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C.H. Beck Verlag | Mike Smith "Boko Haram - Der Vormarsch des Terror-Kalifats"

© C.H. Beck Verlag | Mike Smith "Boko Haram – Der Vormarsch des Terror-Kalifats"

Boko Haram: Der Vormarsch des Terror-Kalifats

Quo vadis, NIGERIA? Boko Haram weist auf die massiven Defizite in der Entwicklung von Nigeria hin. Von Rupert Neudeck

Das ist ein ernstes politisches Buch, das weitaus mehr zum Thema hat als die Terrorgruppe namens Boko Haram. Es ist auch der Bericht über das – wie die Statistiken sagen – reichste und erfolgreichste wirtschaftliche Land Afrikas mit der größten Bevölkerung nach der Südafrikanischen Union. Das Buch zeigt uns in bedrückender Klarheit und Härte, wie in den letzten fünf Jahrzehnten, also dem letzten halben Jahrhundert Afrika sich zurückentwickelt hat. Down development hat überall stattgefunden und uns distanzierten Europäern ist das nicht aufgefallen – wenn man das so brutal sagen kann -, weil diese Staaten alle unsere formalen Westminster-Vorgaben brav und gehorsam erfüllt haben. Sie haben alle irgendwie und irgendwo die Westminster oder die Quai d’Orsay Demokratie eingeführt. Ob das für die beiden Hauptaufgaben eines Staates tauglich war und ist, hat uns überhaupt nicht interessiert. Dass ein Staatschef Afrikas, der Präsident Ugandas jetzt zum zweiten Mal die eigene Verfassung ändert, um auf Lebenszeit wie ein König und eine Dynastie Präsident zu sein, macht nichts, die Hauptsache, wir haben dort eine demokratische Schwatzbude mit Abgeordneten, die sich wie in Kenya wahnsinnig gegenüber dem Wählervolk bereichern.

Der Autor schreibt seinen Bericht über eine der geheimnisvollsten Verbrecherbanden der Welt in gründlicher journalistischer Manier, an keiner Stelle wird dem Leser etwas aufgedrängt, was nicht mit journalistischen Recherchen belegt werden kann. Deshalb trifft dieses Buch den deutschen Leser auch so hart, weil der Autor durch die über 250 Seiten begründete Glaubwürdigkeit einen Satz am Schluss als Fazit stehen lässt, den man erst mal politisch verdauen muss: Die Debatte über Boko Haram, ihre internationalen Verbindungen und auch die Dschihad-Aspirationen der Gruppe würden alle weitergehen.

Diese Debatte ist jedoch „für jene, die tagtäglich mit der Realität der Gewalt konfrontiert sind, fast irrelevant. Das Problem ist kein Geringeres als der derzeitige Zustand Nigerias und die Art, wie das Land beraubt wird – seines Reichtums und, wichtiger noch, seiner Würde“. Das Fazit sitzt, man darf ein solches Buch denen empfehlen, die bei solchen Gipfelkonferenzen in Brüssel über die Millionen junger Afrikaner hilflos herumreden. Hier erfahren sie etwas über ein Staatsversagen, das seit der Unabhängigkeit nie aufgehört hat und das auch niemand, keine Partei, kein Führer, kein General wirklich versucht hat, anzupacken und zu lösen.

Das Buch ist deshalb so wertvoll, weil es am Beispiel von Nigeria und Boko Haram ein Urteil über den Status des Kontinents mit seinen 54 Staaten enthält, ein Fallbeispiel ist. Der Autor berichtet mit einer pedantischen Genauigkeit, wie er und die wenigen Kollegen der französischen Nachrichtenagentur AFP drei ganze Jahre diese Anschläge und Attentate bis hin zu Selbstmordattentaten begleitet haben, dabei auf so gut wie keine Unterstützung im Sinne der Aufklärung bei der staatlichen Justiz und den Polizeibehörden rechnen durften.

