(Brief-)Freundschaft über zwei Jahrzehnte
Heinrich und Annemarie Böll – Lew Kopelew und Raissa Orlowa. Von Rupert Neudeck
Die Jahre von 1962 bis 1982 sind ein wichtiges Stück Zeitgeschichte, das uns im Zuge des rasenden Aktualitätsterrors verloren zu gehen droht. Heinrich Böll und seine Frau Annemarie waren mit Lew Kopelew und seiner Frau Raissa Orlowa befreundet. Sie haben sich immer wieder in der langen Zeit Briefe geschrieben, da sie von der Mauer und den beiden feindlichen Weltsystemen getrennt voneinander lebten, wohnten, arbeiteten.
Die Briefe waren zwischen der West-Ost und der Welt –West, zwischen Moskau oder Komarovo und Köln oder Langebroich manchmal „pontifices“, Brückenbauer und Brücken. Jetzt hat der Steidl Verlag diese Briefe bis zum März 1982 veröffentlicht, dem Zeitpunkt, da Kopelew mit Raissa Orlowa nach Deutschland reisen durfte, aber beide nicht mehr zurückkehren konnten. Das ist ein Buch, das aus der oberflächlichen Bestseller-Welt der Deutschen wie ein Denkmal herausragt.
Karl Schlögel hat den zeitgeschichtlichen Kontext in einem sehr schönen Vorwort ausgeschritten. Zu Recht betont der Historiker: Briefwechsel wie diese seien in der Zeit elektronischer Mail-Internet-Korrespondenz zu einem „fast antiken Phänomen“ geworden. Durchaus verständlich resümiert er, es seien Dokumente der Aufmerksamkeit und der Konzentration, die als eine „Form der Fixierung“ dabei sind, „endgültig zu verschwinden“. Deshalb ist eine solche Edition für uns zeitgenössische Leser ein Geschenk. Diese Korrespondenz zeige auch, dass es neben der Denunziationsformel gegen die „Gutmenschen“ noch „so etwas gibt und gegeben hat: gute, anständige Menschen“.
Das Buch macht auch deutlich, wie weit Böll immer vom „Juste milieu der bundesrepublikanischen Linken“ entfernt war. Die Linke im Westen wollte nicht verstehen, „dass ihre eigene Glaubwürdigkeit auch an ihrer Solidarität mit den Verfolgten des sowjetischen Regimes gemessen wurde“. Nach diesem eindringlichen Schlüssel-Vorwort begibt man sich an die Lektüre dieser Briefe.
Es war die Zeit der Unterdrückung aller Dissidenten und abweichenden Äußerungen, Personen und Haltungen in der damaligen Sowjetunion. Manche dieser Briefe sind ein Schrei. Die beiden fühlen sich immer auch am Rande der Angst und der Verfolgung, während Böll und seine Frau Annemarie nie müde oder verärgert werden, wenn Kopelew ihnen schon wieder einen Notfall, einen armen Schlucker ins Nest eines Briefes legt.
Böll war ein Genie der Freundschaft, Kopelew war es nicht minder. Also war es schon eine Sternstunde, als sich die beiden im September 1962 zum ersten Mal anlässlich einer Schriftsteller-Delegationsreise in die Sowjetunion trafen. Damals schon war der Germanist Lew Kopelew eine eindrucksvolle Gestalt. Er übersetzte bei einem Gespräch Bölls mit Studenten an der Moskauer Universität und moderierte. Bis 1979 fanden sechs weitere Reisen Bölls statt, der ja als westlicher Schriftsteller in der Sowjetunion überaus gelitten war. Die Freundschaft mit Kopelew wurde erst durch den Tod Heinrich Bölls am Juli 1985 beendet.
Es sind Briefe von liebenden Ehepaaren, auch etwas, was heute Seltenheitswert hat. Raissa schreibt englisch dem „Hein“ und der Annemarie, sie war in Russland Übersetzerin englischer Literatur ins Russische, wie Annemarie Böll Übersetzerin englischer und US-amerikanischer Literatur ins Deutsche war. Beide vereinte natürlich die gleiche menschenfreundlich-humanitäre und christliche Haltung: Kopelew war ja der sowjetische Offizier der Roten Armee, der als noch überzeugter Kommunist gegen die schrecklichen Vergewaltigungsorgien an deutschen Frauen beim Einmarsch der Roten Armee nach Ostpreußen protestierte und dafür wegen Mitleid für den Feind verurteilt wurde.
