus. Er war Angestellter der deutschen Polizei und trug eine deutsche Uniform. Dann wurde er von einem deutschen Polizisten durchschaut, der ihn aber fliehen ließ. Unterwegs – und das ist die Apotheose des Buches – sah Rufeisen eine Nonne und er schlüpfte durch die Tore des Klosters der Resurrektionistinnen. Dieser Orden war von einer Polin und ihrer Tochter gegründet worden und stand in der martyrologischen Tradition der Polen des nationalen Opfers. Rufeisen bat die Nonnen um Hilfe. Die Nonnen hatten Angst, denn sie wussten, dass er Jude war. Sie sagten, sie würden um Weisung bitten im Gebet. Thema der Predigt an diesem Tag war ‚zufällig‘ das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lukas 10, 36-37). In diesem Gleichnis wird der Jude beraubt und schwerverletzt und von den Seinen hilft ihm niemand, bis der Samariter kommt, Angehöriger eines feindlichen Stammes, der sich seiner erbarmt. Die Nonnen begriffen das als Anweisung einer Autorität, einem Fremden zu helfen. Denn sie wussten, dass das Gleichnis die Erklärung der Bibelstelle Leviticus 19, 18 war: „An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Ich bin der Herr“ und Jesus erklärte das mit dem Gebot der Nächstenliebe. Darauf wollten die Jünger wissen, wer ihr Volk und wer ihr Nächster sei. Darauf antwortete Jesus mit der Geschichte vom barmherzigen Samariter. Die Nonnen hatten verstanden und nahmen ihn auf und haben ihn ein Jahr lang versteckt. Es war eine unglaubliche Zeit. Als seine Präsenz im Kloster zu brisant wurde, akzeptierte er, das Kloster als Nonne verkleidet zu verlassen. Er begegnete einem Juden aus Mir, der ihn zu den sowjetischen Partisanen brachte. Er hatte das Neue Testament im Kloster gelesen. Jesus war für ihn der Jude, der in Palästina zu Hause war. In Krakau trat er dann in ein polnisches Kloster ein.

Im Schlusskapitel gibt es einen Bruch in dem Buch. Der Autor scheint von der Apokalypse des Klimawandels so stark überzeugt zu sein, dass er gemeint hat, wir könnten auf Grund der Umweltkatastrophen einen neuen Holocaust erleben. Dabei begibt er sich auf Felder, die er nicht so genau kennt. Z.B. Afrikas Staatenentwicklung. Gewiss ist es richtig, zu betonen, dass der Verlust der Staatlichkeit für das Volk der Somalis eine Katastrophe war, aber sie leben weiter in Stammesländern, Somaliland, Puntland usw.  Auch den Völkermord in Ruanda April bis Juni 1994 auf die Knappheit des Bodens landwirtschaftlicher Ausbeutung zurückzuführen, ist fatal. Das allein ist keine zureichende Erklärung des Völkermordes. Zumal wir wissen, dass es nicht mal eine wirkliche Völkerordnung gab, die Tutsis von Hutus trennen ließ, sondern das ein Konstrukt der belgischen Kolonialherren war. „Die Aufteilung der Bevölkerung in die Clans der Tutsi und der Hutus war eine typisch europäische Herrschaftsmethode. Man begünstigte eine Gruppe, um eine andere zu beherrschen. Das ergab nicht mehr oder weniger Sinn als die Vorstellung, Polen und Ukrainer gehören einer anderen Rasse an als Deutsche oder dass man Slawen aus den Hungerlagern holte, damit sie den Deutschen bei der Ermordung der Juden assistierten.“ Ganz falsch die Behauptung, die Afrikaner könnten heutzutage untereinander ähnliche rassistische Unterscheidungen vornehmen und Rassenfantasien entwickeln und sie tun es, „genauso wie die Europäer es in den 1880er und 1890er Jahren mit Afrikanern und die Europäer in den 1930er und 1940er Jahren mit Europäern machten“. Das ist eine falsche Analogie. Der Kontinent ist noch gar nicht erwacht – bemüht sich um so etwas wie Staatlichkeit, von dem das Buch von Snyder ja ganz voll ist. Es gibt kleine Versuche einiges an Westminister Formen anzuwenden, aber in der Regel schafft das keine wirkliche Struktur. Diese schöne Redewendung, die ich mal von einem Missionar im Kongo /Zaire hörte, drückt alles genau aus: „Pater, lieber Pater, wann ist endlich die Unabhängigkeit vorbei?“ Es stört auch, dass in einem Buch, das nun wissenschaftlich auf 330 Seiten penibel und luzide Schritt für Schritt in der Erklärung des Holocaust vorangegangen ist, auf knapp 20 Seiten eine globale Entwicklungsgeschichte des Planeten gegeben wird. Die Hungerkatastrophe hat es noch nicht gegeben wegen der Knappheit der Nahrungsmittel, sondern wegen der Geldmittel, sie sich zu kaufen. China und Saudi Arabien und Korea sind in der Lage, sich große Gebiete in Afrika für die Landwirtschaft zu kaufen, weil die Eliten und sog. Regierung nur an sich selbst und die Profite denken, und nicht an Ihre Völker. Deshalb gab es ja vor Jahren einen ersten Volksaufstand in Madagaskar, wo sich die süd-koreanische Firma Hyundai  einnisten wollte.

Eigentlich schade, denn das Buch verliert ganz am Schluss seine Richtung. Das müsste ein eigenes Buch, eine eigene Forschung sein, kann sich nicht allein auf die Analogien der wissenschaftlichen Forschungen verlassen, die Snyder in einer so bewegenden Weise ausbreitet.

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Quelle

Rupert Neudeck 2015 | Grünhelme 2015

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