Das Buch bestícht durch eine vorzügliche Einführung in die Geschichte des Landes, das heißt der indigenen und der kolonialen Geschichte des Landes, das dann sich ähnlich dem Nachbarland Niger nach dem großen Strom in Afrika Nigeria nannte. Eine lange Geschichte, die in der Islamisierung, der Errichtung eines blühenden Kalifats  von Sokoto sich entäußerte bis hin zu der trügerischen Pax Britannica und die Unterwerfung von Kano und Sokoto, die beiden Nervzentren des islamisch geprägten Nigeria. Es gab damals einen der demütigeren britischen Kolonialherren in Nigeria, Lugard, der 1900 zum Hochkommissar des neugebildeten britischen Protektorats Nordnigeria ernannt wurde. Er bewies auch als Kolonialherr ein Verständnis des Landes und besonders des Kalifats von Sokoto sowie seiner Geschichte, dass er frei sagen konnte: „Wir sind hier die Erben einer Zivilisation, die zu den größten der Welt gehörte, als die Britischen Inseln sich in einem Zustand der Barbarei befanden – eine Zivilisation, die Spanien unter den Mauren zu einer führenden Rolle in puncto Kultur und Fortschritt verhalf“.

Dann im Zweiten Kapitel geht es um den Aufbau dieser Bande, die einen anderen Namen im Lande hat, aber im Westen eben „Boko Haram“ genannt wird: Boko stand für Wissen, haram für verboten. Westliches Wissen  verboten. Der Hauptgrund für alles, was sich in Nigeria abspielt ist die Zeitbombe Armut und die Unbildung im Norden. Das Land hat die größten exorbitanten Einnahmen durch das Öl, aber es gibt kaum etwas davon, was der Staat zur Bekämpfung der Armut einsetzt. 20 Prozent des Budgets wird für die Sicherheitsdienste ausgegeben, die aber kaum etwas bewirken. Der Terror hat nicht nur nicht aufgehört, sondern er ist in weite Teile des Landes vorgerückt. Dazu kommt, dass das Land genau in diesen Jahren, über die das Buch berichtet – 2010 bis 2015 – in einer schicksalsschweren Führungskrise war. Der amtierende muslimische Präsident Umaru Yar’Adua litt  an Perikarditis, einer Herzbeutelentzündung und einer Nierenkrankheit. Er wurde so krank, dass er zu weiteren Behandlung im November 2009 nach Saudi Arabien ausgeflogen wurde. Nigeria war die nächsten Monate faktisch ohne Führung und trieb vor sich hin. Es gab keine Nachrichten, das Volk wurde über die Kopflosigkeit des Landes nicht informiert. Daraufhin kam  zur allgemeinen Verwirrung der amtierende, aber unfähige Vizepräsident Goodluck Jonathan an die Macht, der auch im Karussell der Mächtigen nicht ein Moslem, sondern ein Christ war. Er hatte nichts getan, um den Menschen unter den Belastungen der Armut und der Anschläge irgendetwas an politischer Aufklärung und Reform zu geben. Das Ganze steigert sich dann in die totale auch internationale Ratlosigkeit, als in Chibok eine Schule überfallen wird und 287 Schulmädchen mitgenommen werden.

An manchen Stellen gibt es einen Seufzer des Autors, der sich dann so anhört: Als die drei Reporter der Agentur AFP sich in Maiduguri im Juli 2010 umsahen, durften sie den örtlichen Polizeikommissar am Ende doch sprechen, ohne dass dieser irgendetwas von Belang für die Journalisten sagte. „Er warnte uns davor, dass es illegal sei, die Worte ‚Boko Haram‘ auch nur auszusprechen, und lehnte es ab, Fragen zu diesem Thema zu beantworten. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn wir einfach verschwunden wären“. Sie wurden dann aber „eingeladen“ den Chef des Polizeikommissars zu sprechen. Das bedeute in Nigeria, dass man jemanden zum Verhört vorlädt. Doch es war dieser Polizeioberst ganz angetan, weil er erfuhr, dass die Journalisten eben in Nigeria auch leben. Sie durften deshalb auf dem Gelände der zerstörten Moschee auch Aufnahmen machen. Bei alledem wurden sie aber so offensichtlich von Agenten verfolgt, dass es beinahe zur Farce wurde. Die Agenten fingen an mit ihnen zu sprechen. Es gibt, sagt Mike Smith, in Nigeria Politiker, für die große Summen an Korruptionsgelder auf dem Spiel stehen bei einer Wahl und die zu allem bereit sind. Sie haben dafür gesorgt, dass das Land von einer Verbrecherbande geführt wird.“

Das Wort und dieser Satz ziehen sich wie ein tonus rectus durch dieses Buch. Es gibt keine Heilung allein durch Formale Demokratie. Die Regierung hat sich eine Hauptstadt gebaut, die vom Feinsten ist, wie der Autor schreibt. Aber auf dem Land leben die Menschen in der bittersten Armut.