Alle, die die beiden kannten, werden diesen Briefwechsel nur auf den Knien und mit Tränen in den Augen lesen können, denn es kommen so viele heilsame und bewegende Erinnerungen hoch.
Es zeigt, mit welch unermüdlicher Hingabe sich Böll neben seinen schriftstellerischen Aufgaben ans Helfen machte. Nichts war ihm zu viel. Es brauchte nur eines kleinen Hinweises von Kopelew, schon wandte er sich an Brandt, Scheel, auch Botschafter Falin, dem er eine gewisse Sensibilität nicht absprechen wollte. Immer wieder belehren sich und lernen die Gesprächspartner voneinander. Kopelew muss Böll immer wieder auf den brutalen Gulagstaat hinlenken, der in der Lage war, Schriftsteller und Intellektuelle hinter Kerkermauern oder –was noch schlimmer war – in Irrenanstalten verkümmern zu lassen.
Immer bewiesen sich die beiden in Moskau in ihrer Liebe zu ihrer Heimat: „Aber übersiedeln selbst nach Deutschland, das mir von allen fremden Ländern doch das vertrauteste und herzlich nächste ist, würde ich nur im Fall eines unzweideutigen Dilemmas“. So wurde Kopelew mit seinen Briefen ein wichtiger Zeitzeuge, der Böll immer wieder das gab, was Jean-Paul Sartre nicht hatte, wenn er sehr konformistisch in die Sowjetunion der Kommunistischen Diktatur des Proletariats reiste: ein Korrektiv zu der staatlichen Propaganda. Am 10. Juni 1973 schreibt er: „Viele der liberal gesinnten Intellektuellen lassen sich jetzt ablenken. Es heißt einfach, jegliche Opposition ist bei uns unmöglich, wird staatlich manipuliert oder entartet“.
Man glaubt nicht mehr, dass es Ziele und Ideale gibt, wegen derer man seine Freiheit opfern kann, sein bisschen irdisches Dasein. Man wird betrogen und gekauft mit der Aussicht auf eine neue Wohnung, auf eine Datscha, auf eine Touristenreise nach Paris, Rom, oder schlimmstenfalls Budapest. „Wir werden allmählich zu einer Konsumgesellschaft“.
Es sind Bruchstücke großer literarischer Konfession unter diesen Briefen, die ja die Brücke waren zwischen den Königskindern, die durch die Mauer getrennt waren und durch die Systeme, die sich aber den Blick für die Schönheit der Welt und die Hochherzigkeit von Menschen nicht nehmen ließen. So beschreibt Lew Kopelew in einem wunderschönen Brief die Reise nach Wladiwostok in sieben Tagen und Nächten im Zug, „In einem Abteil für zwei, abwechselnd vom Lesen zu Schreiben – wir hatten eine kleine russische Schreibmaschine mit –und draußen ein unendlicher Film, die Berge und Wälder und Steppen, vollkommen losgelöst von all der Hetze, kein Telephongeschrill, keine Post, weder erwartete noch unerwartete Besuche“.
So beschreibt Kopelew seinem Freund Böll die in die Unendlichkeit der Seeufer (Baikalsee) und Berge und Felder ausgegossene Unendlichkeit der russisch-sibirischen Landschaft. Und um die Schönheit eines solchen Briefes noch zu steigern, sagt er dann tatsächlich: “Ihr empfindet das alte Europa, Ihr freien Westmenschen, die ihr v on Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent so leicht hin und herreist als eine alte vertraute Wohnung mit vielen erschiedenen Räumen, es ist bestimmt eine schöne Empfindung“. Aber, dann kommt die nochmalige Schönheits-Überraschung: Das, was Kopelew da auszudrücken versuche, entstehe unwohl nur in einer langen beharrlichen Fortbewegung im großen Raum. „Es wäre bestimmt noch eindrucksvoller, wenn man langsamer mit einer Kutsche bzw. mit einem Wagen reisen könnte“.