Die Zeit von Goodluck Jonathan ist eine verlorene Zeit für Nigeria gewesen wie schon die Langen Zeiten des Verbrecher-Präsidenten Sani Abacha, gegen den zeit seines Lebens der berühmte nigerianische Nobelpreisträger Wole Soyinka gekämpft hat. Sani Abacha war neben oder nach dem Kongo Kleptokraten Ssese Seko Mobutu derjenige, der lastwagenweise die Bank of Nigeria leerräumte und Millionen Gelder in die eigene Tasche bzw. auf Genfer Banken wirtschaftete. Das System besteht aus Schuldzuweisungen. So machte der damalige Präsident Goodluck Jonathan die Eliten im Norden für die ausgebrochene Gewalt verantwortlich. Das war wieder so ein Trick, mit dem sich die Regierung entschuldigte dafür, dass es ihr die Jahre über an keiner Stelle gelungen war, diese Gewalttaten zu verhindern. Die Regierung vernebelte die eigentlichen Ursachen der Probleme im Land und machte immer wieder sämtliche Hoffnungen zunichte, dass die Regierung die Lage mal in den Griff bekommen würde.

Der Autor macht durch eigene Recherchen klar, dass die Polizeibehörden oft den Boko Haram Banden in Bezug auf die Übergriffe gegenüber der Zivilbevölkerung in nichts  nachstanden Als Smith auf dem Höhepunkt der Anschläge 2013 in dem Bundestaat Borno war, erlebte er Frauen, die sich vor dem Amtssitz des Gouverneurs versammelten in der Hoffnung, dass der Gouverneur sie anhören würde. Sie alle hatten einen aus der Familie verloren, meist den Ernährer der Familie. Im Oktober 2013 interviewte Smith einige der Frauen, ein Kollege übersetzte immer aus der Haussa Sprache. Eine Frau sagte, ihr Sohn sei von Boko Haram, die anderen sagten, das Militär hätte sie umgebracht. Die Frauen, die er sprach, bestritten alle, etwas mit Boko Haram zu tun zu haben. Trotzdem seien ihre Bitten um Hilfe von der Regierung und den Sicherheitskräften ignoriert worden. Ähnlich berichteten auch die beiden großen Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und Amnesty International.

Alles an dem Buch ist wichtig, aber besonders wichtig ist es als Politischer Weckruf. Wir müssen uns für Afrika solidarisch einsetzen. Nicht mehr in der Form der Diplomatie und der Außenpolitik, da läuft alles korrekt und gut, weil diese Staaten ja irgendwie alle demokratische, formale demokratische Regierungen haben und Präsidenten, die man seit 35 Jahren kennt. Es sind immer dieselben. Die wenigen Staaten, in denen es sein kann, dass da wenigstens der Beginn eines demokratischen Wandels und eines wirklichen nationalen Patriotismus herrscht, sind an den Fingern einer Hand abzuzählen. Die Regierungen haben einen unglaublichen Abstand zum Volk, sorgen für ihr Militär, weil es sie vor einem Putsch und Aufstand schützen muss. Wir müssen in dem Arsenal unserer diplomatischen und außenpolitischen Mittel auch die Möglichkeit vorsehen, etwas zugunsten einer jungen Bevölkerung zu tun. Ein Teil dieser jungen Bevölkerung sitzt an den Küsten West- und Nordafrikas und wartet auf eine Pirogge oder ein Schlauchboot, um zu uns nach Europa zu kommen. Ein Teil von denen versucht in den nächsten Jahren, angeregt durch die sozialen Netzwerke, auch selbst einen Umsturz vorzubereiten, aber ohne unsere Unterstützung werden diese Revolten nicht erfolgreich werden. Es gab jüngst eine in Burundi, die mit dem korrupten Oligarchen aufräumen wollte. Es gab in Uganda die Sorge vor der tunesischen Krankheit, die man dort so nannte. Afrika ist der Kontinent, der uns in Europa die meisten Sorgen machen wird.

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Quelle

Rupert Neudeck 2015 | Grünhelme 2015

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