Ähnlich interessant auch für uns Zeitgenossen die Briefe von Böll zu erleben, der sich schon 1999 ökologisch von der Autozivilisation distanziert. „Annemarie und ich“ – schreibt er im August 1972 – „haben einfach keine Lust, in diesem von Autowahnsinn dicht bepackten Westeuropa herumzukurven (an manchen Wochenenden gibt es bis zu 100 Verkehrstote allein auf den Autobahnen, es gibt Autoschlangen bis zu 50 Km), wir fahren nur hin und wieder ins benachbarte Belgien, delektieren uns an altmodischen Cafes“.
Böll belästigt seine Moskauer Freunde nicht wirklich mit der „Springerscheiße“, mit dem Gerichtsprozess gegen den Springer-Kommentator Matthias Walden, mit seinen Krankheiten nur, wenn er lustigerweise erzählen kann, dass in seine Diabetes Zuckerspiegel Behandlung und in seine Broteinheiten eingeschlossen täglich eine Flasche Wein kredenzt wird – „das ist natürlich ein großer Trost, nach dem ich jahrelang schon auf das bisschen Scheißbier reduziert war“.
Es sind Menschen, die sich dann auch noch ein wenig erziehen wollen. Rauchen spielt als Sorge bei Lew, der ja auch ein großer Genussmensch war, eine große Rolle, beiläufig bittet er Böll immer wieder, weniger zu rauchen.
Das Buch ist sehr gediegen und auch als Druck schön gestaltet. Die Briefe haben Ihre Größe, auch wenn sie nur in Teilen in den fotografischen Faksimiles wiedergegeben werden in einem mächtigen Foto-Teil des dicken Buches. Die besondere Eigenart beider Menschen oder aller vier kommt sehr deutlich zum Ausdruck. Böll belastete selten seine Freunde mit eigenen Problemen. Das was er in der Zeit des Bader Meinhof Terrors durchmachen und leiden musste, war so horrend, aber es findet sich davon nur ganz selten und ganz wenig etwas in den Briefen. Die beiden in Moskau versuchten zu trösten. Er sei als der deutsche Schriftsteller bekannt, „der die eigenen ureigenen Widersprüche so tief empfinde, dass er eben durch ihre internationale Gegenwärtigkeit erkennbar wird, zum Vorkämpfer der Ethik geworden“. Böll wieder kümmert sich um kleinste Details der Hilfestellung, so wenn er einem Schriftsteller eine Brille besorgt.
Immer wieder wird der Boden der Angst, der Gefahr, in den Abgrund zu stürzen deutlich, die es im Kalten Krieg ja gegeben hat. Der „Kalte Krieg war ein Komplex aus tödlicher Drohung und Friedensgarantie, ein Ineinander von Angst und Leben können“ (Karl Schlögel), aber ein Funke hätte ausgereicht, nicht nur Europa in den Abgrund zu stürzen.
Böll bekam am 22. 10. 1972 den Literaturnobelpreis zugesprochen. Und wieder konnte er sich den Freunden so intim anvertrauen. Er sei müde, das ganze Kasperletheater der Preisverleihung in Stockholm war ihm nicht recht. „Alles verrückt, alles Irrsinn und alles mit dieser mörderischen publicity, die nur der freie Westen kennt!“
Das Schönste, was aus diesen Briefen hervorgeht, ist ein großer Mensch, ein deutscher Schriftsteller, der durch Eigenschaften herausragt, die sehr selten sind: Er macht sich klein, seine Bescheidenheit ist nicht zu überbieten, er ist immer zur Hilfe bereit. Kurz vor einem Besuch der beiden bietet er ihnen die Wohnung in der Eifel, in Bornheim, wo auch immer an. Er musste zu dem eigenen Sohn nach Ecuador, „also dieses Hauptquartier steht euch zur Verfügung, und auch wenn wir hier sind, es ist Platz genug. Ein Schlafzimmer mit Extrabad ist sowieso immer frei! Also was werdet ihr tun!“
Man kommt aus diesem Briefwechsel heraus mit dem beglückenden Gefühl, wie schön und hilfreich eine solche Freundschaft sein muss und wie erbaulich es ist, eine solche Freundschaft noch mal in diesen Briefen nach zu lesen.
Quelle
Rupert Neudeck 2011Grünhelme 2011